Читать книгу Liebe mich ... unendlich - Dani Merati - Страница 3

1. Neuanfang

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„Wie ich Ihnen ja bereits am Telefon sagte, stand das Haus über ein Jahrzehnt leer. Der Besitzer ist 2005 verstorben. Er hatte an dem Originalzustand kaum etwas verändert. Die Einbauküche entspricht wahrscheinlich nicht mehr modernen Anforderungen - 70er Jahre Stil -, aber ansonsten ist dieses Objekt ein Juwel. Das Parkett zum Beispiel ist komplett original erhalten und der Kamin im Wohnzimmer ist aus dem 19. Jahrhundert.“

Das wusste ich alles schon, deshalb brummte ich nur zustimmend, in der Hoffnung, die Begehung meines neuerworbenen Eigenheims so abzukürzen. Vergeblich.

Die aufgedonnerte Maklerin schien meine Einsilbigkeit entweder nicht zu bemerken oder sie ignorierte meinen Unwillen schlicht und einfach.

„Seit gestern sind Sie wieder an das örtliche Strom- und Gasnetz angeschlossen. Internetzugang ist selbstverständlich möglich, das können Sie mit Ihrem Anbieter regeln. Kommen Sie, ich zeige Ihnen noch die restlichen Räume.“

Ich hörte weiter nur mit halbem Ohr zu, als mich die Marquardt durchs Erdgeschoss führte. Dabei klimperte sie ständig mit ihren angeklebten Wimpern, was anscheinend verführerisch wirken sollte. Leider musste ich die Dame da auf ganzer Linie enttäuschen: Ich fand es nur lächerlich. Na ja, ich stand ja auch nicht auf Frauen. Auf Kerle allerdings ebenfalls nicht mehr. Dieses Kapitel meines Lebens war beendet. Finito!

Rigoros schüttelte ich die unliebsamen Erinnerungen ab und begutachtete stattdessen mein zukünftiges Zuhause, schaute mich interessiert um. Der Zustand war maroder, als ich zuvor gedacht hatte, doch das störte mich nicht wirklich. Ich war ja hier, um mich abzulenken, und harte körperliche Arbeit war das beste Heilmittel gegen das schwarze Loch, das unerbittlich versuchte, mich in den Abgrund zu reißen.

Aber ich kämpfte unermüdlich dagegen an, gab nicht auf. Gab mich nicht auf. Niemals. Alles war mir genommen worden: mein Job, mein guter Ruf, meine Würde. Dennoch hatten sie mich nicht in die Knie gezwungen. Ich war nicht am Boden, wie sie dachten - und hofften.

Wie auf Kommando machte sich das vermaledeite Kniegelenk bemerkbar, reißende Pein zog sich durch mein gesamtes Bein, der Schweiß brach mir aus. Haltsuchend streckte ich einen Arm aus, stützte mich an einer Wand ab und verharrte kurz. Tief Luft holend versuchte ich den Schmerz wegzuatmen. Das klappte manchmal.

Und manchmal nicht.

Die Maklerin stöckelte mir voran und mein Blick folgte den Absätzen, die auf dem Parkett klapperten. Tja, das mochte original sein und schaute leider auch genauso aus. Es war völlig zerkratzt. Das musste erst einmal abgeschmirgelt, teilweise neu verlegt und dann versiegelt werden.

Hm, wahrscheinlich war es besser, meine Möbel vorerst einzulagern? Zumal anscheinend der verschlissene Hausstand des verstorbenen Besitzers mit zum Inventar gehörte. Na ja, es sollte kein Problem sein, die unbrauchbaren Teile nach und nach zu entsorgen. Vielleicht fand ich sogar das ein oder andere Kleinod darunter, das sich lohnte zu restaurieren.

Bei den Wänden allerdings gab es nichts mehr zu retten. Überall zugekleistert von einer Augenkrebs erzeugenden floralen Tapete in Dunkelgrün und kackbraun - grauenhaft! Die kam jedenfalls als Erstes runter! Ich mochte mir gar nicht ausmalen, wie der Wandschmuck im Obergeschoss aussah.

Im riesigen Wohnraum hatte es irgendwann mal einen Wasserschaden gegeben, sichtbar an den hässlichen dunklen Flecken und Schlieren, die den Wandbehang zusätzlich zierten. Tja, alles in allem eine Bruchbude wie aus dem Bilderbuch.

Doch für den Preis sollte ich nicht meckern. Das Erbe meiner Eltern hatte vollständig dafür gereicht. Somit konnten mich meine eigenen Ersparnisse eine Weile über Wasser halten. Bis ich wusste, was ich nun mit mir anfing. Mit meinem neuen Leben.

Mein Blick wanderte zu dem gemauerten Kamin, in dem bestimmt schon jahrzehntelang kein Feuer mehr geprasselt hatte. Das Teil war wirklich ein echtes Schmuckstück, ein Koloss aus vergangenen Zeiten. Nicht dieser neumoderne Kram, wie im Berliner Loft, der nicht mal anständig gewärmt hatte, da nur künstliche Flammen darin flackerten. Das Ungetüm hier ließ ich auf jeden Fall restaurieren.

Humpelnd folgte ich der munter schnatternden Maklerin in die Küche, die tatsächlich eher einem Albtraum glich. Der Wasserhahn gab ein fürchterliches Gurgeln von sich und die braune Brühe, die herausfloss, erinnerte nur entfernt an Wasser. Zudem stank es wie eine Kloake. Mit hochgezogener Augenbraue sah ich mein Gegenüber fragend an, das sich unbehaglich zu winden schien.

„Nun, die Rohre müssen zunächst kräftig durchgespült werden. Sie sind schließlich sehr lange unbenutzt gewesen. Aber unser Leitungswasser hat eine hervorragende Qualität, sie können es sogar direkt von der Leitung trinken“, wurde mir hastig versichert.

Ich bezweifelte das zwar, widersprach jedoch nicht. Das Haus war gekauft und bezahlt, sie brauchte es mir nicht mehr anpreisen. In Gedanken setzte ich eine neue Küche auf die endlose Liste der Neuanschaffungen. Besonders dieses Ungetüm von Kühl- und Gefrierschrank musste weg. Der ohrenbetäubende Lärm des Geräts war ja kaum auszuhalten.

‚Und das ist erst das Erdgeschoss‘, dachte ich grimmig. ‚Wer weiß, was mich oben erwartet. Es wird Monate dauern, es einigermaßen instand zu setzen ... Was für eine erhellende Aussicht. Nun, es ist ja nicht so, als hätte ich etwas anderes vor.‘

Im Gegenteil. Das, was ich gar nicht brauchte, nie wollte oder gewollt hatte, besaß ich jetzt im Überfluss: Zeit.

Ich verschloss die depressiven Gedanken in einer hintersten Ecke meines Verstandes. Dabei ignorierte ich die stichelnde Stimme im Hinterkopf, die immer hartnäckiger wurde, seit ich aus dem Krankenhaus raus war.

Trotz der eifrigen Versuche sie mit Sprit, Pillen und Erinnerungen an bessere Zeiten zum Schweigen zu bringen, nervte sie mich mit ihren grausamen Spitzen. Giftige Pfeile, die sich in mich hineinbohrten, die schwärende Wunde in mir nährten und den Entschluss herbeigeführt hatten, in meiner Heimatstadt alles zusammenzupacken ...

Zumindest das, was übrig geblieben war, nachdem die Wohnung von denjenigen, die ich einmal Kameraden nannte, auf den Kopf gestellt worden war. Und genau deshalb stand ich jetzt mitten in diesem Fass ohne Boden, das mein Geld im Sekundentakt aus mir herauspressen würde.

Nie hätte ich gedacht, jemals aus Berlin wegzuziehen. Dort war ich geboren, es war meine Heimat. Der Ort, den ich mit jeder wichtigen Station meines Lebens verband. Meine Familie, Schule, Freunde, die Ausbildung bei der Polizei, Leo ... Ein Flimmern breitete sich hinter meinen Lidern aus und ich presste sie kurz zusammen.

‚Fuck! Nicht jetzt!‘

Krampfhaft konzentrierte ich mich darauf, weshalb ich hier war - nämlich für einen Neuanfang. Der lebendigen Großstadt zu entfliehen und in dieses gottverlassene Kaff im Hochsauerland zu ziehen, um die ungewollte Freizeit und den ganzen angestauten Frust dazu zu nutzen, ein baufälliges Haus zu renovieren. Mich mit soviel Arbeit zu ersticken, dass die schwarzen Schatten, die ihre Fühler nach mir ausstreckten, keine Chance bekamen, sich an mir festzukrallen und in den Abgrund zu schleudern.

Aber als ich jeden Schaden katalogisierte, der zu reparieren war und die Kosten überschlug, fragte ich mich, ob die Chirurgen der Charité vielleicht eine Kugel im Kopf übersehen hatten, als sie mich zusammenflickten. Denn ein gesunder Verstand schien dort definitiv nicht mehr zu sitzen.

Ich seufzte leise, ignorierte das mittlerweile eingesetzte bohrende Hämmern im Schädel und folgte der Maklerin folgsam, als sie mich wieder in die Eingangshalle führte. Doch als sie die breite Treppe anstrebte und die ersten Stufen hinaufstieg, blieb ich abrupt stehen. Fuck!

Da schaffte ich es keineswegs hinauf, nicht mit dem verfickten Knie in seiner derzeitigen Verfassung. Klar, wenn ich unendlich Zeit hätte, und meine Krücke, die dummerweise - nein, absichtlich - im Auto lag, kriegte ich es vielleicht mit viel gutem Willen bis morgen früh auf die Reihe.

Aber ich wollte verdammt sein, mich vor dieser Fremden als Krüppel zu outen. Wahrscheinlich würde sie mich mitleidig anschauen, mir ihre Hilfe anbieten und dann war ich gezwungen, mich zu erschießen. Was ohne meine Dienstwaffe vollkommen unmöglich war. Also nein. Die Treppe fiel aus.

Allein schon der Gedanke an Stufen sandte erneut gleißenden Schmerz durch meine zerschmetterte Kniescheibe. Beharrlich biss ich die Zähne aufeinander, um nicht zu brüllen. Nachdem der Krampf minimal abgeklungen war, humpelte ich zum Geländer, wo ich mich aufstützte. Das alarmierende Ächzen, als ich mein Gewicht daran lehnte, ignorierte ich geflissentlich. Ich räusperte mich.

„Frau Marquardt?“

Die Angesprochene unterbrach ihren Aufstieg und schaute auf mich hinab. Meine Miene musste einen Teil meines Innenlebens widerspiegeln, denn sie stöckelte sofort zu mir herunter.

„Ist etwas nicht zu Ihrer Zufriedenheit, Herr Berger?“

Sollte das ein Witz sein? Ich ging auf die lächerliche Frage erst gar nicht ein, zwang mich zu einem freundlichen Hochziehen der Mundwinkel.

„Nein, nein, alles bestens. Ich bin nur der Meinung, wir können die Besichtigung hier beenden. Ich bin schon eine ganze Weile unterwegs und möchte noch in den Supermarkt, ehe er um sieben schließt“, flunkerte ich.

„Und außerdem“, ich stellte mein Guter-Junge-Lächeln an, das früher jeden Zeugen eingelullt hatte, „gehört mir die Hütte bereits. Es ist also überflüssig, sie mir erneut anzupreisen.“

Wie sämtliche Angehörige der Damenwelt schmolz die Maklerin schier dahin. Ihre Wimpern klimperten und sie legte mir eine Hand auf den Arm. Ich behielt das charmante Grinsen bei, obwohl jede Faser in mir danach schrie, die unerwünschten Gliedmaßen wie ein lästiges Insekt fortzuwischen. Die Berührung schien durch den Stoff zu brennen, löste ein unerträgliches Jucken aus. Ich hatte es noch nie besonders gemocht von Fremden angefasst zu werden, aber seit der Schießerei war eine regelrechte Manie daraus geworden. Wenn ich das Anfassen initiierte, gab es keine Probleme, doch anders herum ...

Nun streichelte sie mich wirklich, ein Gefühl, als krabbelten Ameisen über meine Haut, dabei berührten ihre Finger mit den feuerwehrrot lackierten Nägeln nur die Lederjacke, die ich trug.

„Natürlich, Herr Berger. Das ist mir bewusst. Es gehört jedoch zum Service unserer Agentur, den Kunden zufriedenzustellen - in jeder Hinsicht.“

Der Blick hinunter zu meinem Schritt war unübersehbar und mein Geduldsfaden spannte sich prekär. Angestrengt weiterlächelnd, ergriff ich die mich belästigende Hand und hielt sie einen Moment fest.

„Das ist beruhigend zu wissen, Frau Marquardt. Ich werde bestimmt darauf zurückkommen, wenn die Hütte hier über mir zusammenkracht.“

‚Und die Hölle gefriert.‘

Kurz entgleisten ihr die Gesichtszüge, doch sofort rutschte die professionelle Maske wieder darüber, was ich erleichtert zur Kenntnis nahm. Keine Ahnung, was passiert wäre, hätte sie nicht lockergelassen ...

„Aber selbstverständlich, Herr Berger. Nun denn, willkommen in Hallenberg. Auf Wiedersehen.“

Sie war sichtlich pikiert, versuchte jedoch, ihren Unwillen zu verbergen, und drückte mir ein Schlüsselbund in die Hand. Höflich eskortierte ich sie zur Tür und atmete tief durch, als die Rücklichter ihres protzigen Mercedes um die Kurve verschwanden.

Ich rieb mir über die pochenden Schläfen, die dem kaputten Knie heute Konkurrenz machten und massierte dann mein steifes Genick. Dabei stieß ich auf gekräuselte Locken, was sich ziemlich ungewohnt anfühlte. In den vergangenen vier Monaten war ich so beschäftigt gewesen; erst in der Reha, danach hatte ich mich mit der Innendivision rumgeschlagen und letztendlich der Umzug ...

Ich seufzte. Ein Haarschnitt hatte da nicht auf der Agenda gestanden. Normalerweise trug ich meinen dunkelbraunen Schopf millimeterkurz, um den Pflegeaufwand auf ein Minimum zu reduzieren. Jetzt war das Haar lang genug, um sich über den Ohren und im Nacken zu kringeln, was sich wirklich seltsam anfühlte und vermutlich bescheuert aussah.

Großartig! Da musste ich sobald wie möglich in den Umzugskisten nach dem Haarschneider fahnden. Im Grunde war es aber auch egal. Ich war schließlich nicht in dieses Kaff gezogen, um irgendeinen Schönheitswettbewerb zu bestreiten.

Ich schnaubte unwillig bei solch sinnfreien Überlegungen und humpelte zu meinem Explorer. Dort warteten meine kärglichen Besitztümer darauf, in ihrem neuen Heim verteilt zu werden. Für einen Moment packte mich die Einsamkeit, die in den letzten Monaten mein ständiger Begleiter war, in einem unnachgiebigen Würgegriff. Ich schwankte, stieß mit dem lädierten Knie gegen ein Rücklicht und sah Sterne. Wieder einmal biss ich die Zähne aufeinander, um nicht vor Qual zu brüllen.

Fuck! Was hatten die Ärzte gesagt? Es ginge aufwärts? Deren Definition von aufwärts sollten sie mir mal erläutern. Schweißüberströmt hangelte ich mich zur Beifahrertür, zog sie auf und sackte auf dem Sitz zusammen. Nur einen Augenblick verschnaufen, dann zusammenreißen und weitermachen. Ich hatte das Gefühl, dass mein Leben nur noch aus diesen drei Dingen bestand und ...

Ein wütendes Fauchen begrüßte mich, welches mir trotz der weißglühenden Pein in allen Nervenenden, ein aufrichtiges Lächeln entlockte und mich erfolgreich vom Trübsal blasen ablenkte.

Ich warf einen Blick zu der Transportbox auf der Rückbank, in der mein Kater Balou - offenbar sehr erbost über seine Lage - die Krallen an der Gittertür wetzte.

„Sorry, Kumpel. Aber ich hatte keine Wahl.“

Ein erneutes Zischen antwortete mir und ich lachte heiter. Sogleich fühlte ich mich um Längen besser, der Schmerz und meine vermaledeite Schwäche traten in den Hintergrund. Diese Wirkung hatte nur mein Stubentiger auf mich. Es stimmte schon, dass Tiere einen positiven Einfluss auf Kranke und Verletzte ausübten. Oder Krüppel.

Stopp! Ich war kein Behinderter und musste aufhören, mich selbst in eine verfluchte Schublade zu stecken. Ja, ich konnte momentan kaum laufen, würde vermutlich für den Rest meines Lebens hinken, doch ich war KEIN Krüppel!

Rasch konzentrierte ich auf meinen Kater. Er war ein Fundstück bei einer ziemlich skurrilen Ermittlung gewesen, das ich geduldig aufgepäppelt hatte und mein einziger Lichtblick in den letzten Monaten. Zum Glück hatte sich eine Nachbarin um ihn gekümmert, während ich im Krankenhaus ums Überleben kämpfte. Ich fragte mich nur, wofür ich so gekämpft hatte. Job weg, Leo weg ... Knall auf Fall hatte ich alles verloren, was mir im Leben etwas bedeutete.

‚Knall auf Fall?‘, höhnte meine innere Stimme. ‚Du hast dich blind und taub gestellt, die Anzeichen absichtlich ignoriert. Du allein bist schuld an deiner Misere!‘

Das stimmte leider. Über jedes auftauchende Alarmzeichen hatte ich gekonnt hinweggesehen, nicht wahrhaben wollen, was direkt vor meiner Nase abging, dass ich nur ein Spielball gewesen war. Und heute zahlte ich den Preis für meine fatale Schwäche namens Leo.

Entschlossen wandte ich meine ganze Aufmerksamkeit dem schnaufenden Kater zu, ehe mich die Finsternis der Erinnerungen erstickte.

„Okay Kumpel. Ich weiß, du bist sauer, aber es gab nur diese Möglichkeit. Glaub mir, hätte ich dich rausgeholt, als die Maklerin noch da war, wären wir die nie wieder losgeworden. Ich musste sie ja praktisch gewaltsam durch die Tür hinausschieben. Doch jetzt hast du freie Bahn. Bereit, dein neues Zuhause zu erobern?“, fragte ich und quälte mich aus dem Sitz.

Ich öffnete die hintere Tür, befreite die Box aus dem Sicherheitsgurt. Mochten die anderen mich belächeln, ich liebte das Fellbündel einfach abgöttisch. Ich war mitten in einer Überwachung während der Ermittlungen in einem Fall von Leichendiebstahl, als ich ein klägliches Miauen aus einer nahestehenden Mülltonne gehört hatte. Das arme Ding war halb tot gewesen, ein erbärmlicher Anblick.

Mein Partner hatte damals gemeint, dass die Mühe nicht lohnte, das Vieh würde sowieso abkratzen. Die Kaltschnäuzigkeit hatte mich verblüfft, war jedoch leider rasch wieder vergessen, als die Zeit voranschritt.

Der winzige Kater erholte sich schleichend, doch stetig und ich taufte ihn auf den Namen Balou. Kitschig, aber ich mochte das ‚Dschungelbuch‘ und den gutmütigen Bären darin eben.

Und jetzt war die Samtpfote das Einzige aus meinem alten Leben, das es wert war, zu behalten. Das Einzige, das mich zum Weitermachen zwang. Nie könnte ich meinen Stubentiger in ein Tierheim abschieben.

Nun stand mir jedoch die monumentale Aufgabe bevor, die Transportbox ins Haus zu bringen. Mir entwich ein gequältes Keuchen, als das eigentlich unerhebliche Gewicht von Box und Katze meiner heilenden Schulter einen heftigen Protest entlockte.

Einem Feuersturm gleich raste der Schmerz durch jede Nervenbahn und mein Arm wackelte. Fast hätte ich das verdammte Teil fallen gelassen. Hölle noch mal! Wenn ich es nicht einmal schaffte, eine blöde Katzentransportbox die paar Schritte zu tragen, wie sollte ich da alles andere schaffen ... Vornehmlich die Sanierung dieser Bruchbude, die ich dummerweise gekauft hatte.

‚Okay Lukas. Du wuppst das doch mit links. Seit wann gibst du denn so schnell auf? Los, streng dich an!‘

Na dann.

Balou miaute kläglich, als er unsanft durchgeschüttelt wurde. Ich zwang mich, die schreienden Synapsen meines lädierten Körpers zu ignorieren, und konzentrierte mich darauf, den Weg bis zur Haustür unfallfrei zurückzulegen. Es dauerte länger, als mir lieb war und ich blieb völlig erledigt im offenen Türrahmen stehen, stützte mich mit der freien Hand ab. Schnaufend wie eine Dampflok überlegte ich, ob ich die restlichen Kartons für heute im Auto lassen sollte.

Schweiß tropfte von meiner Stirn, floss mir das Rückgrat hinab, sammelte sich im Hosenbund. Entschlossen griff ich die Box fester und humpelte mit angehaltenem Atem in den Flur. Wohltuende Wärme umfing mich. Zumindest musste ich mich nicht auch noch mit einer defekten Heizung herumschlagen. Es war zwar schon Mitte März, doch es würde mich nicht wundern, wenn Ostern hier im Sauerland dieses Jahr im Schnee versank.

Mir war das so oder so egal. Energisch drückte ich die schwere Haustür zu, stellte die Box auf den Boden und öffnete das Gitter. Aufmerksam beobachtete ich, wie der Kater vorsichtig eine Pfote aus dem Schutz seines kurzfristigen Heims steckte, um das neue Zuhause zu erkunden. Balou machte sich gar nicht erst die Mühe, die Entdeckungstour zu beginnen. Er drehte sich einmal um die eigene Achse, strich dann um meine Beine und schien verächtlich zu schnauben.

Ich lachte trotz meiner Schmerzen.

„Ich weiß, es ist kein Palast und deiner nicht würdig, aber das wird es sein, sobald ich damit fertig bin. Du wirst schon sehen.“

Mein Kater sah mich an, als hätte ich ein paar Schrauben locker und ich musste gestehen, der Gedanke war mir ebenfalls ein- oder zweimal gekommen. Und da ich bezweifelte, dass das Haus noch irgendwann in diesem Jahrhundert bewohnbar war, wenn ich weiter nur jammerte und mich nicht zusammenriss, holte ich jetzt mal die restlichen Kartons. Es wurde nichts mehr aufgeschoben.

Zähneknirschend öffnete ich die Haustür wieder, humpelte die drei Meter zum Auto und begann die Kisten auszuräumen.

Zwei Stunden später musste ich allerdings grollend meine Niederlage eingestehen. Ein gesunder Mann in meinem Alter - verdammt, ich war gerade zweiunddreißig! - hätte für diese läppische Aufgabe vermutlich dreißig Minuten gebraucht.

Tja, das durfte ich knicken. Ich würde nie mehr so fit sein wie vorher. Bevor zwei Kugeln nicht nur meine Nerven zerschossen, sondern meine gesamte Existenz.

Zumindest stapelten sich nun alle Umzugskisten in der riesigen Diele am Treppenabsatz. Einige davon in den ersten Stock zu wuchten, überstieg meine lächerlich geringe Kraft jedoch um ein Tausendfaches.

Die Schulter brannte wie Feuer und das Knie war so steif, dass ich froh sein konnte, überhaupt noch laufen zu können. Humpeln. Oder kriechen. Fuck. Anfang dreißig und ich war ein Invalide.

Mich überrollte das brennende Gefühl, erneut angeschossen worden zu sein, der reißende Schmerz so allgegenwärtig, dass mir kurz die Sinne schwanden. Der Schweiß rann mittlerweile sturzbachartig an mir hinunter und ich wünschte mir nichts sehnlicher, als keinen Muskel mehr rühren zu müssen.

Hm. Morgen kam der Umzugswagen. Ich würde einfach den Möbelpackern ein großzügiges Trinkgeld überlassen, damit sie mir die für oben gedachten Kisten raufschleppten. Okay, das klang nach einem vernünftigen Plan.

Jetzt musste ich mich aber noch um das leibliche Wohl meines Katers kümmern. Danach die Luftmatratze im Wohnzimmer aufpumpen und mich endlich aufs Ohr hauen, denn eine Tour hinauf ins Obergeschoss war heute definitiv nicht mehr drin.

Zuerst deponierte ich das Katzenklo in einer Nische zwischen Wand und dem Treppengeländer - ein Platz, den Balou hoffentlich rasch akzeptierte. Dann schlurfte ich in die Küche, den Karton mit den Katzenutensilien unter den Arm geklemmt. Ich ließ ihn auf den großen Eichentisch fallen, öffnete ihn und stellte Balous Futter- und Wassernapf auf den Fußboden.

Den Wasserhahn des Spülbeckens musste ich fast eine Viertelstunde voll aufgedreht laufen lassen, ehe das Nass mir klar genug erschien, und aufhörte wie eine Kloake zu stinken. Beruhigt, dass ich meinen Kater damit nicht mehr vergiftete, füllte ich eine der Schüsseln randvoll. Eine Dose Katzenfutter war mit dem beigelegten Dosenöffner schnell offen und fand den Weg in die zweite Schale.

Sobald meine Samtpfote zufrieden maunzte, schlurfte ich in den Flur zu meinem Rucksack, kramte eine Wasserflasche hervor und stieß nach einer Runde mühseligem Suchen auch auf die verfickten Schmerztabletten. Eigentlich musste ich längst anfangen, die Dosis zu reduzieren, aber ich schob es vor mir her.

Ich drückte drei der winzigen weißen Tabletten aus dem Blister und warf sie mir in den Mund, dazu stürzte ich das ganze Wasser aus der Flasche hinunter. Die Pillen knockten mich immer ziemlich schnell aus, deshalb beeilte ich mich, die Matratze auszurollen und die elektrische Pumpe anzustellen.

Während diese leise surrte und mein Schlafplatz Gestalt annahm, suchte ich die Kiste mit der Aufschrift ‚Bett‘ und zog nacheinander Laken, Kissen und Decken hinaus. Der Einfachheit halber hatte ich sie komplett bezogen in den Karton gestopft. Sie rochen zwar etwas muffig, wenn die Medikamente jedoch gleich anschlugen, kriegte ich sowieso nichts mehr mit, also war es mir schnurz.

Jetzt kam der schwierige Teil. Ausziehen. Zähneknirschend quälte ich mich aus den Klamotten. Die Jeans und meine Boots stellten ein fast unüberwindbares Hindernis dar, aber schließlich hatte ich es geschafft, trug nur noch T-Shirt und Boxershorts. Die klebten mir am Körper, doch um frische Wäsche anzuziehen, war ich zu fertig.

Die Pumpe hatte mittlerweile ihre Arbeit vortrefflich erledigt und ich baute mir mit dem Bettzeug ein behagliches Nest. Seufzend sank ich auf die vorläufige Schlafstatt, klappte die Lider zu und wartete auf die unvermeidliche Lethargie, wenn die Wirkung der Tabletten einsetzte. Unvermeidbar krochen die Erinnerungen wieder hoch, folterten mich unerbittlich, schafften es jedoch Gott sei Dank nicht, sich festzusetzen.

Die Pillen knockten mich rechtzeitig aus und ich schlief ein. In meinen wirren Träumen hingegen kehrten die Ereignisse aus der Vergangenheit zurück, attackierten mich und füllten mein Bewusstsein mit Visionen von dröhnenden Schüssen, wütenden Schreien, dem durchdringenden Geruch von Blut. Bildern von Pein und Angst.

Von Verrat.

Unruhig wand ich mich hin und her, gefangen in meiner ganz persönlichen Hölle. Ich bekam nicht mit, wie mein Stubentiger, der sein neues Heim erforschte, auf den Stufen der Treppe erstarrte, dann mit einem Satz über die Brüstung sprang und zu mir auf die Matratze flitzte. Dabei machte Balou einen Buckel und fauchte bedrohlich ins Dunkel.

Liebe mich ... unendlich

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