Читать книгу Equinox - Dana Schwarz-Haderek - Страница 9
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ОглавлениеSchlaf fand ich kaum in dieser ersten Nacht in Leipzig.
Heißt es nicht immer, dass das, was man in der ersten Nacht in einem neuen Heim träumt, in Erfüllung gehen würde? Nach kurzen traumlosen Momenten, in denen ich schlief, wachte ich auf, um sofort wieder an die Begegnung am Abend unter den Bäumen am Ende der Straße zu denken. Ich konnte mich an jedes Wort erinnern, das Robert zu mir gesagt hatte. Wie schön dieser Name klang, egal, ob man ihn aussprach oder nur dachte. Seine strahlend grünen Augen mit dieser unergründlichen Tiefe blickten mich in meiner Erinnerung wieder an. Oder schlief ich etwa und träumte von ihm? Mich hin und her wälzend wachte ich ein ums andere Mal auf.
Gegen Morgen setzte ich mich, aus einem kurzen Schlaffetzen aufschreckend, unvermittelt auf und musste mir plötzlich eingestehen, dass ich ihn unbedingt wieder sehen wollte. Dieser Gedanke ließ mich erbeben. Was war mit mir geschehen? Noch nie hatte mich eine fremde Person so berührt. Es war, als hätte er mit seinen tiefgrünen Augen direkt in mein Herz gesehen.
Hatte er nicht gesagt, er wäre abends häufig dort?
Er wohnte in der Nähe?
Hoffnung durchflutete mich.
Ich müsste nur wieder den Abend auf einer der Bänke unter den Bäumen verbringen.
Aber nein, alle Hoffnung schwand sofort wieder, als ich daran dachte, wie ich wohl auf ihn gewirkt haben musste. Er würde sich sicher einen neuen Platz suchen. Wer will schon so einen Stockfisch wie mich wiedertreffen? Trostlosigkeit erfüllte mich mit einer nie gekannten Intensität.
Ich war noch nie ein besonders extrovertierter Mensch gewesen, sondern betrachtete die Welt eher aus dem Hintergrund und drängte mich nie nach vorn. Aber es hatte mir auch noch nie die Stimme einfach so verschlagen. Der Gedanke an meine Unfähigkeit zu sprechen, verärgerte mich zunehmend.
Ich grübelte weiter, bis draußen der Tag anbrach, und beschloss, in einem Anflug von Vernunft, lieber in aller Frühe aufzustehen, statt mir weiter über einen völlig Fremden den Kopf zu zerbrechen, den ich aller Wahrscheinlichkeit nach sowieso nie wieder sehen würde.
Ich nutzte die frühe Stunde und ging im Morgengrauen im nah gelegenen Rosental eine halbe Stunde laufen, hoffend, in der kühlen, herbstlich-feuchten Luft wieder einen klaren Kopf zu bekommen. Später, unter der heißen Dusche stehend, ertappte ich mich, dass ich immer noch an den schönen Fremden dachte. Entnervt stellte ich das Wasser ab und fröstelte augenblicklich. Ich musste vergessen haben, das Fenster vor dem Duschen zu schließen. Denn zum Duschen bei geöffnetem Fenster war es nun wirklich zu kühl. Das Wetter war über Nacht umgeschlagen, und noch während ich aus der Dusche schlüpfte und nach meinem Handtuch angelte, ging der leichte Morgennebel in einen garstig-grauen Nieselregen über. Unwirsch schloss ich das Fenster, als würde ich meine verwirrenden Gedanken ebenfalls einfach ausschließen können.
Es war Samstag, der neunundzwanzigste September. Am Montag würde mein Studium beginnen. Die Mischung aus Vorfreude und banger Erwartung ließ die Gedanken an Robert, den Unbekannten, kurzzeitig verblassen. Ich schlüpfte in Jeans, T-Shirt und eine dicke Strickjacke und überlegte bei einer Tasse English Breakfast Tea, einem morgendlichen Ritual, das ich als Mitbringsel meiner Zeit als Fremdsprachenassistentin an einer britischen Grundschule im Südwesten Englands in mein hiesiges Leben importiert hatte, wie ich den Tag am besten verbringen könnte. Ein Blick auf die Uhr verriet mir, dass der Tag sich nicht beeilte, fortzuschreiten. Es war halb sieben und regnete, weder die richtige Zeit noch das richtige Wetter für große stadterobernde Pläne. Also leerte ich meine letzten beiden Umzugskartons. Ab und zu sah ich kurz aus dem Fenster, aber das kleine grüne Oval, das ich im äußersten Winkel sehen konnte, war und blieb menschenleer. Allmählich kam es mir vor, als wäre der vergangene Abend nur einer der flüchtigen Träume meiner unruhigen Nacht gewesen, und es fiel mir schon leichter, die Gedanken daran zu verdrängen. Mittlerweile müsste es doch mindestens acht Uhr sein.
Sieben Uhr vierzig zeigte mein kleiner Wecker. Die Zeit kroch tatsächlich im Schneckentempo. Ich beschloss, dem Wetter die Stirn zu bieten, schlüpfte in meinen halbwegs regenfesten Parka und ein paar alte Turnschuhe, schnappte mir ein Buch aus dem Regal und zog die Tür hinter mir ins Schloss. Ich nahm mir vor, die erstbeste Straßenbahn zu nehmen, die kam und im Stadtzentrum in einem Coffeeshop gemütlich zu lesen. Ich fand schnell, was ich suchte. In der Nähe des Hauptbahnhofes, am Brühl gab es eine Filiale von »Tim’s Coffeehouse«, meiner Lieblingscafékette. Das ist das einzig Schöne am sonst für mich eher langweiligen Franchisekonzept, man findet überall auf der Welt die gleiche vertraute Atmosphäre. In Exeter, meiner Stadt auf Zeit in England genauso wie hier in Leipzig. Ich bestellte einen großen Chai Tea Latte, machte es mir auf einem der ausladenden Ledersofas im hinteren, gemütlich dunklen Bereich des Cafés bequem und ließ den Blick wandern. Es waren außer mir erst zwei weitere Gäste anwesend, die beide einen großen Koffer und Rücksäcke dabei hatten. Sie saßen sich schweigend gegenüber und hielten sich ziemlich müde aussehend an ihren übergroßen Milchkaffeetassen fest. Wahrscheinlich waren sie die ganze Nacht unterwegs und warteten nun auf ihren Anschlusszug. Zum Bahnhof waren es ja nur wenige Schritte.
»Tim’s Coffeehouse« war der Inbegriff von Gemütlichkeit. Eine heimelige Insel inmitten hektischer Städte. Wahrscheinlich mochte ich diesen Platz deshalb so sehr. Ich fühlte mich hier immer ein wenig zu Hause und konnte das schnelle Stadtleben für die Länge einer Tasse Tee einfach ausblenden. Die Wände waren abwechselnd in verschieden breiten Streifen abgedunkelter und pastelliger Farben gestrichen, weinrot, royalblau, zartgelb, waldgrün, rosenholz, verschiedene Braun- und Grautöne. Auf alt getrimmte Emaillekaffee- und Teewerbeschilder aus aller Welt schmückten die bunten Farbstreifen und auf einem im Laden ringsum laufenden Regal knapp unter der mit Stuck reichhaltig verzierten Decke standen Tee- und Kaffeeblechdosen, Kannen, Tassen und Becher. Große bodentiefe Fenster mit alter Buntverglasung, warfen trotz des miesen Wetters draußen ein warmes Licht in den Raum. Ob der Stuck und die Fenster wohl noch Originale aus der Jugendstilzeit waren? Vielleicht, denn solche Kleinode ließen sich in Leipzig noch häufig finden und wirkten auf mich besonders anziehend. Ich nippte an meinem Chai Latte und packte mit einem leisen Seufzer des Wohlbefindens mein Buch aus. »Dreh Dich nicht um« von Daphne du Maurier. Ich liebte die Bücher dieser Schriftstellerin, denn sie erinnerten mich an die schöne Zeit, die ich von September letzten Jahres bis Mai dieses Jahres in Südwestengland verbracht hatte. Ich begann mit der ersten Novelle »Die Vögel« und versank in der faszinierenden Mischung aus subtilem Horror und Hoffnung. Versunken lesend, klopfte mein Herz im Takt der atemlosen Geschichte.
»Hallo Bücherwurm. Da bist Du ja wieder. Darf ich?«
Mein Buch fiel mir fast aus den Händen, als mich eine Stimme ansprach, die mir paradoxerweise unendlich vertraut erschien, obwohl ich sie erst wenige Stunden kannte.
Unglaublich, da war er.
Mir gelang es nicht, das Erstaunen in meinem Gesicht auch nur andeutungsweise zu verbergen. Leicht verwuscheltes, regenfeuchtes Haar, als hätte er vergessen, sich zu kämmen. Bluejeans, ein dunkelblau-petrolgrün kariertes Hemd darüber, bis zur Brust aufgeknöpft, darunter ein einfaches graues V-T-Shirt. Die Hemdsärmel lässig hochgekrempelt. Über dem Arm eine alte schwarze Bikerlederjacke. Letzte Regentropfen in seinem Gesicht, die das warme, abgedunkelte Licht der Cafébeleuchtung in warmen Sonnenfarben brachen und ihn leicht funkeln ließen.
Ich konnte meinen Blick wieder nicht von ihm abwenden.
Er lächelte fragend.
Ich deutete auf den Sessel neben mir und ärgerte mich gleichzeitig, dass ich den Rest der Couch neben mir einnehmend mit meiner Jacke okkupiert hatte.
»Hallo. Ja, bitte.« Immerhin, ich konnte heute Morgen wenigstens sprechen. Das lag wohl an der absolut unerwarteten Überraschung. Meine wie eingefrorene Starre würde bestimmt gleich wieder eintreten, fürchtete ich, denn da waren sie erneut, diese unergründlich grünen Augen, die mich warm und wieder ein klein wenig belustigt anblickten. Ich versuchte mich so stark wie möglich darauf zu konzentrieren, einen halbwegs geistesanwesenden Eindruck zu erwecken und nicht wieder in den Tiefen seiner Augen einfach nur hilflos durch Raum und Zeit zu treiben.
»Ich hätte ja nicht erwartet, überhaupt schon jemanden bei diesem Wetter und um diese Zeit hier an einem Samstagmorgen anzutreffen. Und plötzlich bist du da. Weißt du, ich mag es, hier noch vor allen anderen einen Kaffee zu trinken, in der Zeitung zu blättern und langsam ins Wochenende zu starten.« Er schaute mich aufmunternd an, als wollte er tatsächlich mit mir ins Gespräch kommen.
In der Zeitung blättern. Um diese Zeit? Wie spät war es eigentlich? Erst acht Uhr vierunddreißig? Mir gegenüber hing eine große weiße bahnhofsähnliche Uhr mit antik wirkenden Metallzeigern, die leise vor sich hin tickten. Irgendetwas stimmte heute mit meinem Zeitempfinden nicht. Ich hätte es schon wieder deutlich später vermutet.
»Ja, ich finde es auch schön hier, vor allem wenn noch nicht alles überfüllt ist. Ich war früh wach, und da ich noch nicht so viel in Leipzig kenne, dachte ich, ich suche mir etwas Bekanntes.«
Wow, das war mutig. Ganze Sätze. Ich kam voran.
Er lächelte mich einfach nur an und mein Herz begann mit einem Mal, einen Takt schneller zu schlagen. Er verwirrte mich zusehends.
»Aha, also bist du neu hier. Was wirst du denn in Leipzig tun?«
»Am Montag beginne ich mein Studium.«
»Und was …?«
»Anglistik-Amerikanistik und Germanistik. Bücherwurm. Das weißt du ja schon.« Ich tippte zur Bekräftigung auf mein Buch.
Mir gelang es nicht nur, ein halbwegs kohärentes Gespräch zu führen, sondern sogar ein schiefes Lächeln dazu. Wenn er mich doch nicht unentwegt so anschauen würde. Aber plötzlich fühlte ich, wie meine Aufregung ganz langsam einem angenehmen, ja sogar vertrauten Gefühl wich. Sein intensiver Blick ließ mich ein wenig entspannen und ich fasste Mut, ihn anzusprechen.
»Du sprichst nicht so, als wärest du ein echter Leipziger. Was tust du hier, Robert?« Seinen Namen auszusprechen ließ mich erschauern. Es war ein noch viel aufregenderes Gefühl für mich, als ihn nur zu denken.
»Oh, das merkt man hier immer gleich. Ja, der hiesige Dialekt liegt mir nicht so.« Er lachte. »Ich komme zum Teil aus Berlin und arbeite hier am Max-Planck-Institut … beschäftige mich mit der anthropologischen Entwicklung der Sprache und betreue verschiedene Projekte in diesem Themenbereich.«
»Wow, das klingt interessant.«
»Das ist es auch. Was liest du eigentlich?«
»Daphne du Maurier, … kennt heutzutage meist keiner. Sie ist anscheinend ein bisschen aus der Mode geraten.«
»Ich schon. Ich mag es, dass die meisten ihrer Geschichten in Cornwall spielen. Eine tolle Gegend. Ich bin dort öfter und auch immer wieder gern.«
Ich war sprachlos. Gerade wollte ich ihm von meiner Leidenschaft für ebendiesen zauberhaften Landstrich erzählen, als das Piepen seines Handys unvermittelt diesen ersten Anflug von Vertrautheit zerbrach. Er entschuldigte sich knapp und schien beim Lesen der Nachricht leicht zerknirscht.
Mit einem Ausdruck ehrlichen Bedauerns wandte er sich mir wieder zu und sagte: »Elisabeth, es tut mir leid. Ich muss schon wieder los. Am Bahnhof wartet jemand auf mich. Ich war mir sicher, sie würde einen Zug später nehmen. Ich wünschte … es tut mir ehrlich leid. Bis bald.«
Er nahm eilig seine Jacke, zog sie im Gehen an und lief mit großen Schritten auf die Tür zu. Er war noch nicht ganz draußen, als er sich noch einmal umwandte und mir zulächelte. Sah ich da einen Anflug von Traurigkeit in seinem Gesicht? Nein, das bildete ich mir nur ein. Und doch, er verharrte einen Augenblick länger als er zum Schließen der Tür benötigt hätte und suchte meinen Blick. Ein kurzes letztes Nicken und er war verschwunden. Ich saß fassungslos da und starrte auf die geschlossene Tür.
Das konnte doch nicht wahr sein. Mir war es, als würde es mir das Herz brechen, ein bohrender Schmerz setzte sich in meiner Brust fest. Traurigkeit und Eifersucht auf diese unbekannte Frau manifestierten sich zu einem solch niederschmetternden Gefühl, dass mir der Atem stockte. Tränen schossen mir in die Augen und ich konnte sie nur mit Mühe hinunterschlucken.
Reiß dich zusammen, versuchte ich mir zu sagen. Hast du wirklich geglaubt, er wäre frei? So ein Mann kann doch nicht allein sein. Auf jeden Fall hatte er eine Freundin und diese holte er gerade vom Bahnhof ab. Verdammt!
Warum berührte mich das eigentlich so sehr? Ich wusste gerade einmal, dass er Robert hieß. Und dass er am Max-Planck-Institut arbeitete. Wo auch immer das in dieser Stadt war. Und dass er unglaublich gut aussah. Und mehr als nur einfach nett war. Und dass er die faszinierendsten grünen Augen hatte, die ich jemals gesehen hatte. Und er hatte sich meinen Namen gemerkt …
So viel Glück wirst du kein drittes Mal haben, versuchte ich mir klar zu machen. Du wirst ihn nie wieder treffen! Diese Einsicht war wie ein Schlag ins Gesicht. Und trotzdem, ganz klein, neben diesem niederschmetternden Gefühl der Ohnmacht, regte sich Hoffnung auf ein weiteres Wiedersehen.
Ich packte mein Buch wieder ein und zog meinen Parka an. Hier konnte ich nicht bleiben, verwirrt und enttäuscht wie ich war.
Während ich zurück zur Straßenbahnhaltestelle lief, schlug mir der kalte Regen ins Gesicht und vermischte sich mit meinen Tränen, die nun ungehemmt liefen. Der jähe Abschied von Robert ließ mich fast verzweifeln. Ob ich ihn jemals wiedersehen würde? Wohl eher nicht. Und keiner war da, mit dem ich hätte reden können. Kristin war in Halle und zog sicher gerade von einem Club zum nächsten, ohne eine Grenze zwischen Tag und Nacht zu ziehen. Meine Mutter konnte ich nicht anrufen, um ihr von der Sehnsucht nach einem Wildfremden zu erzählen. Sie würde die Welt nicht mehr verstehen und sich enorme Sorgen machen. Alle anderen Freunde standen mir nicht so nah, als dass ich mit ihnen meinen unerklärlichen Herzschmerz hätte teilen wollen. Und Daniel, mein Bruder? Der würde sich entweder über mein noch nie gekanntes Gefühlschaos schlapp lachen oder sich völlig verunsichert zurückziehen. Ich war zutiefst traurig und gleichzeitig unendlich wütend auf mich selbst. Wieso benahm ich mich wie ein kleines Kind? So etwas war mir noch nie zuvor passiert.
Langsam dämmerte mir eine Wahrheit, die ich jedoch vehement verdrängte. Ich gehörte schließlich nicht zu solch flatterhaften Menschen, die schnell ihr Herz verschenken! Nein! Deshalb konnte das auch gar nicht sein. Ich war sicher nur emotional ein bisschen aufgekratzt, weil ich nicht wusste, was mich in den nächsten Wochen hier erwarten sollte. Genau! So versuchte ich mich aus meinem Tal der Tränen herauszureden und fühlte mich aber so gar nicht besser, als ich wenig später in die fast leere Bahn zurück zu meiner Wohnung stieg.