Читать книгу Equinox - Dana Schwarz-Haderek - Страница 18
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ОглавлениеIm Laufe der Woche hatten Kristin und ich beschlossen, dass es an der Zeit wäre, einen ersten gemeinsamen Heimatbesuch zu machen. Ich hatte zwar häufig in den letzten zwei Wochen mit meiner Mutter gesprochen, aber immer verschiedene Gründe vorgeschoben, warum ich nicht lange mit ihr telefonieren konnte, nur damit sie nicht merkte, wie es um mein derzeit ungewohnt fragiles Seelenheil stand. In den letzten beiden Telefonaten, merkte ich schon deutlich, wie sie langsam skeptisch wurde und wiederholt nachfragte, ob denn bei mir wirklich alles in bester Ordnung wäre … Ich nahm mir vor, sie zumindest teilweise in mein Robertgeheimnis einzuweihen. Jedoch musste sie die turbulente Vorgeschichte bis zum vorläufigen Happy End am vergangenen Freitag nicht unbedingt wissen. Allerdings war das nun wirklich nichts, was sich telefonisch erledigen ließ. Dazu musste ich schon persönlich mit meiner Mutter sprechen. Die Heimfahrt bot sich daher mehr als an, nicht nur die liebevolle Energie meiner Familie zu tanken, sondern auch ein ausführliches Gespräch mit meiner Mutter zu führen.
Unsere Eltern, die sich seit unserer frühen Kindheit ein Doppelhaus teilten, freuten sich über unsere Ankündigung, übers Wochenende heimzukommen und so reihten sich Kristin und ich am Freitagmittag in den dichten Wochenendpendlerverkehr auf der A9 Richtung Thüringen ein. Aufgrund der vielen Baustellen entlang der Autobahn kamen wir nur schleppend voran. Aber dies war kein Problem, denn es drängte uns nichts. So zuckelten wir in Kristins zehn Jahren altem weißen Golf dahin, hörten eine Unplugged-CD von Eric Clapton, sangen manchmal laut mit und manchmal nicht, denn wir waren nur stellenweise textsicher. Wir plauderten entspannt vom Rest der Woche und meine immer aktive Kristin weihte mich in ihre Pläne ein, wen sie am Wochenende alles treffen wollte und wie sie den Freitag- und Samstagabend verbringen würde. Mein Glücksgefühl vom Montagabend war der Traurigkeit davor nicht wieder gewichen, denn ich bekam abends regelmäßig SMS von Robert, der mit der Einrichtung des Versuchsaufbaus an der Uni in Plymouth beschäftigt war. Da er im dickwandigen, altehrwürdigen Universitätsgebäude tagsüber kaum Handyempfang hatte, musste ich mich zwar täglich bis in die Abendstunden gedulden, aber so hatte ich wenigstens ein Ziel, die Tage sinnbringend zu füllen, damit sie schneller vergingen. Zweimal hatten wir auch miteinander telefoniert und uns zunächst ungezwungen über das jeweils Erlebte ausgetauscht und im Anschluss daran gemeinsam die Erinnerungen an unser erstes und einziges Wochenende zu zweit aufgefrischt. Mit ihm darüber zu reden, war fast genauso romantisch, wie die Stunden zu zweit tatsächlich gewesen waren. Versonnen lächelnd dachte ich an sein friedlich schlafendes Gesicht am Sonntagmorgen. Eine Welle der Zärtlichkeit durchlief mich, ließ mich sanft erschauern und hinterließ eine leise prickelnde Gänsehaut…
»Wie war es eigentlich im Kindergarten? Davon hast du noch gar nichts erzählt«, riss mich Kristin kurz vor dem Hermsdorfer Kreuz aus meinen Gedanken.
»Wie bitte? Der Kindergarten?«, ich musste mich erst kurz sammeln, denn Kristins Frage kam gerade ziemlich unverhofft für mich. Sie lächelte wissend und nickte mir aufmunternd zu.
»Genau. Der Kindergarten. Wie war deine Vorlesestunde?«, wiederholte sie noch einmal geduldig.
»Es hat mir richtig Spaß gemacht«, antwortete ich ihr.
»Das kann ich mir vorstellen!«, meinte Kristin.
»Ich habe den Vorschulkindern eine Geschichte vom kleinen Drachen Kokosnuss vorgelesen. Die Kleinen waren total süß und waren überhaupt nicht scheu. Sie saßen mit mir im Kreis am Boden und kamen mit jedem Wort näher herangerutscht, damit sie kein Wort verpassten oder ihnen kein Bild im Buch entging. Nach kurzer Zeit hatte ich die Kinder gewissermaßen alle auf meinem Schoß sitzen oder über meinen Rücken hängen. Sie klebten an mir wie eine Traube und wenn ich umblätterte, quasselten alle erst mal durcheinander, ehe ich weiterlesen konnte. Echt niedlich! Am Ende haben sie mir als Dankeschön ein lustiges Lied vorgesungen. Ich freue mich schon richtig auf das nächste Mal«, erzählte ich begeistert.
Kurze Zeit später bogen wir bereits in die Goethestraße in Hainstadt ein, wo das Haus unserer Eltern stand. Meine Tante Katharina, Kristins Mutter und gleichzeitig die jüngere Schwester meiner Mutter, schien den einparkenden Golf gehört zu haben und stand bereits empfangsbereit in der Haustür, als Kristin und ich aus dem Auto kletterten.
Nach einer kurzen, herzlichen Begrüßung schnappte ich meine Sachen und ging erst einmal zu meinen Eltern hinüber. Ich lief gleich ums Haus herum, denn Katharina hatte mir gesagt, dass alle im Garten wären, um diesen winterfest zu machen. Sobald meine Mutter mich sah, ließ sie sofort alles stehen und liegen und wir umarmten uns.
»Hallo Mama!«, sagte ich gerührt über den liebevollen Empfang.
»Schön, dass du da bist, mein Kind!«, erwiderte meine Mutter und hielt mich anschließend auf Armlänge von ihr entfernt und betrachtete mich aufmerksam.
»Mmmh«, sagte sie: »Du hast dich verändert! Du strahlst richtig und wirkst trotzdem traurig. Gibt es tatsächlich nichts Neues? Oder bekommt dir dein Studium so außerordentlich gut und schafft dich gleichzeitig so sehr?« Mütter merkten irgendwie doch immer gleich, wenn sich etwas verändert hatte.
»Beides«, antwortete ich leise und versprach: »Nachher!«, denn inzwischen waren auch mein Vater und mein Bruder herangekommen, um mich zu begrüßen. Beiden umarmten mich gleichzeitig wie zwei große Teddybären, und ich bekam erst einmal keine Luft mehr. Sie ließen erst lachend von mir ab, als ich zappelnd versuchte, mich zu befreien.
»Kaffee, Tee und Kuchen?«, fragte meine Mutter lachend in die Runde.
»Oh ja, das klingt gut!«, antwortete ich und schaute glücklich zurück. Meine Familie war mein bekannter Hafen. Hier war immer alles gut und ich fühlte mich einfach nur wohl.
Daniel, mein Bruder, griff nach meiner Tasche und ächzte belustigt.
»Sag mal, kleine Eli, hast du Steine eingepackt?«, fragte er neckend. Er war zwar zwei Jahre jünger als ich, überragte mich aber um eine ganze Kopflänge und wirkte, muskelbepackt und athletisch, wie er war, bestimmt viermal so breit wie ich.
»Ich habe meinen Laptop dabei. Ich hatte gehofft, du könntest mir helfen, eine Skypeadresse einzurichten«, bat ich ihn indirekt.
»Huuuh, die kleine Schwester will skypen. Wie universitär! Kosmopolitisch! Gar weltoffen!«, foppte er mich breit grinsend.
Ich zog eine Augenbraue hoch und schaute ihn tadelnd an: »Haha, wie lustig …!
Typisch für ihn, er neckte mich eigentlich immer. Daniel war eine absolute Frohnatur, machte sich nie wirklich große Gedanken über irgendetwas und vertraute komplett darauf, dass sich immer alles günstig fügen würde. Meine manchmal zurückhaltende, stille Art, meine Liebe zu Büchern und meine generelle Vorsicht gegenüber riskanten Unterfangen dienten ihm zum Anlass, mich ständig liebevoll aufzuziehen. Daniel war eigentlich das gesamte Gegenteil von mir: extrovertiert, immer happy-go-lucky und völlig unbeschwert. Aber wir liebten uns über alles und könnten uns ein Leben ohne einander nicht vorstellen. Wie er wohl reagieren würde, wenn er erfahren würde, dass er neben meinem Vater nicht mehr der einzige wichtige Mann in meinem Leben war? Das würde vermutlich schwierig werden!
»Na, mal ernsthaft. Ich glaube, wir beide müssen nachher einen kleinen Ausflug machen und erst einmal Einkaufen fahren, Schwesterherz.«, meinte er nun in Planungsstimmung.
»Aha?«, antwortete ich fragend.
»Soweit ich weiß, ist dein vorsintflutlicher Laptop noch nicht einmal mit einer Webcam ausgerüstet, habe ich Recht?«
»Keine Ahnung«, gab ich offen zu. Wozu brauchte man denn eine Webcam? Ich wollte doch keine Videos drehen!
»Das sieht dir ganz ähnlich!«, lachte er nun wieder offen heraus. »Willst skypen ohne Webcam. Willkommen im einundzwanzigsten Jahrhundert, Eli! Skype unterscheidet sich von anderen Internettelefonprogrammen gerade davon, dass man seinen Gesprächspartner live sehen kann, während man sich unterhält.«
»Aaaahhh«, jetzt verstand ich. Von Computern hatte ich wirklich keine Ahnung. Aber ich hatte ja Daniel!
»… Oder willst du wen-auch-immer nicht sehen, wenn ihr euch unterhaltet?«, zog er mich auf.
Und ob ich wollte. Ich wurde augenblicklich rot. Na super. Ein besserer Zeitpunkt war ja kaum möglich. Ich hatte Glück, dass meine Eltern schon ins Haus gegangen waren. Daniels Grinsen wurde dagegen immer breiter.
»Oh ja!«, rief er sichtlich amüsiert! »Na, wenn du mir da mal nicht einige interessante Neuigkeiten im Ausgleich für die Skypeeinrichtung zu berichten hast! Meine kleine Schwester! Hahaha! … steht dir übrigens gut. Die rote Farbe im Gesicht, meine ich.«
Ich schaute ihn schmollend an. Noch ein Geständnisgespräch. Super! Wäre ich mal lieber in Leipzig geblieben!
»Schon gut! Ich verrate nichts. Wir fahren nachher zusammen nach Weimar und du klärst mich auf. Deal?« Jungenhaft verspielt hielt er mir die Hand zum Einschlagen hin.
»Okay. Deal!«, seufzte ich. Böse konnte ich ihm bei seinem herzerfrischend offenen Charme sowieso nicht sein.
Nach einem gemütlichen Kaffeetrinken mit frischgebackenen Pflaumenkuchen setzten sich Daniel und ich ins Auto unseres Vaters und fuhren nach Weimar. Wir bekamen alles, was wir benötigten. Und es gelang mir tatsächlich, meinen kleinen Bruder so über sein Training und seine Freunde auszufragen, dass keine Zeit mehr blieb, schon etwas über Robert verraten zu müssen. Als sein enthusiastischer Bericht über die nächsten bald anstehenden Wettkämpfe langsam verebbte, fütterte ich Daniel mit allerlei Wissenswerten und anschließend auch Nebensächlichen über mein Studium und das Leben in Leipzig.
Als wir wieder in die Straße unseres Elternhauses einbogen, kam er mir jedoch auf die Schliche und meinte lachend: »Naja, Schwesterlein. Sonst schnatterst du doch auch nicht ohne Punkt und Komma. Fühle dich mal nicht zu sicher. Du entkommst mir nicht! Ich will heute noch alles wissen!«
Zurück daheim halfen wir beiden unseren Eltern im Garten, bis es dunkel wurde und unser Vater zufrieden feststellte, dass nun der Winter kommen könne. Wir aßen gemeinsam Abendbrot und ich bemühte mich, nicht allein mit meiner Mutter zu sein, denn es reichte, wenn ich heute Abend Daniel noch Rede und Antwort stehen müsste. Morgen war auch noch ein Tag und da würde sich bestimmt auch eine Gelegenheit finden, mich ungestört mit ihr zu unterhalten.
Sobald der Tisch abgeräumt war, sagte Daniel: »Kommst du?«, und ging mir voran die Treppe zu seinem Zimmer hinauf. Die neue Webcam war schnell installiert und funktionierte einwandfrei. Daniel war bereits mit der Einrichtung einer Skypeadresse beschäftigt, als ich noch absolut nichts verstehend in der Bedienungsanleitung der Kamera herumblätterte.
»Die Anleitung kannst du beiseitelegen«, wies mich Daniel an. »Ich habe dir die Kamera so eingerichtet, dass sie mit allen wichtigen Anwendungen verknüpft ist. Du brauchst also nichts weiter tun, als einfach loszulegen.«
»Danke Daniel!« Ich war gerührt, mit wie viel Fürsorge er darauf achtete, mir so wenige technische Hindernisse wie möglich zu hinterlassen.
»Wie möchtest du denn heißen?«, fragte er über den Monitor gebeugt.
»Geht einfach nur Elisabeth?«, fragte ich unsicher und dachte an Roberts ausgewählten exotischen Skypenamen Equinox. Ob ich auch so ein wohlklingendes Pseudonym bräuchte?
»Klar, wenn Elisabeth noch nicht vergeben ist, kannst du deinen Namen beibehalten. Du solltest aber noch irgendetwas dazu nehmen, damit du nicht unverhoffte Spaßanrufe bekommst. Was hältst du von einem Sternchen vor und nach Elisabeth?« Ich nickte zustimmend. Sternchen waren immer gut. Er tippte eifrig auf der Tastatur und drehte sich dann triumphierend zu mir um: »Das hat geklappt! Herzlichen Glückwunsch Elisabeth, du bist jetzt *Elisabeth*.«
»Cool! Danke! Was muss ich jetzt machen?«, fragte ich konzentriert.
»Hast du einen Skypenamen von jemandem, mit dem du skypen möchtest?«, erwiderte Daniel.
»Ja, habe ich«, antwortete ich ihm.
»Na dann mal her damit. Lass uns mal schauen, ob dieser jemand online ist. Wenn nicht, kannst du ihm … ich vermute doch, es handelt sich um einen ihn, oder? … also, wenn nicht, kannst du ihm einen Anfrage schicken. Dann weiß er, dass du jetzt verfügbar ist.«
»Equinox«, sagte ich daraufhin.
»Equi … was?«, Daniel schaute mich mit fragend hochgezogener Augenbraue an.
»Equinox.«
»Das kannst du allein eintippen … bitteschön … Was soll das denn heißen?« Während ich tippte, schaute mir Daniel neugierig über die Schulter.
»Verrätst du mir nun mehr über diesen ›Equinox‹?«, drängelte er.
»Er heißt Robert und hat am dreiundzwanzigsten September Geburtstag. Das ist die Tag- und Nachtgleiche oder auch Equinox«, gab ich zögernd einen Teil meines Geheimnisses preis.
»Na, ich sehe schon, du willst mir nicht wirklich etwas verraten …«, stellte Daniel leicht enttäuscht fest.
»Es ist noch ganz frisch«, versuchte ich zu erklären.
»Ist schon gut. Hauptsache, dir geht’s gut mit ihm. Er ist doch in Ordnung, oder?«, nun guckte mich Daniel kritisch fragend an. »Wissen unsere Eltern eigentlich schon davon?«
»Ja, ist er!«, beeilte ich mich zu antworten. »Oh Mann, kleiner Bruder, du hörst dich an, als wärest du mein Vater! Und nein, um auch deine letzte Frage zu beantworten, Mutti und Vati wissen noch nichts. Ich muss ja schließlich nicht mit der Tür ins Haus fallen.«
»Das nicht. Aber ich muss auf dich aufpassen. Schließlich habe ich nur eine Schwester.«
Ich war gerührt.
»Ich habe dich auch lieb!«, antwortete ich meinem kleinen Bruder leise und umarmte ihn.
Er wand sich schnell aus meiner Umklammerung heraus und brummte etwas verlegen: »Mmmh, lass mal gut sein. Außerdem habe ich dir noch nicht meinen Segen gegeben!«
Ich grinste.
Plötzlich klingelte mein Laptop. Ich erschrak.
Daniel grinste mich an und sagte aufstehend: »Da kommt auch schon die Antwort auf deine Anfrage, Schwesterherz. Du hast einen Anruf. Ich gehe mal schauen, was so im TV läuft …«
Er schloss die Tür diskret hinter sich.
Mein Herz klopfte wie wild, als ich den Annahmebutton anklickte.
Sofort baute sich ein Fenster auf und Robert erschien. Mein Herz vergaß weiterzuschlagen. Gebannt starrte ich auf den Bildschirm.
»Hallo meine Schöne!«, Robert schaute mich vom Bildschirm warm lächelnd an, und mein Herzschlag setzte langsam wieder ein.
»Robert!«, stieß ich hervor, völlig erstaunt, ihn so unerwartet zu sehen.
»Du siehst aber überrascht aus!«, stellte er amüsiert fest.
»Ja, stimmt. Ich habe gerade gar nicht damit gerechnet, dass du so schnell antworten würdest.« Ich verhaspelte mich fast vor Aufregung. Was erzählte ich hier eigentlich? Wozu hatten wir schließlich Skype installiert? Elisabeth! Sammle dich! Atme durch!
»Hallo Robert!«, brachte ich schließlich doch hervor. Ich strahlte von einem Ohr zum anderen. Wer hätte gedacht, dass dieser Abend sich so unverhofft und wunderbar entwickeln würde.
»Wie war dein Tag?«, fragte mich Robert lächelnd. Selbst die nicht ganz kontrastreiche Bildübertragung ließ seine wunderschönen grünen Augen blitzen. Mir nahm es fast den Atem, so schön war er anzusehen.
›Konzentriere dich!‹, wiederholte ich mantraartig und bemühte mich, ihm zu antworten.
»Gut. Kristin und ich sind heute Mittag nach Hause gefahren und bleiben übers Wochenende.«
»Aha, ich habe mich schon gewundert, wo du bist, denn dein Zimmer in Leipzig hatte ich irgendwie anders in Erinnerung … ziemlich ungewöhnlich dekoriert, die Wand hinter dir, zumindest für eine junge Frau …« Robert schaute mich belustigt fragend an.
Ich drehte mich um, nicht wissend, worauf er sich bezog. Ach richtig, ich war ja in Daniels Zimmer. Dank Robert hatte ich die Welt um mich herum schon wieder völlig ausgeblendet.
»Ich bin im Zimmer meines Bruders. Er hat meinen Laptop skypetauglich ausgerüstet. Ich würde mir eher keine Motorcross- und Ringerposter an die Wand hängen!«, erklärte ich schmunzelnd.
»Da bin ich ja beruhigt«, sagte Robert spielerisch. »Das wäre nämlich enorm viel Arbeit, mir so ein breites Kreuz, wie bei dem Typ in den roten Hosen dort hinter dir zuzulegen, vor allem wenn dir das so gefallen würde, dass du sogar Poster von solchen Männern aufhängst.«
»Vermutlich«, antwortete ich, mich noch einmal umsehend und fuhr neckend fort: »Du hast Glück, ich ziehe dich so vor, wie du bist.«
»Hu! Wirklich Glück gehabt! Sag mal, hast du dir schon überlegt, wann du mich hier einmal besuchen kommen könntest?«, fragte er mich gespannt.
»Ja, habe ich. Ich denke, ich werde das Wochenende um den Reformationstag bzw. Allerheiligen nehmen. Der Reformationstag ist ein Feiertag und fällt in diesem Jahr auf einen Mittwoch. Viele meiner Dozenten kommen aus Bayern und Baden Württemberg, Die wollen wohl lieber an Allerheiligen daheim sein, und viele Veranstaltungen fallen dadurch aus. Es bleiben noch zwei Vorlesungen am Donnerstag und Freitag übrig, die ich einfach mal sausen lassen könnte. Das fällt sowieso nicht auf, weil es in diesen beiden Vorlesungen keine Anwesenheitspflicht gibt. Ich könnte also Mittwochnachmittag schon fliegen, käme aber erst ziemlich spät in London an und weiß noch nicht so recht, wie ich von dort aus weiter komme. Aber so hätten wir den ganzen Donnerstag schon für uns. Was hältst du davon?«
»Das klingt super!«, antwortete Robert enthusiastisch. »Und du brauchst dir keine Gedanken machen, wie du aus London wegkommst. Ich hole dich natürlich vom Flughafen ab. Wir werden zwar etwa vier Stunden nach Plymouth benötigen, aber können auf der Fahrt wenigstens auch schon zusammen sein.«
Robert schaute mich erwartungsvoll an.
Ich freute mich über seinen Vorschlag und nickte: »Ja, so machen wir es! … aber ist das nicht ein bisschen viel, also ich meine, acht Stunden Fahrt?«
»Ach, mach dir darüber keine Sorgen. Autofahren finde ich nicht anstrengend und außerdem fahre ich ja nicht acht Stunden am Stück. Ich habe ja auch eine Pause am Flughafen«, antwortete er unbekümmert.
»Wie läuft dein Versuchsaufbau?«, fragte ich Robert.
»Alles ist prima. Wir sind fertig und können ab Montag in die eigentliche Testphase starten. Das wird spannend, denn dieses Mal sind die Probanden Kinder im Alter von acht bis zehn Jahren.«
»Das läuft sicher ganz unkompliziert. Ihr habt eure Testreihe doch bestimmt spielerisch verpackt?«
Robert nickte zustimmend.
»Siehst du. Da werden die Kinder Feuer und Flamme sein. Was untersucht ihr eigentlich?«
»Wir wollen herausfinden, unter welchen Umständen Kinder fremde Grammatikstrukturen intuitiv verstehen und eigene Muster entwickeln. Wir haben dafür extra Englisch ausgesucht, weil hier durch die Sprachentwicklung im Laufe der Jahrhunderte einiges an Grammatik, zum Beispiel die Konjugation von Verben und Deklination von Personalpronomen, verloren gegangen oder vereinfacht worden ist. Wir konfrontieren die Kinder mit der Sprache aus Shakespeares Zeit und lassen sie mit einer Art computergesteuertem Memory Bedeutungszuordnungen zum heutigen Englisch vornehmen. Dafür haben unsere Computerspezialisten in Leipzig ein Spiel entwickelt, das imaginäre Szenen an einem Königshof nachstellt und dadurch versucht, die Kinder zu motivieren. Sie merken eigentlich gar nicht, dass sie es mit Grammatik zu tun haben. Die Kinder müssen dafür aber schon sicher lesen können und sollten außerdem bisher noch keine größeren Berührungspunkte mit dem Englisch des vierzehnten, fünfzehnten und sechzehnten Jahrhunderts gehabt haben. Deshalb die eingeschränkte Altersgruppe. Mal sehen, ob es funktioniert und wir einige interessante Ergebnisse erlangen können.«
»Wow, das klingt wirklich megainteressant!«
»Mmmh, aber nun mal mit der Arbeit beiseite. Was wirst du heute noch tun? Gehst du aus?«, fragte Robert etwas schmallippig. Was war ihm denn gerade Unangenehmes widerfahren? Ich versuchte kurz unser bisheriges Gespräch zu reflektieren, konnte aber kein Indiz für seine Stimmungsänderung entdecken.
»Nein, ich bleibe zu Hause und werde den Abend mit meiner Familie verbringen«, antwortete ich verwundert. Ich war eigentlich kein großer Partygänger, ganz im Gegenteil zu Kristin, die sich bestimmt nebenan gerade in Schale schmiss.
»Und morgen?«, Robert wirkte immer noch seltsam angespannt.
»Ich habe noch nichts Bestimmtes vor. Mal sehen, was sich so ergibt«, antwortete ich wahrheitsgemäß. Warum benahm er sich plötzlich so eigentümlich?
»Wirst du niemanden treffen oder irgendwohin gehen?«, bohrte Robert nach.
War er etwa eifersüchtig?
»Nein, ich denke nicht. Ich weiß noch nicht. Ich habe jedenfalls nichts geplant … warum ist das so wichtig für dich?«, fragte ich ihn nun unverblümt.
»Es macht mich verrückt, so weit entfernt von dir zu sein und zu wissen, dass ich nichts tun könnte, wenn dir plötzlich ein attraktiver junger Mann über den Weg liefe, der Zeit für dich hätte und nicht gleich für zwei Monate verschwindet, nachdem er sich flüchtig vorgestellt hat …«, knurrte er leise.
Oh, Robert war eifersüchtig. Aber warum? Und vor allem, auf wen? Es war zwar völlig unsinnig, dass er so fühlte, aber seine Sorge gefiel mir trotzdem. Es zeigte mir doch deutlich, dass sein Herz tatsächlich mir gehörte. Ich jubelte innerlich einmal kurz beseelt, ehe ich ihm antwortete: »Bisher war ich auch recht immun gegen die Verlockungen der Männerwelt, vor allem hier zu Hause, wo die Auswahl an Neuzugängen im Allgemeinen gegen Null tendiert. Also mach dir mal keine Sorgen!«
»Hmpf!«
Das klang immer noch recht unbefriedigt. Irgendwie unterhaltsam!
»Wie bitte?«
»Nichts … vergiss mich nicht!«, bat er plötzlich innigst.
So ein Blödsinn! Als müsste er sich Sorgen machen, dass ich ihn vergessen könnte. Es wäre wahrscheinlich nachvollziehbarer, wenn ich Angst hätte, dass mein wunderschöner, liebenswerter, unglaublich attraktiver Robert zu viel Anklang bei den englischen Damen fände.
»Niemals!«, versicherte ich ihm.
»Gut!«, erwiderte er mit einem ziemlich schiefen Lächeln.
Mist! Unten riefen meine Eltern nach mir. Ich wollte ungern mit Robert beim Skypen entdeckt werden, ehe ich ihnen von ihm erzählt hatte.
»Ich muss jetzt leider aufhören«, teilte ich ihm ehrlich enttäuscht mit.
»Love you!«, erwiderte er einfach und schenkte mir ein schüchternes Lächeln. Dann küsste er seinen Zeige- und Mittelfinger und berührte damit seine Kamera. Ich liebte seine kleinen zärtlichen Gesten.
»Ich dich auch!«, sagte ich und klickte schweren Herzens auf den Auflegebutton.
Versonnen lächelnd fixierte ich noch eine Weile meinen Bildschirm, während das Rufen von unten ungeduldiger wurde. Seufzend fuhr ich den Laptop runter und ging zu meinen Eltern hinab, die mich zu einer Runde Scrabble baten. Nun gut, warum nicht. Daniel war mit einem Freund zum Training gegangen und würde sicher nicht vor zweiundzwanzig Uhr zurück sein.
Wir hatten einen schönen Abend zusammen, tranken eine Flasche Rotwein und ich erfuhr die letzten Neuigkeiten aus dem Bekannten- und Verwandtenkreis, als plötzlich das Telefon klingelte. Meine Mutter nahm ab und kam kurz darauf wieder an den Spieltisch zurück, während mein Vater und ich gemeinsam herumalberten.
»Florians Auto springt nicht an. Seine Eltern sind gerade im Urlaub und können nicht helfen. Nun kommen Daniel und Florian nicht aus Weimar weg. Einer von uns soll sie nun abholen kommen.«
»Das kann ich ja machen«, schlug ich vor, denn ich hatte im Gegensatz zu meinen Eltern nur ein Glas Wein getrunken und noch viel Wasser dazu. Ich war definitiv die einzige, die noch fahren konnte.
»Das wäre prima«, sagte mein Vater. »Nimm den Audi, dann bist du schnell wieder da.«
»Okay. Bis dann!«, rief ich und holte das Auto aus der Garage. Auf dem Weg nach Weimar hörte ich eine Edvard-Grieg-CD meines Vaters. Bei der Peer Gynt Suite drückte ich auf Endloswiederholung. Ich liebte dieses Stück über alles.
Nach zwanzig Minuten rollte ich über den knirschenden Kies auf dem Parkplatz von Daniels Ringerklub. Daniel und Florian, Daniels Trainingskamerad und Schulfreund, waren nirgends zu sehen. Anrufen brauchte ich die beiden auf ihren Handys auch nicht, um ihnen mitzuteilen, dass ich da wäre, denn eigenartigerweise hatten sie in ihrem Klubgebäude nie Empfang. Das gefiel mir alles nicht besonders, denn so war ich gezwungen, auszusteigen und in das Trainingsstudio hineinzugehen. Das würde wieder nicht ohne anzügliche Kommentare testosterongeladener, schwitzender Männer, die sich selbst unwiderstehlich fanden, ablaufen. Wie ich das hasste! Seufzend gab ich mir einen Ruck und stieg aus.
Die warme, feuchte Luft im Studio traf mich wie eine Wand. Ein Übermaß an verschiedenen Gerüchen schwappte gleich hinterher. Verschiedene Nuancen Aftershave waren da noch das harmloseste, denn diese waren gepaart mit dem Kunstledergeruch der Bodenmatten, abgestandener Luft, Schweiß und einigem mehr, das ich nicht näher bestimmen konnte und wollte. Mir wurde leicht übel.
Daniel und Florian waren nicht zu sehen. Na super! Jetzt musste ich auch noch entweder den Raum durchqueren, um sie zu suchen, oder einen der schwitzenden Kolosse ansprechen. Ich wünschte mir, dass ich diejenige gewesen wäre, die den meisten Wein getrunken hätte. Stattdessen drückte ich mich unentschlossen in der Tür herum und überlegte, wie ich dieser Situation am schnellsten wieder entkommen könnte. An einer Hantelbank entdeckte ich einen Freund von Daniel, der auch schon ein paar Mal bei uns zu Hause war. Wenn ich zu ihm wollte, musste ich einmal durch das gesamte Studio gehen. Ich atmete tief ein – ein kolossaler Fehler, denn sofort stieg die Übelkeit noch drängender in mir auf – und lief los, ohne nach links und rechts zu schauen. Der erste pfiff mir hinterher und lenkte so die Aufmerksamkeit der anderen auf mich. Oh nein, ich kam mir vor wie ein in die Enge gedrängtes, für alle Blicke entblößtes Tier. Noch fünf Schritte …
»Hallo Alex, weißt du, wo Daniel und Florian sind?«, sprach ich den Mann an der Hantelbank an. Alex war ein wirklich netter Kerl, aber beim besten Willen keine Schönheit. Er hatte ein etwas zu breites Gesicht und derbe Züge, die nur durch seine immer lachenden Augen gemildert wurden. Verschwitzt und hochrot, wie er gerade war, machte er einen eher furchterregenden statt vertrauenswürdigen Eindruck. Die Pfiffe und zweideutigen Kommentare um mich herum nahmen zu, als die anderen sahen, dass ich mit Alex sprach. Nun galten die derben Witze nicht mehr nur mir allein, sondern schlossen auch Alex ein.
»Hallo Elisabeth. Was machst du denn hier?«, Alex setzte seine Hanteln ab und schaute mich verwundert an.
»Ich suche Daniel und Florian«, wiederholte ich mit dünner Stimme. Ich wollte hier nur noch raus! Langsam keimte Wut in mir. Daniel konnte sich auf eine Menge Ärger gefasst machen, mich hier so hängen zu lassen! Das stand fest!
»Die sind noch duschen, denke ich. Ich gehe mal nachschauen«, er guckte mich aufmunternd an und lief los.
»Danke«, murmelte ich voller Unbehagen. Er konnte mich doch nicht allein hier in der Höhle des Löwen lassen! Mitkommen war aber auch keine Option. Ich konnte schließlich schlecht selbst in einer Dusche ausschließlich für Herren nachsehen …
Die Tür, in der Alex verschwunden war, hypnotisierend, versuchte ich meine Umgebung auszublenden und konzentrierte mich darauf, gleichmäßig und vor allem flach zu atmen, um mich nicht von dem Übelkeit verursachenden Geruch übermannen zu lassen.
Ich musste glücklicherweise nicht lange warten. Nur Sekunden, nachdem Alex im Umkleidebereich verschwunden war, kam er mit Daniel, Florian und einige Schritte dahinter mit einem unbekannten Blonden zurück.
»Hi, Elisabeth«, nickte Florian mir zu.
»Hallo Schwesterlein, klasse, dass du uns abholst! Wir waren noch schnell in der Sauna, damit wir während der Wartezeit nicht sinnlos auf dem Parkplatz herumstehen mussten«, erklärte mir mein sorgloser Bruder, als wäre dies das Naheliegendste der Welt. Ich funkelte ihn wütend an und deutete den beiden an, mir zu folgen. Ich wollte einfach nur raus. Der Blonde schaute mich die ganze Zeit interessiert mit leicht geneigtem Kopf an. Wie auf der Fleischbeschau, schoss es mir durch den Kopf. Ich bedachte auch ihn mit einem vor Ärger glühenden Blick und eilte Richtung Ausgang.
Vor dem Studio stellte ich fest, dass der Blonde uns immer noch folgte und auch Richtung Auto hinterher kam. Wütend und fragend schaute ich Daniel am Auto angekommen an, als Mr. Blondschopf an Daniel gewandt, aber mich fixierend, zu Sprechen begann: »Möchtest du mich gar nicht vorstellen?«
»Elisabeth, das ist mein neuer Trainer Stephen. Stephen, meine Schwester Elisabeth«, vermittelte mein Bruder unbeeindruckt.
»Elisabeth. Hoch erfreut!«, antwortete der gegelte Blondschopf anzüglich und drückte mir doch tatsächlich einen eklig feuchten Kuss auf den Handrücken. Ich atmete scharf ein. Wo gab es denn so etwas? Ich war entsetzt und kochte nun komplett vor Wut. Höfliche Entgegnungen verkniff ich mir und zog stattdessen ganz uncharmant meine Hand schnell zurück und wischte sie mir demonstrativ an meiner Hose ab. Widerlich!
Der Blonde grinste mich anzüglich mit Gewinnermiene an und ich funkelte empört zurück. Was bildete der sich eigentlich ein?
»Einen schönen Abend noch!«, sagte er dann und fügte an mich gewandt hinzu: »Es war mir eine Ehre. Ich hoffe, du kommst jetzt häufiger hier vorbei. Schöne Mädchen, die uns beim Training bewundern, können wir immer gut gebrauchen.«
Meine Brechgrenze war fast erreicht. Konnte es noch schlimmer werden? Ich wies die Jungs an, einzusteigen und schlug selbst grußlos die Fahrertür hinter mir zu.
»Alles okay, Eli?«, fragte mein fröhlicher Bruder.
»Nein! Nichts ist okay! Und wer war überhaupt dieser Kotzbrocken?«, polterte ich ungehalten heraus.
»Kotzbrocken?«, fragten Daniel und Florian gemeinsam erstaunt.
»Meinst du Stephen? Der ist doch ganz cool«, stellte Florian fest.
»Stimmt. Finde ich auch. Wir können ganz froh sein, dass er sich bereit erklärt hat, von Erfurt zurück hierher zu wechseln, um die Nachfolge von Werner, der ja jetzt im Ruhestand ist, anzutreten. So bleibt die Trainingsqualität auf dem gleichen hohen Niveau wie zuvor.«, bestätigte Daniel.
»Ich weiß gar nicht, was du hast«, meinte Daniel noch schulterzuckend.
»Frauen!«, erdreistete sich Florian auch noch kennerhaft. »Ich habe drei Schwestern zu Hause. Ich weiß, wovon ich spreche!«
»Mmmh, sonst ist Eli eigentlich immer ganz easy drauf«, sagte Daniel leise entschuldigend zu Florian.
Konnte es noch absurder werden?
Ich verkniff mir einen weiteren Kommentar, denn ich wusste, dass die beiden Jungs sowieso nicht verstehen würden, warum ich so aufgebracht war.
Für den Rest der Fahrt schwiegen wir alle. Peer Gynt hatte ich gegen meine eigene Best-of-CD von Metallica getauscht, die ich in meinem Rucksack mit dabei hatte, den ich mir vor der Abfahrt schnell geschnappt hatte, um nicht ohne Papiere loszufahren. Ich brauchte jetzt etwas Deftigeres.
Daniel und Florian ließen den überlauten Sturm von Schlagzeug und E-Gitarren klaglos über sich ergehen. Vielleicht hatten sie ja doch ein schlechtes Gewissen?
Wir setzten Florian ab und fuhren die wenigen verbleibenden Minuten zu unserem Haus, als Daniel mich vorsichtig antippte und fragte: »Noch sauer?«
»Ja!«
»Tut mir leid … wofür auch immer. Okay?«, tastete er sich vorsichtig vorwärts.
»Mmmh, mal sehen«, murmelte ich und wusste genau, dass er es damit längst geschafft hatte, dass mein Zorn verrauchte. Warum konnte ich meinem Bruder eigentlich nie lange böse sein? Wahrscheinlich, weil er für mich immer mein knuffig kleiner Bruder bleiben würde. Und seine ewige Frohnatur trug ihr Übriges dazu bei.