Читать книгу Eine wie wir - Dana Mele - Страница 6
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ОглавлениеBevor ich mich auf die Suche nach Tai mache, gehe ich zu Bries Zimmer, um ihr das Gatsby-Kostüm zurückzugeben. Ich lausche kurz auf Anzeichen, ob sie beschäftigt ist, und höre ein gedämpftes Kichern. Justine ist bei ihr. Na toll. Ich streiche den feinen Seidenstoff glatt und lasse das Kleid auf dem polierten Holzfußboden neben ihrer Tür liegen. Dann gehe ich zur Treppe. Ich hasse es, die berüchtigte Ausborgerin zu sein (und gelegentliche Diebin), die auf Freundinnen, Bekannte und sogar beliebige Schülerinnen angewiesen ist, die mir während der Stunden ohne Schuluniform Klamotten zur Verfügung stellen. Aber es geht nicht anders.
Das Gatsby-Kostüm war eins der außergewöhnlichsten Kleider, die ich jemals getragen habe. Unter dem Stoff fühlte sich meine Haut wie elektrisiert an. Als Daisy Buchanan wollte ich aufregend wirken. Geschmeidig und sexy und ein bisschen gefährlich. Ich bin traurig, dass ich es Brie zurückgeben muss, aber man kann nicht einfach »vergessen«, so ein auffälliges Teil zurückzugeben.
Als ich nach draußen komme, blutet die Sonne über dem See, eine Blüte aus feurigem Orange und Rot zwischen den schwarzen knotigen Ästen, sie erweckt den Eindruck, der Frühherbst sei zurück. Ich gehe über den Innenhof zum Sportbereich, als die Kirchturmglocke eine Melodie läutet, die ich nicht kenne. Ich drehe mich um und starre auf die Silhouette der Schulgebäude. Ein atemberaubender Anblick bei Sonnenuntergang. Durch die wunderschöne gotische Architektur, die spindeldürren Türme und malerischen elisabethanischen Landhäuser wirkt der Campus wie eine Mischung aus Elite-Uni und Hogwarts.
Tai trainiert im schwindenden Licht allein auf einem der Tennisplätze. Die Schule hat auch Tennisplätze in der Halle, aber Tai trainiert lieber bei jedem Wetter draußen, was nicht an allen Schulen geht. Sie ist perfekt in Form, so wie sie den Ball elegant annimmt, schlägt oder schmettert. Meine Brustmuskeln entspannen sich, als ich mich dem Platz nähere, und ich spüre, wie sich auch meine Schultern reflexartig senken. Tai hat keinen Grund zu betrügen. Sie ist allen anderen aus ihrem Team so weit voraus, dass es immer fast peinlich ist, ihnen beim Training zuzusehen. Mich verlässt erneut der Mut. Warum ist sie so gut?
Ich werfe die Hände gegen den Maschendrahtzaun und heule wie ein Zombie und sie wirbelt herum und schleudert ihren Tennisschläger nach mir.
»Was soll das, Kay? Ich dachte schon, du bist dieses Mädchen aus dem See.« Sie öffnet ihren Pferdeschwanz, schüttelt ihr feuchtes Haar aus und kämmt es mit den Fingern durch. Sie trägt ein makellos weißes Tennisoutfit, das mit dem charakteristischen Bates-Rot abgesetzt ist.
Ihre Bemerkung wischt mir das Grinsen aus dem Gesicht. »Zu früh gefreut.«
»Schleich dich nicht noch mal so an.« Sie holt sich ihren Schläger und sucht ihn nach Kratzern ab.
»Lust auf Abendessen?«
Sie verzieht das Gesicht. »Alle heulen und tun ganz melodramatisch, als wäre ihre Mom gestorben.«
Typisch Tai. Ihre Mom starb, als Tai in der Neunten war, aber sie übergeht diese Tatsache, ohne eine Miene zu verziehen. Und sie wäre stinksauer, wenn ich auch nur das geringste Mitgefühl zeigen würde.
Ich knuffe sie am Arm. »Es ist jemand gestorben.«
»Aber doch niemand Wichtiges.«
»Ernsthaft, Tai?«
Ihre Lippen verziehen sich zu einer scharfen, asymmetrischen V-Form. Tais Haut ist so straff, dass ihre Haare immer streng nach hinten gekämmt aussehen, auch wenn sie offen um ihr Gesicht fallen. Sie hat eine spitze Nase, ein spitzes Kinn und so helle Wimpern und Augenbrauen, dass sie ohne Make-up so gut wie unsichtbar sind.
»Ich meine es ernst. Ihre Freunde sollten traurig sein. Aber ich erinnere mich an sie. Sie hatte keine Freundinnen an der Bates. Sie war aus der Stadt.«
»Also trauern wir nicht, weil sie nicht reich war?«
Tai verdreht die Augen. »Das habe ich nicht gesagt. Jessica Lane war eine Diebin.«
Ich lache laut auf. »In allen Artikeln, die ich gelesen habe, steht, dass sie Mutter Teresa war.«
»Tja, das war sie nicht. In unserem ersten Jahr wohnten wir auf demselben Flur und meine Mutter hatte mir diese wirklich wunderschöne Schachtel Designerseife aus der Provence geschickt.«
»Jessica hat deine Seife geklaut?«
Sie grinst verlegen, aber ich sehe, dass sie in Wirklichkeit ziemlich aufgewühlt ist. Sie erwähnt ihre Mutter nicht oft.
»Ich kann es nicht beweisen. Aber die Seife war weg und Jessica hatte ihren Duft an sich. Ich habe meine Mutter danach nicht wiedergesehen oder noch einmal mit ihr gesprochen, also war die Seife wichtig für mich.«
Als wir uns dem Innenhof und den Wohnheimen nähern, hake ich mich bei ihr unter. »Okay, sie war eine Diebin.«
Sie schweigt für einen Moment. »Also habe ich ihre Festplatte geklaut.«
»Wieso?«
»Ich habe sie zurückgegeben. Aber erst nachdem unsere Aufsätze fällig waren.« Sie seufzt. »Das ist so eine Sache, die einen wurmt, wenn jemand gestorben ist. Man erinnert sich an Kleinigkeiten, mit denen man der Person unrecht getan hat. Auch wenn sie es verdient hatte.«
Eine Böe bläst mir meinen Schal ins Gesicht und ich löse meinen Arm von ihr, um ihn wieder zu richten. Jetzt oder nie. Frag einfach. »Ich brauche deinen Rat.«
Irreführung. Manchmal ist Irreführung nötig.
»Sicher.«
Ich atme tief ein und sehe mich auf dem Campus um. Die Sonne ist gerade hinter dem Horizont verschwunden und zeichnet die gotische Architektur des Schulinnenhofs samtig blau. Die Laternen, die den gepflasterten Weg säumen, leuchten in einem sanften Gelb wie Gefäße mit Hunderten Glühwürmchen, die sachte über uns schwirren.
»Hast du schon mal darüber nachgedacht, eine leistungssteigernde Droge zu nehmen?«
Tais helle Augen mustern mich mit einer Spur Herablassung. »Wer hat das nicht? Wenn du nicht erwischt wirst, ist es nichts anderes, als Kaffee zu trinken, damit du länger lernen kannst.«
Mir schnürt sich die Kehle zu und ich versuche, meine Beklommenheit zu verbergen. Ihre Antwort verheißt nichts Gutes. »Ich finde, das ist schon ein bisschen was anderes.«
»Nehmen wir das Beispiel Meldonium, das Mittel, mit dem Marija Scharapowa erwischt wurde. Es ist absolut legal.«
»Nicht in den USA.« Ich stopfe meine Hände in die Taschen. Ich weiß nicht, wie ich mich locker verhalten soll. Hände sind das größte Problem, wenn es nichts für sie zu tun gibt. Das fiel mir auch am schwersten, als ich mit dem Fußball angefangen habe. Ich hatte immer den Reflex, den Ball zu fangen, mein Gesicht zu schützen oder um mich zu schlagen. Hände sind zu sehr Teil von uns. Sie verraten uns.
»In Russland wird es andauernd verschrieben. Es erhöht nur die Durchblutung, was die Belastungsfähigkeit verbessert.«
»Ja, aber es wurde aus einem bestimmten Grund verboten. Es verschafft dir einen Vorteil.«
Sie bleibt stehen und sieht mich ernst an. »Du brauchst gar keinen Rat.«
Ich seufze und blicke ihr in die Augen. »Was willst du damit sagen?«
»Nichts. Dieses Gespräch ist beendet.« Sie wendet sich zum Gehen.
»Du musst dich stellen.«
Sie wirbelt herum, ihre Augen sind mondgroß im Licht der Laternen. »Wie bitte?«
»Jemand weiß davon. Ich werde erpresst, damit ich dich anzeige, aber wenn du es tust, wäre das bestimmt besser für dich.«
Ihr Gesicht wird kreidebleich. »Besser für mich? Hier herrscht eine Null-Toleranz-Politik. Ich fliege von der Schule. Ich habe es dir erzählt, weil ich dir vertraut habe und weil ich weiß, dass du dich im Fußball auch verbessern musst. Ich dachte erst, du wolltest mich um Hilfe bitten.«
Mein Mund fühlt sich so trocken an wie das Laub, über das wir gehen. »Nein. Tut mir leid.«
»Geht es dabei um Georgetown? Ich kann sofort dort anrufen und absagen. Wir machen nicht mal denselben Sport, Kay. Das ist dir klar, oder?«
»Es geht nicht darum. Ich sage dir die Wahrheit.«
Sie schüttelt den Kopf. »Wow, Kay, ich weiß, dass du dich von Erfolg bedroht fühlst, aber das ist ein anderes Level.«
»Oder vielleicht hast du so viel Angst davor, zu verlieren, dass du nicht fair spielen kannst.« Ich bekomme mit, wie ein paar Leute ihre Fenster öffnen, und senke die Stimme. »Ich meine es todernst. Jemand weiß es. Wie hätte ich sonst davon erfahren sollen?«
»Dann nenn mir Namen.« Sie baut sich vor mir auf. »Sonst gehe ich davon aus, dass nur du dahintersteckst.«
Jetzt schüttele ich den Kopf. »Ich würde es dir sagen, wenn ich könnte, aber die haben auch etwas gegen mich in der Hand. Glaub mir, die ganze Sache ist echt übel. Bitte, Tai. Wenn du dich stellst, ist die Schule vielleicht nachsichtig.« Es gibt so viele Lügen. Selbsterhaltende Lügen und betäubende Lügen.
»Wenn das Konsequenzen für mich hat, ist das deine Schuld«, sagt sie, aber ihre Stimme klingt flehend.
Ich wende mich in Richtung Mensa zum Gehen, denn ich weiß, wenn sie jetzt noch etwas hinzufügt, breche ich in Tränen aus.
Und dann sagt sie es.
»Na schön. Aber hör zu, Kay, egal, was mit mir passiert, du wirst die Bates ohne Auszeichnung, ohne Stipendium und ohne Zukunftsaussichten verlassen. Und du wirst direkt in das Loch zurückfallen, aus dem du gekrochen bist, bevor du hierherkamst. Wenn ich rausgeworfen werde, gehe ich nächstes Jahr trotzdem an ein Elite-College. Aber hey, wenn du nicht so viel Zeit damit verbracht hättest, dir meine Klamotten auszuborgen und Brie an die Wäsche zu gehen, wärst du vielleicht sogar eine echte Gefahr.«
Ich drehe mich langsam zu ihr um, meine Gedanken rasen so schnell, dass ich keinen zu fassen bekomme. Sag etwas. Sag nichts. Zerstöre sie. Vergib ihr.
»Ich bin eine Gefahr«, sage ich leise. Sie hat ja keine Ahnung.
Sie kommt auf mich zu, bis unsere Gesichter nur noch wenige Zentimeter voneinander entfernt sind. »Jeder hat seine eigenen Prioritäten. Ich will erfolgreich sein und mir einen Namen machen. Deine sind nur Verkleiden spielen und keinen Sex haben.«
Fehdehandschuh hingeworfen.
*
Beim Abendessen ist es in der ganzen Mensa düster und niemand redet. Samstagabends ist es immer ziemlich ruhig, weil sich die meisten Schülerinnen aus der Oberstufe eine Genehmigung holen, außerhalb des Campus zu essen, doch heute Abend sind fast alle aus Solidarität dageblieben. Mrs March, unsere Hausmutter, hat, ihrem puterroten Gesicht und den blutunterlaufenen Augen nach zu urteilen, den ganzen Tag geweint. Sie sitzt still in einer Ecke und stochert in ihrem Essen herum. Ich habe das Gefühl, dass ich zu ihr gehen und etwas sagen sollte, aber mir fallen keine passenden Worte ein. »Ihr Verlust tut mir sehr leid«, ist wahrscheinlich nicht ganz angemessen, weil es ja nicht wirklich ihr Verlust ist. Direktion und Personal behaupten immer, dass die Bates eine Familie ist, aber das stimmt nicht. Wir sind eher ein Team, aber selbst das trifft nicht ganz zu. Wir sind zwei Teams. Lehrkräfte und Mitarbeiter sind ein Team und die Schülerinnen das andere. Innerhalb der Teams wird es noch komplizierter, ich kann dies mit der gemessenen Autorität einer zweijährigen Mannschaftskapitänin sagen. Und anders, als es die Trainer einem von klein auf einbläuen, während man als Anfänger hektisch über das Feld rennt, ist nicht jedes Teammitglied unverzichtbar.
Deshalb gibt es Einschnitte. Deshalb gibt es Bänke. Deshalb sitzt einem während jeder Saison ständig die Angst im Nacken, zu versagen, selbst den Sommer über, in der Nebensaison, in der Vorsaison, in der Nacht vor einem großen Spiel. Selbst als Mannschaftskapitänin ist man sich bewusst, dass eine falsche Entscheidung den Absturz bedeuten kann und man im Handumdrehen ersetzt wird. Fehler zählen. Jessica gehörte zwar zum Schülerinnenteam, aber sie wird mir nicht fehlen. Ich fühle mich deshalb schlecht. Oder vielmehr leer als schlecht.
Nach meinem epischen Krach mit Tai will ich lieber allein sitzen, um weiteren Dramen aus dem Weg zu gehen. Tai kann heute Abend gern das Sorgerecht für unsere Freunde haben. Mir fehlt die Kraft für eine weitere Auseinandersetzung. An den runden Eichentischen in der Mensa gibt es jeweils sechs Plätze und die meisten sind besetzt. Ich nehme mir fünf leere Tabletts und verteile sie auf dem Tisch, damit die Leute gleich mitkriegen, dass ich keine Lust auf Gesellschaft habe. Ein paar Mädchen aus meiner Mannschaft winken mir im Vorbeigehen mitfühlend zu und ich erhalte ein paar gedämpfte Beileidsbekundungen von irgendwelchen Neunt- und Zehntklässlerinnen, die wahrscheinlich annehmen, dass ich trauere oder so. Zum größten Teil werde ich jedoch in Ruhe gelassen. Aber nach ein paar Minuten legen sich zwei Arme um meine Taille und ich spüre Bries Wange an meiner.
»Wie geht’s dir, Süße?«
Die dunklen Gefühle verschwinden. Ich lächle zu ihr auf. »Schrecklich. Ist Justine gegangen?«
Sie setzt sich mir gegenüber. »Theaterprobe. An der Easterly geht das Leben weiter. Also, ich habe gehört, dass du Tai auf dem Hof attackiert hast?«
Ich seufze in meine Hand. »Klar. Ich habe Tai auf dem Hof attackiert. Mit einem Kerzenständer.«
Sie beugt sich vor, ihre Augen glühen förmlich. Das Einzige, was Brie mehr liebt als dunkle Schokolade mit Karamell und Meersalz, sind Gerüchte. »Kay …« Sie zieht meinen Namen verführerisch in die Länge und mein Blick bleibt an ihren Lippen hängen.
»Tai nimmt Dopingmittel«, platzt es aus mir heraus.
Sie trommelt mit den Fingern auf den Tisch und kaut an ihrer Unterlippe. »Bist du sicher?«
»Ganz sicher.«
»Ich will dich ja nicht als Lügnerin bezeichnen … ich … es klingt einfach nicht nach Tai.«
Sie glaubt mir nicht. Ich kann es ihr nicht verübeln. Ich habe es zuerst ja auch nicht geglaubt.
»Das bedeutet nicht, dass sie es nicht getan hat.«
»Lass uns Gericht spielen«, schlägt sie strahlend vor. Das ist eins von Bries Lieblingsspielen. Sie lässt es wie einen Spaß aussehen, will aber eigentlich nur zeigen, wie clever sie ist. Ihrer Meinung nach setzen sich Wahrheit und Gerechtigkeit selbstverständlich immer durch. Und sie gewinnt normalerweise.
»Na gut.«
»Du erhebst die Anklage und ich verteidige.«
»Okay …« Das wird schwierig. Ich kann Brie nicht von dem Racheblog erzählen und andere Sachbeweise habe ich nicht. »Tai Carter ist eine der talentiertesten Tennisspielerinnen, die die Bates Academy je gesehen hat. Sie besiegt jede Spielerin, die gegen sie antritt. Sie ist zweifellos ein Naturtalent. Aber sie hilft nach. Ich habe keinen objektiven Beweis, aber ich bin ziemlich sicher, dass wir uns einen beschaffen können. Tatsächlich hat Tai zugegeben, Meldonium zu nehmen, ein stark leistungsförderndes Mittel, das Marija Scharapowa eine Dopingsperre von zwei Jahren eingebracht hat. Und ein Geständnis ist der erdrückendste Beweis von allen.«
Brie fällt die Kinnlade herunter. »Die Verteidigung hat nichts hinzuzufügen. Aber woher wusstest du davon?«
»Anonyme E-Mail.«
»Echt gruselig. Vermutlich ist der Absender jemand aus dem Tennisteam. Ich frage mich nur, warum die E-Mail an dich geschickt wurde. Wieso wurde Tai nicht einfach angezeigt?«
»Ich soll sie anzeigen. Wenn ich es nicht tue, sorgt der Absender dafür.«
»Was wirst du tun?«
Ich zucke mit den Schultern. »Ich habe ihr gesagt, dass sie sich selbst stellen soll. Dann drückt die Schule vielleicht ein Auge zu. Nur darum ging es bei meiner angeblichen Attacke. Sie ist total ausgeflippt.«
Brie schaut zu »unserem« Tisch hinüber. Unsere Freundinnen haben die Köpfe zusammengesteckt und tuscheln. Tricia wirft mir einen vorwurfsvollen Blick zu.
»Das nimmt kein gutes Ende«, sagt Brie.
Ich würde Brie so gern von dem Racheblog erzählen. Denn das ist erst der Anfang. Aber ich darf nicht riskieren, sie in die Sache mit reinzuziehen. Ich hole daher aus.
»Wusstest du, dass Tai Jessica kannte?«
Brie hebt eine Schulter und stützt ihr Kinn mit der Hand ab. »Sie hat das Gegenteil behauptet.«
»Sie hat ihre Festplatte geklaut, sodass Jessica einen Aufsatz nicht rechtzeitig abgeben konnte.«
»Na und? Denkst du, Jessica steckt dahinter? Wann hast du diese E-Mail bekommen?«
»Ich habe sie erst heute geöffnet.«
»Und sie war anonym.« Brie schaudert. »Kein günstiger Zeitpunkt. Weiß Tai davon?«
»Wenn Jessica sie jemals bedroht hätte, glaubt Tai nicht, dass es über die beiden hinausgegangen wäre. Sie war total überrascht, als ich es erwähnte. Und sie schien auch überrascht zu sein, dass damit meiner Meinung nach irgendetwas nicht stimmt. Obwohl ich denke, dass ich sie darauf gebracht habe.«
»Das bleibt alles unter uns.« Brie reibt sich müde die Stirn. »Tai ist so gut wie weg«, sagt sie leise. »Ich glaube kaum, dass sich das vermeiden lässt. Aber du hast recht, es wäre wirklich besser, wenn sie sich stellt. Vielleicht sollte ich mit ihr reden.« Plötzlich dreht sie sich wieder zu mir. »Und du hast sonst niemandem davon erzählt?«
»Natürlich nicht.« Tai würde ausrasten, wenn sie herausfände, dass Nola Bescheid weiß. Aber sie wird mir sowieso nie verzeihen.
»Ich meine nur, weil Tricia und Cori dich nicht mehr in Ruhe lassen würden. Und erzähl es vor allem nicht Maddy.« Sie macht ein langes Gesicht.
»Warum kannst du Maddy nicht leiden?«
Brie zieht die Augenbrauen hoch. »Leg mir keine Worte in den Mund.« Sie schaut über meinen Kopf hinweg und winkt einem Tisch zu, an dem Mitglieder aus dem Debattierclub sitzen. Sie sind die Einzigen auf dem Campus, die Anzüge tragen, wenn wir die Schuluniformen weglassen dürfen. Ich kann das nicht leiden.
Ich zögere. »Geht es nur mir so oder scheinen alle in letzter Zeit Anti-Maddy zu sein?«
Sie richtet den Blick wieder auf mich. »Anti?«
»Es sieht nicht so aus, als würde sie ihren Spitznamen besonders toll finden.«
Brie nickt. »Vielleicht hören die anderen damit auf, wenn sich Tai jetzt um ganz andere Dinge Sorgen machen muss.«
»Aber ich meine … Notorious? B.I.G., oder was?«
Brie lacht los. »Eher wie R.B.G., denke ich. Maddy steht nicht wirklich auf Hip-Hop.«
»Was bedeutet Notorious R.B.G.?«
Ihr Lächeln verschwindet. »Ruth Bader Ginsburg«, sagt sie schnell. »Richterin am Obersten Bundesgericht.«
»Was hat das mit Maddy zu tun?«
»Frag Tai.« Brie seufzt und stützt ihr herzförmiges Gesicht wieder mit der Hand ab. »Ich hasse diese Spitznamen. Können wir das Thema Maddy einfach sein lassen?«
Manchmal verstehe ich Brie nicht. Sie hat keine Feinde und sie redet kaum irgendwelchen Mist über irgendwen. Aber wenn sie es tut, geht es immer um eine Person, mit der ich am wenigsten gerechnet hätte. Und dann sagt sie es auch noch durch die Blume, sodass ich nie genau weiß, warum sie eigentlich so angepisst ist. Es ist, als wollte sie mir einen Anstoß geben, selbst dahinterzukommen, damit sie sich nicht die Hände schmutzig machen muss. Aber heute Abend habe ich keine Lust, ihr Spielchen mitzumachen. Und glücklicherweise muss ich das auch nicht.
»Hat die Polizei schon Nachforschungen bei dir angestellt?«
Mir bleibt kurz das Herz stehen. »Ich habe nicht mit der Polizei gesprochen.«
»Gut. Denn dann würdest du ziemlich dumm dastehen. Vielleicht sogar seltsam schuldig. Bleib einfach cool.«
Erst jetzt dämmert mir, dass sie gar nicht von dem Racheblog spricht, sondern von den Ermittlern am Tatort.
»Du denkst also, dass sie Nachforschungen anstellen?«
Brie nickt. »Wir sind die einzigen Zeugen.« Mein Gesichtsausdruck scheint zu zeigen, wie ich mich bei dem Gedanken fühle, von der Polizei befragt zu werden, denn sie schiebt ihr Tablett zur Seite und schaut mir direkt in die Augen. »Sprich mir nach: Ich komme nicht ins Gefängnis.«
Ich schnipse einen zusammengeknüllten Trinkhalm nach ihr. »Du kommst nicht ins Gefängnis.«
»Jeder von uns hat ein Alibi.«
»Nicht gerade ein stichfestes«, betone ich. »Wir waren zwischen Ball und See für eine halbe Stunde nicht zusammen. Tricia hat ihren Freund angerufen, Tai hat noch was zu trinken besorgt und ich habe meine sexy Stiefel gewechselt –«
Brie verdreht die Augen. »Dann sind wir alle verdächtig. Falls es überhaupt Mord war. Aber das war es nicht.«
»Warum sollten sie dann weiter ermitteln?«
»Weil noch keine vierundzwanzig Stunden vergangen sind, Kay. Wenn diese Polizistin uns noch mal befragt, sagen wir einfach alle, dass wir die ganze Zeit zusammen waren. Problem gelöst.«
»Tja, dann sorge aber auch dafür, dass jeder diese Info bekommt, Brie.« Ich halte kurz inne. »Aber kam es dir nicht auch so vor, als hätte es die Polizistin besonders auf mich abgesehen?«
»Das ist doch paranoid. Wie auch immer, ich sagte ja schon, dass du die Ermittlungen nicht zu ernst nehmen solltest.« Sie schiebt ihren Stuhl zurück und schaut zur anderen Seite der Mensa hinüber. »Ich werde mit Tai reden.«
Ich folge ihrem Blick und sehe Nola mit einem offenen Laptop auf dem Bauch auf einer Bank an der Seite des Raums liegen. Sie hebt ihren Fuß zu einem merkwürdigen Winken. Dabei kommen Strümpfe mit einem schwarzen Paisleymuster unter ihrem Rock zum Vorschein. Brie schaut mich fragend an.
Ich winke Nola mit der Gabel zu und vermeide Bries Blick. »Sie hilft mir bei den Hausaufgaben.«
»Warum hast du mich nicht gefragt?«
»Du bist nicht kompetent genug.« Ich grinse flirtend.
»Ist das so?« Sie wirft einen weiteren Blick auf Nola. »Interessant.«
»So schräg ist sie gar nicht.«
»Seit wann?«
»Du warst doch diejenige, die gesagt hat, dass wir netter zu unseren Mitschülerinnen sein sollen.«
»Aber ausgerechnet Nekro?«, flüstert Brie.
Ich sehe mich schnell um, um sicherzugehen, dass Nola immer noch außer Hörweite ist. »Tai hat sich den Spitznamen ausgedacht.«
»Du hast ihn oft benutzt.«
»Du hast gelacht.«
Sie senkt den Blick. »War nicht lustig.«
»Außerdem ist es ewig her und niemand sagt das noch. Außer dir anscheinend. Also, hast du ein Problem damit, dass ich mit Nola lerne?«
Brie lacht plötzlich auf und ich fühle mich gleich besser. Ich schaffe es einfach nicht, sie lächeln zu sehen, ohne zurückzulächeln. Reine Biochemie.
»Gott, nein. Ich fühle mich nur schlecht. Wie kann man nur so eigennützig sein«, sagt sie.
»Nicht ganz«, erwidere ich. »Wir haben einen Deal. Ich –« Brie hätte bestimmt etwas dagegen, dass ich den Trainer davon überzeugen will, jemanden aus dem Team zu werfen, nur damit Nola mitmachen kann. »Ich gebe ihr Fußballstunden.«
Sie wirkt ganz und gar nicht überzeugt, hebt aber trotzdem ihr Milchglas, um mit mir anzustoßen. »Gut gespielt, Kay.« Sie nimmt einen Schluck und schaut mich dabei nachdenklich an. »Aber wenn du dem Hacker in die Quere kommst, kannst du dir dein Grab schaufeln.«
Am Nachbartisch hört Abigail Hartford auf zu reden und funkelt Brie für ihre ungeschickte Wortwahl böse an, dann senkt sie rasch den Blick und wird rot. Niemand funkelt Brie böse an. Sie ist viel zu nett. Doch Brie wirkt beschämt.
»Du weißt, was ich meine«, flüstert sie und steht auf. »Okay, ich gehe wieder zu den anderen rüber.«
»Ja, gut. Übrigens, kommt Justine morgen zur Trauerfeier?«
Brie schüttelt den Kopf. »Das tue ich ihr nicht an. Es war schon schlimm genug, heute Vormittag über den Campus zu gehen. Und jetzt stell dir das Gedränge der Trauernden in der Irving-Kapelle vor.«
»Sollte lustig werden.«
»Wieso?«
»Ich wollte sie nach einem Typ von der Easterly fragen. Er ist auch in der Theatergruppe. Du wirst ihn nicht kennen, aber sie ganz bestimmt.«
»Sag schon.«
»Okay, sein Name ist Greg. Er ist groß, hat tätowierte Arme und ist von der genervten Sorte. Ich glaube, dass er Jessica kannte.«
Sie grinst. »Du hast so was von keine Ahnung, das ist echt bezaubernd. Creepy Greg war Jessicas Freund. Das weiß sogar ich.«
»Also hast du Jessica doch gekannt.« Ich bin sauer über ihren Ton. »Du hast nicht nur gewusst, dass sie Mathe belegt hat.«
Bries Wangen erröten leicht. »Nur durch Justine. Möchtest du noch etwas fragen?«
»Glaub nicht.«
Sie beugt sich über den Tisch und spielt mit dem Freundschaftsarmband, das ich am Handgelenk trage. Eins der wenigen Relikte von früher, die ich immer bei mir habe, ein schlichtes Wildlederband mit einem Herzen, das auf der Innenseite angekokelt ist. Megan hat es in einem Sommercamp für mich gebastelt.
»Mach dir keine Gedanken wegen Tai«, sagt Brie. »Wir waren alle da.«
Ich bekomme jedes Mal einen emotionalen Peitschenhieb, wenn sie erst von Justine redet und dann mich berührt. »Was?«
»Tai ist manchmal nicht sehr nett. Ich meine, im Herzen ist sie es. Aber die Dinge, die sie sagt, sind es nicht. Man kann nicht allem ein Comedy-Etikett aufdrücken und erwarten, dass das jeder okay findet. Ich habe wegen ein paar Bemerkungen von ihr sogar schon geweint.«
»Was für welche?«
Sie schüttelt den Kopf. »Das wiederhole ich nicht. Niemals.«
»Warum nicht?«
Sie schaut mir direkt in die Augen. »Weil du dann bei einem Streit genau wüsstest, was du sagen musst, um mich fertigzumachen. Und wenn du diese Dinge sagst, wäre unsere Freundschaft am Ende, ohne eine Chance auf Versöhnung.«
»Ich kann nicht glauben, dass sie dich so schlimm verletzt haben soll und du nie etwas erwähnt hast.«
Sie schluckt, als wäre ihr Mund plötzlich völlig ausgetrocknet. »Du bist dieser Grenze auch schon gefährlich nah gekommen, Kay.«
Ich breche den Blickkontakt ab. Ich kann das einfach nicht. »Aber du bist immer noch mit Tai befreundet.«
Sie legt ihre Serviette an den Rand des Tisches und beginnt, sie systematisch glatt zu streichen und in immer kleinere Dreiecke zusammenzufalten. »So ist das eben mit Tai. Wir machen da alle irgendwie mit. Keiner von uns ist besser. Jeder hat eine dunkle Seite.«
Ich schiebe meinen Teller weg, mein Magen dreht sich um und Panik macht sich breit, als ich mich frage, ob mein Name vielleicht auch im Racheblog auftauchen wird. Wie Tais. Letztendlich gehören wir alle zur selben Clique. Ich habe auch über andere gelästert und sie schikaniert, besonders zu Beginn des Schuljahres und während der Probetrainingszeit. Aber ich war nie einfach nur gemein.
Fast nie.
An diesem Abend gehe ich in der Halle laufen. Ich laufe eigentlich lieber am See im einladenden Duft der Pinien, aber heute bin ich zu aufgewühlt, um draußen allein zu joggen. Auf dem Weg zurück zu meinem Wohnheim greife ich im Dunkeln nach meinem Handy und wähle Justines Nummer. Sie nimmt ab, im Hintergrund läuft laut ein Song von Sia.
»Warte!«, ruft sie ins Telefon. Die Musik wird leiser. »Hey, Kay.«
»Hi, ich muss dich um einen Gefallen bitten.«
»Alles in Ordnung bei dir?« Ihre sanfte Stimme klingt leicht besorgt.
»Bin nur ausgepowert. Hast du Gregs Nummer?«
»Newman? Weiss? Vanderhorn?«
»Creepy Greg?« Bei den Worten zucke ich zusammen.
»’ne Menge Tattoos, Lippenring, Dr. Finsterblick?«
»Ja, das ist er!«
Sie lacht. »Du hättest ihn äußerlich beschreiben sollen, anstatt mir einen beliebigen Spitznamen an den Kopf zu werfen.«
»Sorry. Brie hat ihn so genannt und ich dachte, damit wäre es klar. Kannst du mir seine Nummer geben?«
»Bleib dran, ich schaue nach.« Ich höre Papier rascheln. »Was willst du von Judgy McJudgerson?«
»Ich will ihm nur ein paar Fragen über Ms Lane stellen.«
Ihre Stimme wird wieder sanfter. »Oh, Süße, möchtest du reden?«
»Nein, mir geht’s gut. Ich möchte nur, dass alles schnell wieder normal wird. Und die Ermittlungen vorangehen.«
»Ich hab sie.« Sie liest mir die Nummer vor.
»Muchas.« Ich beende das Gespräch und wähle gleich Gregs Nummer. Es klingelt fünf- oder sechsmal, dann geht die Mailbox ran. Ich lege auf und versuche es erneut. Diesmal nimmt er beim ersten Klingeln ab.
»Hallo?« Er klingt genervt und angeschlagen.
»Hi, hier ist Kay Donovan. Ich suche nach Greg …« Ich verstumme, als mir klar wird, dass ich seinen Nachnamen gar nicht kenne.
»Hier ist Greg Yeun. Ist gerade kein guter Zeitpunkt.«
»Okay, tut mir leid.«
»Warte. Kay Donovan?« Jetzt klingt er verärgert. »Woher hast du meine Nummer?«
»Von Justine Baker.«
Er stöhnt laut. »Was willst du?«
»Ich rufe ein anderes Mal an.«
»Jetzt bin ich sowieso wach.«
»Es ist Samstagabend halb neun.«
»Ich war bis vier Uhr auf den Beinen. Und du?«
Ich beiße mir auf die Zunge. »Es tut mir wirklich leid, dass ich dich störe. Ich habe darüber nachgedacht, wie unhöflich ich heute zu dir war. Dafür möchte ich mich entschuldigen.«
»Na klar.«
»Und ich habe gehört, dass du mit Jessica zusammen warst. Ich würde gern ein bisschen mehr über sie erfahren. Ich weiß, dass es ein ungünstiger Zeitpunkt ist, aber –«
Er seufzt. »Bist du Reporterin für eure Schülerzeitung oder so was?«
»Nein, ich leite eine persönliche Ermittlung.«
Er schnaubt. »Also bist die eine kommende Kriminalbeamtin.«
»Nicht ganz. Es … lässt mir einfach keine Ruhe, was mit Jessica passiert ist. Das klingt vielleicht merkwürdig, aber für mich ist es etwas Persönliches, auch wenn wir nicht befreundet waren.«
»Wir waren zusammen, haben aber Schluss gemacht.«
Der Exfreund ist immer verdächtig. Das weiß jeder.
»Können wir uns vielleicht treffen?«
Es entsteht eine Pause. »Jetzt?«
Ich sehe auf die Uhr. »Klar.« Ich habe zwar keine offizielle Erlaubnis, den Campus zu verlassen, aber ich bin viel zu aufgekratzt, um mir darüber Gedanken zu machen. Brie und ich sind schon Dutzende Male an der hinteren Seite des Sees abgehauen und in die Stadt gelaufen. Es ist okay, solange man sich unauffällig verhält.
»Gut«, sagt er. »Und wo wollen wir uns treffen?«
»Kennst du das Café Cat?«
»Zwanzig Minuten.«