Читать книгу Angie - Danian Stone - Страница 4

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Kapitel 1 Ein Schwein namens Donald

Angie schloss die Augen und öffnete sie dann wieder.

Nichts hatte sich verändert, stellte sie gelangweilt fest. Doch etwas anderes, hatte sie auch nicht erwartet.

Das spärlich einfallende Licht der Nachmittagssonne, das durch die schmalen Schlitze, der hinuntergelassenen Rollos schien, tauchte den Raum immer noch in diesen trist wirkenden Farbton, der ohne Frage zur Stimmung im Zimmer passte. Wenngleich dieser rein zufällig entstandene Grauschleier, mit einem einfachen öffnen der Rollos, aus der Welt zu schaffen gewesen wäre, was hingegen an der Stimmung nichts verändert hätte.

Doch das die Rollos heruntergelassen waren, hatte seinen Grund. Ebenso dass die Deckenlampen abgeschaltet waren. Es war schließlich Hochsommer und die Sonne brannte von außen auf die Rollos, während die Lampen nur zusätzliche Wärme erzeugt hätten. Beides hätte die kaum zu ertragende Temperatur im Zimmer, noch unerträglicher gemacht.

Sechs Leute saßen hier in einem Stuhlkreis. Ihre Blicke wanderten unauffällig über den Boden und hin und wieder, zu den langen Fensterfronten, wo die Sonne zwischen den schmalen Schlitzen hindurch schien und das wenige Licht im Raum versprühte, das diesen Grauschleier erschuf. Irgendwo im Raum brummte eine Fliege. Mal etwas näher, mal etwas weiter entfernt. Dann über den Köpfen der Anwesenden, und dann war sie wieder verschwunden.

Angie saß mit dem Rücken zur Fensterfront. Auf ihrem Nacken konnte sie die wärmenden Sonnenstrahlen fühlen, die durch die Schlitze des Rollos brannten. Nicht gerade der beste Platz im Raum. Doch von hier aus konnte sie mit ihren Augen, die Blicke der Anwesenden verfolgen, wenn sie unauffällig an ihr vorbei, auf die Fenster in ihrem Rücken blickten.

Jeder im Raum wäre lieber draußen, in der brütenden Sonne, herumgelaufen, anstatt hier zu sitzen und sich in diesem Stuhlkreis, in seiner Seele herumpfuschen zu lassen.

Zumindest sah es Angie so. Dabei lauschte sie kurz.

Die Fliege hatte wohl irgendwo einen Platz gefunden, denn das Brummen war immer noch verschwunden.

Dann durchbrach plötzlich Dr. Schwarz die Stille. Die nur dadurch entstanden war, weil jeder der Anwesenden, gedanklich eine Frage zu ergründen versuchte, die Angie nicht einmal richtig mitbekommen hatte.

Dr. Schwarz war schlank und groß. Fast zwei Meter hoch. Der Stuhl auf dem er saß wirkte unscheinbar und klein, unter seinem Gesäß. Schwarz war Mitte vierzig und wirkte für sein Alter noch erschreckend jung. Angie starrte auf seine Lippen, als wollte sie seine Worte nicht nur hören, sondern auch sehen. Vielleicht als Entschuldigung dafür, dass sie seit geraumer Zeit komplett den Anschluss an diese tiefgreifende Diskussion verloren hatte.

Endlich bewegten sich seine Lippen.

»Wir sollten versuchen diesen Punkt etwas einzugrenzen«, sagte er und blickte dabei nacheinander an den Anwesenden entlang.

Vielleicht hatte er sich erhofft, dass sein Vorschlag endlich etwas Bewegung in die Runde bringen würde. Doch ein Blick, in die Gesichter der Anwesenden genügte, um zu erkennen, dass diese Diskussion, immer mehr zum Stillstand kam.

»Welchen Punkt?«, hakte Peter Mengk schließlich nach. Er saß links neben Dr. Schwarz und wirkte irgendwie irritiert. Vielleicht weil auch er den Anschluss verpasst hatte. Oder weil er einfach das Bedürfnis verspürte, sich zu Wort melden zu müssen.

Mengk war dick. Übermäßig dick. Sein T-Shirt hing unvorteilhaft an ihm hinunter und seine Bermudahosen, gaben viel zu viel, von seinen hässlich weißen Beinen preis.

»Die Frage, die wir zu erörtern versuchen.«, die Stimme von Dr. Schwarz klang fast ein wenig süffisant. So als könnte er nicht glauben, das ihm niemand folgen konnte.

Angie schweifte wieder ab. Ihr Blick fiel hinüber zur Tür, über der eine große Runde Uhr hing.

Genau 14:30 Uhr zeigte sie an.

Selbsthilfegruppe, dachte Angie für sich und versuchte sich irgendwie abzulenken. Doch in diesem tristen Raum, gab es nichts, das sie auf andere Gedanken bringen würde. Vielleicht einmal abgesehen von der Uhr, über der Tür.

14:31 Uhr.

Immer noch nicht 16:00 Uhr. Dieser Scheiß hier würde sich noch endlos dahin ziehen.

Angie schaute unauffällig an den Teilnehmern entlang, von denen keiner ein wirkliches Problem besaß und Angie hatte für diese Erkenntnis gerade mal vier dieser Sitzungen gebraucht. Doch ihre Meinung spielte hier keine Rolle.

Da gab es zum Beispiel Susann. Sie war schlank und ihre großen Titten hatte sie in ein derart enges Top gequetscht, dass man fast Mitleid mit ihren Brüsten haben musste. Doch Susann wusste, dass ihre Oberweite, so zu ihrem auffälligsten Merkmal wurde. Ihr Gesicht war zart und besaß etwas Anmutiges. Wenn sie lächelte, dann entstanden zwei kleine Grübchen auf ihren Wangen und ihr Gesicht fing förmlich an zu leuchten.

Naja, das Leuchten lag vielleicht auch daran, das sie viel zu viel Schminke in ihr Gesicht geschmiert hatte.

Ihr Äußeres erinnerte stark an eine Nutte und wenn man sie darauf ansprach, dann bekam man die Geschichte von ihrem Vater zu hören, der Türsteher in einem Bordell gewesen war. Bis man ihn erschossen hatte.

In Wahrheit, hatte Susann nicht wirklich ein Problem. Sie war eine Schlampe und fiel immer wieder auf die falschen Kerle rein. Eine schnelle Nummer, ein kurzer Fick und dann waren die Kerle wieder weg. Ihr ganzes Problem wäre vermutlich mit einem weiteren Top und etwas weniger Schminke behoben gewesen. Doch stattdessen schien es sie anzutörnen, wenn sie hier davon erzählen konnte und den Kerlen im Raum dann jedes Mal der Sabber aus dem Mund lief.

Neben ihr saß Thomas. Eigentlich ein sympathischer Kerl, mit seinen blauen Augen, dem hellen Anzug und den braunen Lederschuhen.

Ein Managertyp auf Erfolgskurs.

Doch die Art, wie er sich bewegte, erschreckte Angie. Sie erinnerte sie an Jemanden, den sie schon so lange zu vergessen versuchte und doch konnte sie sich nicht erinnern, an wen.

Thomas war schüchtern und vollkommen weltfremd. Seine Meinung zu alltäglichen Dingen des Lebens, widersprach jeder Vernunft. Ging es ums Essen, dann bevorzugte er indonesisch oder afrikanisch. Bei den Getränken dagegen etwas fruchtiges. Wenn er dann beides zu sich nahm, musste er sich übergeben und stellte sich dabei noch die Frage wieso?

Angie hätte so weitermachen können. Einmal den Stuhlkreis entlang. Keiner von den Teilnehmern hatte ein wirkliches Problem. Sie alle waren einfach nur unfähig, ihr Leben zu bestreiten und suhlten sich dabei, in dem Mitleid, das man ihnen hier, in Form von Verständnis, entgegen brachte und das auch noch aus dem Mund eines Doktors kam. Vielleicht war das der aufbauende Kick, den diese Diskussionen bringen sollte.

Angie versuchte jedenfalls, sich diesem zu entziehen und bisher war ihr dies auch erfolgreich gelungen.

Sie war dreiunddreißig und man hatte sie vor die Wahl gestellt. Entweder hierher oder Sozialstunden. Das alles nur, weil sie ihrem Vorgesetzten eine geknallt hatte.

Das Arschloch hatte es verdient gehabt und die beiden Chefs davor ebenso.

Naja wie auch immer. Die Frau vom Arbeitsamt hatte das nicht so gesehen und die Anzeige ihres Vorgesetzten, hatte letztlich dazu geführt, das Angie bei Dr. Schwarz gelandet war.

Jetzt saß sie hier. Versuchte die Zeit totzuschlagen und musste dabei Menschen zuhören, die nicht ansatzweise verstanden hatten, was es bedeutete echte Probleme zu haben.

»Ich denke der Punkt ist, das jeder Mensch die Zeit bekommen sollte erwachsen zu werden, die er benötigt.«

Angie horchte auf. Benjamin Fink hatte das gesagt. Er saß links neben ihr und roch unangenehm nach Moschus. Nein, er stank danach. Schwebte in einer Wolke, die mittlerweile auch Angie eingefangen hatte. Benjamin war mittelgroß und besaß einen leichten Bauchansatz. Er war Ende dreißig und seine Frau hatte ihn sitzen gelassen. Seitdem hatte er sein Leben nicht mehr im Griff.

Dr. Schwarz brummte leise. »Wie lange benötigt denn ein Mensch überhaupt, um erwachsen zu werden?«

»Sie meinen, wieviel Zeit er benötigt, um das kindliche in sich abzulegen und zwar so, dass dabei keine seelischen Schäden entstehen?«

»Ein Leben lang!«, stellte Susann fest.

»Glauben sie denn meine Damen und Herren, das ihre Probleme bereits im jugendlichen Alter entstanden?«, fragte Dr. Schwarz nachdenklich.

Benjamin fing plötzlich neben Angie an, nervös auf seinem Stuhl hin und her zu rutschen. So als könnte er es kaum abwarten, etwas zu sagen, von dem er aber in Wahrheit, nicht wirklich überzeugt zu sein schien.

Dr. Schwarz, dem Benjamins Nervosität ebenfalls auffiel, blickte ihn mit einem Mal auffordernd an und Benjamin hielt erschrocken inne.

»Ich«, stotterte er, räusperte sich und sagte dann: »Ich habe ein Problem mit Frauen. Vielleicht liegt es daran, dass meine Mutter eine Alkoholikerin war. Wenn ich mich an sie zurück erinnere, dann sehe ich sie nur mit einem Glas in der Hand. Es ekelt mich an, wenn ich dieses Bild vor mir sehe. Ich denke, ich projiziere diese Ablehnung auf jede Frau, die mir zu nahe kommt. Aus dem Grund, hat mich auch meine Frau verlassen.«

Dr. Schwarz nickte zufrieden, während Angie plötzlich eine innere Wut in sich aufsteigen fühlte. Zum ersten Mal, seit sie hier war, fühlte sie sich dazu berufen, in die Diskussion mit einzugreifen. Dabei sträubte sich ihr inneres dagegen, während ihr Mund bereits längst das aussprach, was sie in ihrem inneren dachte.

»Deine Frau ist abgehauen weil du ein Idiot bist!«, platzte Angie verärgert heraus.

Plötzlich wurde es vollkommen still im Raum und alle Augen lagen auf Angie. Sie schaute die anderen verständnislos an. Die Wahrheit war doch, das sie nur das ausgesprochen hatte, was fast jeder hier im Raum dachte.

Benjamin fing immer wieder damit an und das, obwohl jeder längst verstanden hatte, das seine Frau nur abgehauen war, weil er seine Fehler ständig bei ihr gesucht hatte. Jeder hier im Raum hatte das in den letzten vier Sitzungen verstanden und trotzdem hatte niemand etwas gesagt, sondern jedes Mal nur mitfühlend geseufzt, wenn Benjamin am Ende seiner Ausführungen angekommen war. Aus diesem Grund konnte Angie die Bestürzung der anderen nicht verstehen und fügte noch verärgert hinzu: »Ihr weint euch hier aus, um eure eigenen Fehler von euch wegzuschieben. Du glaubst, dass deine Mutter daran schuld ist, dass deine Frau weg ist. So ein Quatsch. Sie hat deine wehleidige Tour nicht mehr ertragen. Susann lässt sich von jedem schmierigen Typen ficken, nur weil ihr Vater früher in einem Bordell arbeitete und Peter bekommt keinen hoch, weil er seinen Schwanz zwischen seinen fetten Beinen nicht finden kann. Nimm ab!«

Peter Mengk, der mit seinen Bermudahosen neben Dr. Schwarz saß, lief im Gesicht rot an.

»Ihr diskutiert darüber, wie lange ein Mensch braucht um erwachsen zu werden. Die Frage ist doch, wieviel Zeit man ihm dafür lässt. Es gibt Menschen, die bekommen dafür gerade einmal drei Wochen Zeit.«

»Ich…«, fing Peter Mengk an. Dabei schien sein Kopf zu glühen, so hochrot, wie er war. Doch Dr. Schwarz hob seinen linken Arm, vor Peters Gesicht, um ihn auszubremsen und sagte dabei: »Jeder soll hier seine Meinung äußern und nachdem Angela bisher an keiner unserer Diskussionen teilgenommen hat, wollen wir ihr ihre Meinung nicht verwehren.«

»Sie hat mich beleidigt!«, rief Peter Mengk, dessen hochroter Kopf, jetzt fast zu platzen schien.

»Ich finde die Aussage, das ich ein Idiot bin, auch nicht sehr amüsant.«, unterstützte Benjamin ihn dabei.

Dr. Schwarz nickte zustimmend und forderte Angie auf, »Vielleicht kann Angela uns ihre Feststellung genauer begründen.«

Angie schluckte.

Ihr würde plötzlich bewusst, dass sie mit ihrer spontanen Reaktion die Aufmerksamkeit im Raum auf sich gezogen hatte. Die Blicke der Anwesenden klebten an ihr, wie ein ekelhafter Schleim, der sie daran hinderte, sich aus dieser unangenehmen Situation herauszuwinden. Von Sekunde zu Sekunde, wurde ihr mehr bewusst, das man auf eine Rechtfertigung, für ihre beleidigende Aussage wartete und schließlich sagte Angie: »Ihr redet euch Probleme ein und hofft dabei, die damit verbundenen Ängste zu überwinden. Doch keiner von euch weiß, was es heißt, wirkliche Angst zu haben. Etwas durchzustehen was dich verändert.«

Niemand sagte etwas. Stattdessen schienen alle darauf zu warten, das Angie weiter redete.

Sie schluckte nur.

Dr. Schwarz, der als Leiter dieser Gruppe erkannte, das Angie sich an einem Punkt befand, an dem eine reale Chance bestand, dass sie sich öffnen würde, durchbrach die Stille im Raum, die nur von der kleinen Fliege gestört wurde, die wieder über ihren Köpfen hinweg flog.

»Vielleicht willst du uns von deiner Vergangenheit erzählen. Möglicherweise verstehen die Anderen in der Gruppe dann besser, was dich quält.«

»Mich quält nichts. Nicht mehr.«

»Du bist aggressiv, verschlossen und….«

»Ich lasse mir nur nicht alles gefallen.«, Angie wurde laut. Ihre Stimme klang verärgert.

»Also was hat dich verändert?«

Alle starrten sie an, während sie völlig unbeeindruckt die Beine übereinander schlug, die Hände um ihr linkes Knie faltete, sich räusperte und dann sagte: »Das Leben. Das Leben bestimmt darüber, wie lange wir Zeit bekommen, um erwachsen zu werden. Mit Problemen fertig werden, die…«

»Die was?«

Angie schwieg. Blickte an den Anwesenden entlang und sagte dann: »Es sind die anderen, die unser Leben bestimmen.«

»Welche Anderen?«

Angie nahm ihre linke Hand aus der Umklammerung um ihr knie und hob den Arm. »Einfach jeder, mit dem du in Kontakt kommst. Wenn dich zum Beispiel jemand schlägt, dann wirst du zukünftig versuchen, ihm aus dem Weg zu gehen. Oder du schlägst beim nächsten mal zurück. In beiden Fällen, hat dieses Erlebnis aber Einfluss auf dein weiteres Verhalten. Denn du wirst zukünftig vorsichtiger sein, wenn du mit solchen, oder ähnlichen Menschen in Kontakt kommst.«

»Okay, ich glaube ich verstehe was du meinst.«

»Was gibt es daran nicht zu verstehen?«, fluchte Angie verärgert.

»Also sollten wir uns nicht die Frage stellen, wie lange jemand braucht um erwachsen zu werden, sondern sollten vielmehr hinterfragen, in welchem Umfeld er aufwächst.«, Dr. Schwarz brummte nachdenklich.

»Solche Situationen gibt es in jedem Umfeld.«, sagte Angie währenddessen.

»Stellt sich dennoch die Frage, was in deinem Leben geschehen ist?«

Angie schüttelte genervt den Kopf, legte ihre Hand wieder um ihr Knie und verschränkte die Finger, mit ihrer rechten Hand. Dann sagte sie: »Ich war sechzehn. Meine Mutter hatte kurz zuvor einen neuen Freund aufgerissen. Phillip war sein Name und wir alle wussten, dass er aus irgendeiner dunklen Ecke kam. Seine Vergangenheit war ein Mix aus Knast, Gelegenheitsjobs und Arbeitslosigkeit. Und auch wenn es mir schwer fiel, das zuzugeben, war er ein netter Kerl, der sich mit aller Kraft um mich bemühte. Doch ich versuchte ihn stets auf Abstand zu halten. Lebte mein eigenes Leben, während meine Mutter kaum noch aus der Kiste kam. Mir war das nur recht, denn so konnte ich tun und lassen was ich wollte und der Sommer lief gerade zur Hochform auf. Die Ferien standen vor der Tür und das Leben fing gerade an Spaß zu machen. Zumindest glaubte ich das. Doch der Schein trügte und hinter den Hoffnungen und Träumen, die dieser Sommer mit sich bringen sollte, lagen finstere Schatten, denn alles sollte ganz anders werden und den Anfang, nahm es an einem sonnigen Nachmittag….

»Eine Hure! Seht nur eine Hure! Da geht sie!«, schrie der fette Kerl.

»Hey Baby, ich hab Zeit.«, dröhnte seine Stimme über die Straße. Donald Herb stand am Rand des Gehsteiges und zeigte über die kaum befahrene Fahrbahn hinweg, auf mich, wie ich auf der anderen Straßenseite, über den Gehsteig lief.

Dabei grinste er hämisch mit seinem speckigen, vor Anstrengung geröteten Gesicht und verfolgte, wie ich auf der anderen Seite entlang stolperte.

Es war später Nachmittag und so wie an den meisten Sommertagen, in jenem Jahr, schien auch an diesem, die Sonne vom Himmel herab, als wollte sie die Erde verbrennen.

Doch ich nahm es kaum war. Konzentrierte mich auf diese verdammten Schuhe und versuchte eine wenigstens einigermaßen gute Figur abzugeben.

Zum ersten Mal in meinem Leben trug ich solche hochhackigen Schuhe, in denen meine Knöchel bei jedem Schritt schmerzten, während ich damit beschäftigt war, nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Womöglich umzukippen, was diese peinliche Vorstellung vermutlich zu ihrem Höhepunkt bringen würde.

Den fetten Kerl auf der anderen Straßenseite kannte ich flüchtig.

Sein Name war Donald Herb. Er war etwa vierzig.

Einer von denen, die man nicht weiter ansah, wenn sie an einem vorbei gingen.

Donald war fett.

Unsagbar fett.

Seine Gesichtshaut ständig überzogen mit einer Schicht aus Körperschweiß und den Resten seiner letzten Mahlzeit. Seine Kleidung verdreckt und an gewissen Stellen eingerissen, was ihn aber nicht weiter zu stören schien. Er stand am unteren Ende der sozialen Leiter und in seiner Situation gab es kaum noch etwas, an dem man sich stören durfte.

Darum schauten die Menschen weg, wenn sie ihn sahen. Um nicht in die Verlegenheit zu kommen, in sein fettiges Gesicht blicken zu müssen, das ihnen unweigerlich vor Augen führte, wo die Leiter anfing!

Im Dreck!

Wer wollte dort schon leben?

Doch auch wenn ihn die Menschen, für gewöhnlich, nicht zur Kenntnis nahmen. Jetzt stand er im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit, so wie er mit dem Finger auf mich deutete. Mit seinem fetten Arsch, hin und her wedelte und er dabei die Blicke der übrigen Passanten auf uns beide zog.

Ich war sechzehn und in jenem Sommer trug ich langes, dunkelbraunes Haar. Meine Figur war schlank, so wie heute noch und an diesem Tag trug ich einen halblangen Rock, ein weißes Top. Schwarze, kniehohe Strümpfe und diese Pomps. Über meiner linken Schulter, hing ein schmaler, schwarzer Ledergurt, an dessen unterem Ende eine kleine Tasche baumelte, die ich beim Gehen mit der linken Hand leicht festhielt.

Dabei versuchte ich übermäßig viel mit meinem Hinterteil zu wackeln, was ein aufrechtes gehen, in diesen hohen Schuhen zusätzlich erschwerte.

Ich hasste diese Dinger.

Doch eine Wette war eine Wette, und Wettverlierer mussten ihre Schulden begleichen. Das war einfach eine Sache der Ehre.

Einmal die Straße hinunter und wieder hinauf!

Ohne dabei umzukippen und es musste nuttig aussehen.

Das hatte Melanie verlangt!

Das war es gewesen, was für sie und mich den Reiz an dieser Wette ausgemacht hatte, auch wenn ich nie einen Gedanken daran verschwendet hatte, dass ich es sein könnte, die dann als Nutte die Straße hinauf und hinunter stolzieren müsste.

Jetzt sah die Sache anders aus.

Ich schämte mich und versuchte ein gesundes Mittelmaß zu finden. Einen Kompromiss, der einerseits dem Niveau der Wettschuld entsprach und mir andererseits wenigstens ein Quäntchen Würde ließ!

Bis jetzt hatte auch alles gut geklappt und ein gutes Viertel meiner Schulden, hatte ich schon hinter mich gebracht.

Bis Donald Herb damit angefangen hatte, über die Straße zu brüllen. Dieser fette Kerl sollte lieber zu seinem Kiosk gehen, vor dem er für gewöhnlich herum hing, anstatt jungen Mädchen nachzubrüllen, dachte ich während, ich ihn brüllen hörte.

Er war so ekelhaft!

So abstoßend!

So fett!

Ich konnte mich nicht erinnern, dass ich jemanden kannte, der eine noch abstoßendere Wirkung auf mich hatte, als dieser Donald. Mit Ausnahme von Donalds Freund vielleicht. Dem komischen Typen, mit dem Donald Herb für gewöhnlich unterwegs war. Ein ebenso unangenehmer Zeitgenosse, wie er selbst.

Die Füße dieses Kerls, rochen so intensiv nach Schweiß, dass man es noch riechen konnte, wenn man vier Meter hinter ihm lief. Die Jugendlichen nannten ihn deshalb Stinkfuß. Natürlich wagte es niemand, das in seiner Gegenwart zu sagen, doch das war sein Spitzname.

In Wahrheit hieß er Reiner.

Reiner…..

Ach wie auch immer.

Weiter wusste ich nicht.

Die beiden waren mit Vorsicht zu genießen.

Sie hielten sich für die Größten und waren nichts weiter als kleine Versager.

Aber von solchen Typen gab es in diesem heruntergekommenen Viertel mehr als genug. Hoffnungslose Existenzen, so wie meine Freundin und ich sie nannten. Menschen, die hinter ihren Wohnungstüren dahin vegetierten und dabei noch glaubten, dass sich irgendwann etwas ändern würde.

Alles Idioten!

Melanie und ich, wir hatten uns geschworen, dem irgendwann zu entfliehen. Weg aus diesem Viertel. Weg aus dieser Stadt und vor allen Dingen, weg von meiner Mutter und ihrem Freund.

Die beiden waren einfach unerträglich.

Meine Mutter war ungerecht, und selbstsüchtig.

Egoistisch und ohne Ziel im Leben!

Nur so kannte ich sie und darum versuchte ich auch, die meiste Zeit nicht zuhause zu sein.

Mein schlimmster Alptraum war aber der Tag gewesen, an dem mein Vater ausgezogen war.

Ausgerechnet zur besten Freundin meiner Mutter, Claudia!

Eine Schlampe.

Doch als wäre das nicht schon genug gewesen, stand plötzlich Claudias Ex, Phillip vor unserer Tür und noch am selben Tag, zog er bei uns ein.

Von dem Tag an müsste ich mit einer Situation klar kommen, die ich selbst kaum verstand.

Was hatte sich meine Mutter überhaupt dabei gedacht?

Vermutlich hatte sie überhaupt nicht nachgedacht.

Hatte sich nur das Hirn heraus vögeln lassen!

Ich hatte es nicht fassen können.

Was für meine Mutter, in ihrer egoistischen Art, die Erfüllung ihrer großen Liebe war, war für mich nichts anderes, als das bittere Erwachen aus meiner Kindheit.

Das Ende meiner Jugend und die traurige Gewissheit, dass von jetzt an alles anders sein würde.

Alles hatte sich plötzlich verändert.

Mein Vater, der nur drei Straßen weiter wohnte, kannte mich kaum noch.

Wir sprachen auch nicht einmal mehr richtig miteinander.

Höchstens Ein paar belanglose Sätze!

Selbst Donald Herb schrie mir in diesem Moment, mehr entgegen, als mir mein eigener Vater zu sagen hatte, wenn wir uns denn überhaupt mal sahen.

Warum, fragte ich mich immer wieder?

Nur weil er eine neue Familie besaß. Er sich jetzt um Claudias Tochter kümmern durfte und ihr die Liebe gab, die eigentlich mir Zustand?

Warum konnte ich nicht weiterhin ein Teil seines Lebens sein, sondern wurde von ihm behandelt, als sei ich eine Fremde.

Eine flüchtige Bekannte.

Ein kurzes Hallo, wie geht’s und das noch in einem Tonfall, der sofort erkennen ließ, das es ihn eigentlich überhaupt nicht interessierte!

Mehr bedeutete ich ihm nicht mehr und das sollte auch so bleiben.

Und meine Mutter war nicht besser, denn sie hatte überhaupt nicht verstanden, wie weh sie mir mit dieser Situation getan hatte.

Für mich hatte seit dem Tag, an dem Phillip eingezogen war, ein Drahtseilakt begonnen, der mich immer weiter von meiner Mutter entfernte. Ständig war ich gezwungen gewesen, mich ihm gegenüber zu behaupten. Aber meine Mutter glaubte ihm sowieso mehr als mir und das, obwohl auch sie wusste, dass Phillips Vergangenheit voller unbeantworteter Fragen war.

Was immer er sagte, meine Mutter hielt zu ihm.

Sie war ihm hörig!

Verfallen!

Was auch immer.

Jedenfalls musste ich mich vor ihm in Acht nehmen.

Er hasste mich und was noch schlimmer war, er wusste, dass ich ihn auch hasste. Zwar ließ er sich nichts anmerken, doch ich wusste es. Phillip war so unheimlich. So geheimnisvoll. Vor seiner Vergangenheit hing ein dunkler Vorhang, hinter dem niemand nachsehen durfte, was sich dort verbarg, und wenn es jemand versuchte, dann wurde er aggressiv. Jede Frage, die einen Einblick gewährt hätte, blockte er verärgert ab.

Ich hatte es mehrfach versucht.

Mit bohrenden Fragen.

Phillip war dann jedes Mal fast wahnsinnig geworden.

Seit dem ließ ich es auf sich beruhen.

Wenn meine Mutter schon nicht daran interessiert war, warum wollte ich es dann wissen?

Nicht einmal Claudia, seine Exfrau wusste etwas darüber.

Doch das war nicht der eigentliche Grund, weshalb ich ihn hasste.

Phillip war ein Mann, der mit seiner leiblichen Tochter ebenso umsprang, wie mein Vater mit mir. Darum hasste ich ihn. Er trug mit die Schuld daran, das meine Jugend vorbei war!

Meine Kindheit den Bach hinunter gegangen war und meine Mutter, hatte es nicht einmal gemerkt.

Hatte sich nicht mal dafür interessiert!

Jetzt lief ich also hier die Straße entlang. Noch gut dreißig Meter Weg und Donald Herb brüllte immer noch lauthals zu mir hinüber.

Meine Beine schmerzten, bis zu den Kniescheiben und meine Zehen rutschten immer tiefer in diese verdammten Schuhe, die Mel, von ihrer Mutter mitgebracht hatte.

Konnte es noch schlimmer kommen?

Melanie stand am anderen Ende der Straße und ich konnte sie bis hierher grinsen sehen.

»Hey Baby! Wie viel?«, Donald Herb wackelte auf der anderen Straßenseite immer noch mit seinem fetten Arsch, hin und her. Dabei fing seine Hose an zu rutschen und er musste sie an beiden Seiten nach oben ziehen, um nicht plötzlich ohne dazustehen.

Ein Anblick, der bei weitem lächerlicher gewesen wäre, als mein Aufmarsch. Doch anstatt diesen fetten Kerl anzustarren, starrten die Passanten auf mich und schüttelten dabei verständnislos den Kopf.

Plötzlich schoss Melanie um die Ecke, hinter der sie gestanden hatte und kam auf mich zu.

Melanie hatte ein längliches Gesicht, weiche Gesichtszüge und schulterlanges, schwarzes Haar. Sie trug eine hellblaue Jeans, weiße Turnschuhe und ein hellrotes Top.

»Du fettes Arschloch!«, rief die siebzehnjährige plötzlich über die Straße und Donalds Rufe erstarben sofort.

»Hast du nichts Besseres zu tun, als kleinen Mädchen nachzubrüllen?«, Mel schrie so laut über die Straße, das Donald anfing, sich verlegen umzuschauen.

Dabei fiel ihm auf, das die Blicke der Passanten plötzlich alle nur noch auf ihm lagen und er wurde sich der Tatsache bewusst, das sein Scherz nicht den Erfolg mit sich gebracht hatte, den er sich erhofft hatte, sondern das stattdessen er vorwurfsvolle Blicke hervorrief, die man ihm jetzt entgegen brachte.

»Findest wohl keine in deinem Alter!«, Mel hob dabei den rechten Arm und zeigte ihm den Mittelfinger.

Donalds Gesichtsausdruck wurde plötzlich finster und verärgert.

Doch Mel schien das nicht weiter zu stören. Sie fühlte sich vor ihm sicher. Hier auf der Straße, wo all die Passanten herum liefen und sowieso alle Blicke auf ihnen beiden lagen, gab es nichts, was sie zu fürchten hatte.

Donald, dem dies ebenfalls bewusst war, spürte plötzlich eine Wut in sich aufstiegen, die er mit aller Gewalt unterdrückte. Jetzt konnte er nichts tun. Zu viele Augen, waren auf ihn und diese Schlampe gerichtet, doch irgendwann heute, würde er sie finden. Diese Nutte und ihre Freundin!

Ja eine Nutte!

Nichts anderes war sie.

Donald musste innerlich grinsen, während er an sie dachte und dabei seine verwaschene Cordhose hinauf zog, bis sie seinen Bauch umschloss und er sich ohne ein weiteres Wort abwendete.

Später!

Dachte er und ging.

Diese verdammten Nutten!

Melanie, die mittlerweile bei mir stand, verfolgte noch, wie Donald an diesem warmen Sommer Nachmittag, um die Ecke verschwand und mit ihm die seltsamen Blicke der Passanten. Niemand schaute mehr zu uns hinüber, während wir am Straßenrand standen und immer noch ängstlich in die Richtung blickten, wo Donald Herb verschwunden war.

So als befürchteten wir, das er zurück kommen würde.

Doch er würde nicht zurückkommen.

Wir wussten es beide.

»Es tut mir Leid!«, sagte Mel und ich fiel ihr mit den wackligen Schuhen fast in die Arme. Dabei misslang Melanies Versuch, mich aufzufangen und aufzurichten, weil ich über meine eigenen Füße stolperte, die vor Schmerz fast taub waren und wir fielen beide auf den Gehweg.

Polternd landeten wir vor der Hauswand und fingen an zu lachen.

»Die Klamotten gehen ja noch, aber diese verdammten Schuhe bringen mich um! Wie kann deine Mutter damit laufen?«, rief ich dabei verärgert.

»Sie zieht die Dinger eigentlich nie an.«, lachte Melanie.

»Na prima!«, wieder lachten wir und die Passanten blickten zu uns hinab.

Manche schüttelten den Kopf, andere gingen ohne eine Reaktion weiter. Melanie und ich störten weder die einen noch die anderen.

Nachdem wir uns wieder beruhigt hatten, verließen wir den Platz vor der Hauswand und zogen uns an unseren Lieblingsplatz zurück.

Den großen Mülltonnen hinter dem Einkaufsmarkt.

Zuvor kauften wir uns jeder noch ein Eis.

Dann setzten wir uns auf die großen, silbernen Container und genossen die Wärme, die von dem in der Sonne aufgewärmten Blech ausging. Von hier aus konnte man die lange Zufahrt zum Einkaufsmarkt, bis vor zur Straße einsehen. Dabei beobachten, wie viele Autos auf den Parkplatz vor den Markt fuhren und wie die Kunden in den Markt rasten. Gleichzeitig hatte man von hier aus einen herrlichen Blick auf die rückwärtigen Höfe, der angrenzenden Häuser, in denen viele Freunde von uns wohnten. Fast in jedem Hof waren wir schon gewesen und keiner wäre es wert gewesen, sich wirklich daran zurück zu erinnern. Die Häuser waren alt, verkommen und die dunklen Steineinfassungen der Höfe halb verfallen. Außerdem gab es dort im Moment nichts zu sehen.

In den Hinterhöfen herrschte absolute Stille.

Jeder versuchte irgendwie der Sonne zu entkommen und aus diesem Grund, verließen die Erwachsenen ihre Häuser im Moment nur, wenn es sich nicht vermeiden ließ. Darum war es hier, bei den Mülltonnen, so schön ruhig und an diesen heißen Tagen, unser Lieblingsplatz. Auch wenn er sich, zu unserem Leidwesen, bei den Jugendlichen immer größerer Beliebtheit erfreute.

Es war unser Platz.

Melanie und ich hatten ihn entdeckt.

Ich besuchte die letzte Klasse, einer langen, für mich fast unendlich scheinenden Realschuletappe. Eine Ehrenrunde hatte ich gedreht, und so wie es aussah schaffte ich im nächsten Jahr meinen Abschluss. Vermutlich betete meine Mutter jede Nacht darum, dass ich trotz meiner vielen Fehltage, den Abschluss machen würde und wenigstens dieses Martyrium ein Ende fand.

Melanie war schon ein Jahr weiter, hatte letztes Jahr die Schule mit dem Abschluss verlassen. Eine Lehre begonnen, die sie aber vor einigen Wochen abgebrochen hatte. Die unzähligen Streitereien und Schikanen ihres Ausbilders, hatten sie an einen Punkt getrieben, an dem sie ihm mitten im Laden eine geknallt hatte, worauf ihr fristlos gekündigt wurde.

Was soll’s!

Verkäuferin wollte sie sowieso nicht lernen. Alten Weibern, bis ans Ende ihrer Tage, in ihre BH‘s helfen, war nicht gerade die Erfüllung ihres Lebens gewesen und weit entfernt von den Träumen einer siebzehnjährigen.

Jetzt war sie erst mal wieder auf der Suche. Hatte viel Zeit und würde den ganzen Sommer über mit mir abhängen.

Schließlich standen die Sommerferien an.

Nach einer Weile des Schweigens sagte ich: »Wenn wir noch mal wetten, dann laufe ich nicht wieder als Nutte rum!«

Dabei knabberte ich an meinem Eis herum.

»War doch lustig!«, lachte Mel.

»Nimm dich lieber vor Donald Herb in acht.«, warnte ich sie und schob dabei ein großes, abgebissenes Stück des Schokoladenrandes, mit der linken Hand in den Mund. »Hast du seinen Gesichtsausdruck gesehen, als du ihm zugerufen hast?«

»Er ist ein Arschloch.«

»Ein hirnloses Arschloch sogar, aber genau das macht ihn so gefährlich!«

Melanie nickte und war sich durchaus der Gefahr bewusst, die sie mit ihrer Schreierei herauf beschworen hatte. Aber es war ihr egal.

Schließlich ging es um ihre Freundin.

Die einzige Person, der sie grenzenlos vertraute und der sie alles erzählte.

Donald sollte sich gefälligst in Acht nehmen!

Angeblich war er früher mal ein echter Schläger gewesen, doch die Zeiten waren wohl lange vorbei. Mit seinem Schmierbauch und seinem abstoßenden Äußeren, konnte er höchstens noch alte Menschen und kleine Kinder einschüchtern.

»Wie wäre es mit einer neuen Wette?«, fragte sie mich schließlich.

Ich warf den abgenagten Eisstiel achtlos auf den Boden und schaute dabei zu, wie er im Dreck landete. Dann sagte ich: »Um was wetten wir jetzt?«

»Wir zählen wieder Autos!«

»Ich setz mich hier nicht wieder hin und zähle die Autos, um darauf zu wetten, das wievielte ein rotes ist!«, rief ich gelangweilt. »Beim letzten Versuch durfte ich mit Pomps über die Straße laufen.«

Melanie lachte wieder. »War aber echt lustig.«

»Hör auf!«, ich gab ihr einen freundschaftlichen Stoß in die Seite. »So beschissen habe ich mich noch nie gefühlt!«

Vorne an der Straße hörte man das abrupte Bremsen eines Autos, gefolgt von einem schrillen Reifenquietschen und dann wurde gehupt. Vermutlich war wieder jemand vom Supermarkt Parkplatz, in die Hauptstraße eingebogen, ohne die Vorfahrt zu beachten.

Ich verfolgte es nur beiläufig. Gedanken versunken schaute ich auf die Rücklichter eines Autos, das halb in der Straße stand und halb in der Ausfahrt.

Am liebsten wäre ich jetzt abgehauen!

Weg von dieser Mülltonne und raus aus der Stadt.

Mit Melanie natürlich!

Mit ihr und ihren Ideen, die verrückt genug waren, um sich durchzuschlagen.

Doch so würde es nie sein!

Melanie würde nachher wieder heimgehen und auch ich würde zu späterer Stunde in meinem Zimmer sitzen und über all das nachdenken, was ich heute hätte machen können und von dem ich nichts unternommen hatte. Mein Leben war irgendwie wie eine zäh dahin fließende Masse. Dick und träge und man konnte schon vorher sehen, wohin sie floss.

Und sollte sie aus der Bahn gleiten, war genug Zeit, sie zurück zu drücken. In die richtige Spur und zwar von denen, die ihren weiteren Verlauf bestimmten. Menschen, wie meine Mutter, Phillip….

Wäre doch bloß auch Melanie dabei, dann wüsste ich wenigstens, dass ich irgendwann, an einem halbwegs vernünftigen Ziel ankommen würde.

Melanie ging es da schon besser. Ihre Mutter ließ sie machen, was sie wollte. Gab ihr alle Freiheiten und akzeptierte, was sie tat, auch wenn es nicht immer richtig war.

»Der Supermarkt macht zu!«, hörte ich sie plötzlich sagen und kehrte aus meinen Gedanken zurück, in die Realität.

»Schon so spät?«, fragte ich abwesend.

»Ich hol schnell noch was!«, Melanie sprang von dem Container und rannte den Gang vor. Um die Ecke, wo sie aus meinem Blickfeld verschwand.

Nach einer Weile kam sie mit einer Tüte Chips zurück.

Dazu hatte sie eine Flasche Cola gekauft.

Beides stellte sie auf den oberen Rand des Containers und krabbelte dann selbst wieder hinauf. Wir öffneten die Tüte und die Flasche und beobachteten dabei die Menschen, die nach und nach ihre Einkäufe zu ihren Autos brachten.

Manche von ihnen kamen sogar hierher, um sich der Verpackungen zu entledigen, die sie schon auf dem Parkplatz von ihren Einkäufen abgerissen hatten.

Kisten von Elektrogeräten, Schuhkartons und so weiter.

Dann warfen sie uns einen freundlichen Blick zu, oder schauten bewusst nicht nach oben.

Idioten eben, wie es hier viele gab.

So verging die Zeit.

Es wurde schon dunkel, als sich Melanie und ich auf den Heimweg machten.

Der Supermarkt hatte schon lange zu gemacht und nachdem Melanie mit mir auch noch die letzte, noch so kleine Unwichtigkeit besprochen hatte und es mittlerweile fast zweiundzwanzig Uhr geworden war, drängte ich darauf, endlich heim zu kommen.

Wir verließen unseren Platz auf den Mülltonnen, gingen den langen Hinterhof entlang, bis vor zur Straße, wo wir uns trennten. Melanies Wohnung lag von hier aus, in entgegen gesetzter Richtung.

Zu blöd.

So musste von hier aus, jeder für sich alleine weitergehen.

Ich hatte es dabei einfach.

Mein Häuserblock lag kaum drei Straßen weiter, in Richtung Innenstadt.

Ein angenehmer Spaziergang. Die Luft war noch warm und die Straßenlampen beleuchteten die Gehwege.

Je näher ich der Innenstadt kam, mit den breiten Fußgängerzonen, desto belebter wurde wieder der Gehweg. Die Menschen spazierten an den geschlossenen Geschäften vorbei und boten mir eine innere Sicherheit, die mich ohne Angst und in aller Ruhe, durch die Straßen schlendern ließ.

Ich wendete mich nochmals kurz um und sah weit hinten Melanie, die um die Ecke einer Häuserfront verschwand und so aus meinem Blickfeld.

Dann ging ich etwas schneller. Es war zeit nach hause zu kommen.

Melanie fühlte sich alleine auf dem Weg nach Hause.

Gerne wäre sie mit mir in die andere Richtung gegangen, doch dann wäre sie nie nach Hause gekommen.

In ihrer rechten Hand hielt sie die Schuhe, die sie sich von ihrer Mutter ausgeborgt hatte und ließ sie mit jedem Schritt vor und zurück schwingen. Während sie in der anderen Hand, die Tasche trug, die ich getragen hatte.

Tragen musste.

Schließlich hatte ich die Wette verloren.

Bei dem Gedanken an diese Wette, musste sie schmunzeln. Sie entsprach genau dem Blödsinn, den wir beide gerne auslebten und warum auch nicht?

Wir waren beide jung und voller Hoffnungen auf ein besseres Leben.

Die Straße wurde hier etwas enger und die großen Lampen warfen kaum noch Licht in diese Verengung, die auf beiden Seiten von Hausvorbauten begrenzt wurde.

Plötzlich zuckte Melanie zusammen.

Eine Hand legte sich auf ihre linke Schulter und hielt sie unsanft fest.

Melanie drehte sich um und schaute in das Gesicht von Donald Herb.

Sein alkoholisierter Atem schlug ihr entgegen, wie ein böser Dunst, der auf sie zuflog und sich in ihrer Nase festbiss.

»Wie geht’s denn so?«, fragte er spöttisch und packte das Mädchen so fest am Oberarm, dass Melanie schmerzerfüllt ihr Gesicht verzog. Gelähmt vor Angst, starrte sie ihn an und versuchte den Schmerz zu unterdrücken, um ihm nicht die Genugtuung zu geben, dass er ihr wehtat.

Donald zog an ihrem Arm, drückte sie nach hinten, wo eine Tür aufflog und er sie mit einem brutalen Ruck, in einen Hausflur stieß.

Melanie war sprachlos. Unfähig auch nur ein Wort zu sagen. Der Lichtschalter klackte, die Lampe flammte auf. Melanie blinzelte und sah neben Donald seinen Freund Reiner stehen. Der Geruch seiner Füße zog über den Boden hinweg, auf den Melanie gefallen war und stieg langsam in ihre Nase. Seine grinsende Fratze starrte sie an, als wollte er sich jeden Moment auf sie stürzten.

Melanie sah die Schuhe, die sie in der Hand getragen hatte, vorne im Eingang liegen und die Tasche, war direkt vor Reiners Füße gefallen.

Angeekelt erhob sie sich und drückte sich mit dem Rücken gegen die Wand.

»Gar keine so große Klappe wie heute Mittag!«, fauchte Donald sie an.

»Was wollen sie?«, stotterte Melanie, die langsam wieder ihre Sprache fand.

»Nur mit dir reden«, wimmerte Don, der Melanies ängstlichen Unterton in ihrer Stimme bemerkt hatte.

»Lassen sie uns einfach in ruhe.«, verlangte Melanie und schluckte.

»Das will ich aber nicht!«, wimmerte Donald weiter und seine alkoholisierte Stimme klang dabei übertrieben hoch. Gespielt hysterisch.

»Sie haben meine Freundin erniedrigt!«

»Erniedrigt!«, rief Donald laut. Seine Stimme hatte plötzlich jeden Anflug von Verspieltheit verlosen. Er schaute dabei zu seinem Freund, der über sein schmales Gesicht grinste und und sich sein fettiges Haar mit der Hand zurück strich.

»Wie könnte man zwei Schlampen wie euch erniedrigen?«, fragte Donald Melanie.

Sie sah ihn nur schweigend an.

»Na wie denn?«, wiederholte er seine Frage und sein Alkohol getränkter Atem, zog direkt in Melanies Nase.

»Ich weiß es nicht!«, versuchte sie sich zu verteidigen. Während ihre Stimme zitterte und ihr Puls raste.

»Ihr seid kleine Schlampen! Mehr nicht. Ihr seid schon ganz unten!«, dabei fuhr er ihr, mit seiner speckigen Hand über die Wange, so dass Melanie anfing zu weinen.

Als er ihre Tränen sah, hielt er inne und sein speckiges Gesicht fing an zu Grinsen. Es schien ihm zu gefallen, das Melanie vor Angst zusammenbrach. Doch dann verschwand sein Grinsen und mit einem Mal, holte er aus und schlug ihr ins Gesicht, so dass sie wieder zu Boden fiel.

»Sieh nur Reiner! Sie ist ganz unten!«, rief er dabei und Reiner trank einen Schluck, aus einer Flasche, die er hinter seinem Rücken versteckt gehalten hatte und die er erst jetzt wieder hervor holte. Er nahm einen langen Schluck und gab die Flasche dann an Donald, der ebenfalls trank.

Den Rest des Inhaltes, kippte er über Melanie aus.

Der Geruch von Alkohol war plötzlich überall und sie spürte, wie ihre Angst umschlug in Panik. Am liebsten hätte sie geschrien. Doch Donald hätte vermutlich die Scheiße aus ihr heraus geprügelt, so wie er sich gerne ausdrückte, wenn sie dies getan hätte.

Die beiden Männer waren betrunken und es schien ihr das Beste zu sein, sich einfach nur still zu verhalten. Doch Donald sah das anders. In seinem durch Alkohol gestärkten Dämmerzustand, fühlte er sich plötzlich zurückversetzt, in seine alten Tage, als er noch der König der Straße gewesen war. Damals hätte er diese kleine Nutte zertreten wie eine Ameise. Sie zerquetscht und jetzt lag sie vor ihm. Hilflos und klein, während er die Oberhand besaß. Sein Gesicht fing an zu grinsen und er fing an, auf das Mädchen einzutreten.

Immer und immer wieder.

Seine Tritte lösten in Melanie qualvolle Schmerzen aus, während sie einfach nur dalag und versuchte, sich mit Armen und Händen zu schützen. Doch er trat immer wieder auf sie ein und immer wieder an eine andere Stelle.

Melanie krümmte sich. Sie versuchte nicht zu schreien, um Donalds Zorn nicht noch weiter zu steigern.

Doch Donald war wie in Rage und trat weiter zu. Immer und immer wieder. Er trat so lange und so fest, auf das am Boden liegende Mädchen ein, bis ihr Körper fast taub war und jeder weitere Tritt die Schmerzen in ihrem Körper nicht weiter steigern konnte. Sein Lachen klang so weit entfernt und die Schmerzen in ihrem Körper fühlten sich so kalt an.

Mit einem Mal hörte sie Reiner sagen: »Komm lass gut ein!«

Seine Stimme klang ängstlich und zögernd, während Melanie regungslos auf dem Boden lag und weinte.

»Was ist los mit dir!«, fauchte Donald seinen Kumpanen an. »Hast du Angst ich trete die Kleine tot?«

»Hör auf!«, Reiner zog Donald von dem Mädchen weg. Raus aus dem Flur, hinaus auf die Straße, wo Melanie ihn immer noch herum schreien hörte. Dann fiel die Tür zu.

Von da an war es still im Hausflur.

Melanie fürchtete sich. Sie hatte Angst, dass jeden Moment die Tür wieder aufgehen könnte, doch nichts geschah. Die Stimmen der beiden Männer entfernten sich und mit einem Mal, klackte es im Hausflur und das Licht schaltete sich ab.

Melanie wollte nicht aufstehen.

Sie lag auf dem Boden, das Gesicht in ihre Hände gegraben und wartete und hoffte. Hoffte, dass Donald nicht noch mal zurückkommen würde. Sie atmete den Gestank des Alkohols ein, der sich langsam durch ihre Kleidung fraß und wartete, bis es ganz still geworden war.

Irgendwann ging das Licht wieder an und Melanie zuckte erschrocken zusammen.

Wie lange sie schon dort lag konnte sie nicht sagen, aber plötzlich fasste sie jemand am Arm an und fragte: »Was ist denn mit ihnen los?«

Melanie sah auf und blickte in das Gesicht einer älteren Frau, die in den Hausflur gekommen war.

Ihr Puls raste und ihr Herz schlug ihr bis zum Hals, dann verlor sie das Bewusstsein.

Als ich an diesem Abend in unsere Wohnung kam, ging ich, wie so oft, zuerst in die Küche.

Aus dem Schlafzimmer kam das stetig ansteigende Stöhnen meiner Mutter, die sich kurz vor ihrem sexuellen Höhepunkt zu befinden schien und dies mit ihrem Stöhnen bereits ankündigte. So als wollte sie dabei noch etwas sagen, doch mehr kam nicht aus ihrem Mund heraus.

Ich machte auf dem Absatz kehrt und ging in mein Zimmer.

Das musste ich nicht hören!

Ich schloss die Tür und schaltete den Fernseher ein, der neben meinem Bett stand. Der Ton aus dem Fernseher überlagerte die Geräusche von nebenan, auch wenn das Quietschen des Bettes immer noch zu hören war.

Warum verdammt, musste sie auch ausgerechnet mit diesem Typen ficken, fragte ich mich genervt.

Schließlich war er ein Arschloch. Er hasste mich, hasste diese Wohnung und er verabscheute meine Mutter. Eigentlich war er nur bei ihr, weil er nicht genug Geld besaß, um auf eigenen Beinen zu stehen und meine Mutter, viel zu naiv war, um das zu erkennen.

Mein Gott!

Durchfuhr es mich, während ich auf meinem Bett saß und mit dem Rücken an der Wand lehnte. Wenn eine sechzehnjährige das erkennen konnte, warum nicht eine erwachsene Frau?

Endlich wurde es ruhig.

Scheinbar hatte der Spaß seinen Höhepunkt erreicht.

Ich schaltete den Fernseher wieder ab, ohne darauf zu achten, was da überhaupt in der Glotze lief und suchte nach der Fernbedienung zu meiner kleinen Stereoanlage.

Das Einzige, das mir von meinem Vater noch geblieben war.

Die Anlage stand auf einem schmalen Regal an der Stirnseite meines Bettes. Direkt dort, wo ich für gewöhnlich mit dem Kopf schlief. Zumindest immer dann, wenn ich mit einer inneren Zufriedenheit ins Bett ging und dabei noch etwas Musik hören wollte.

Ansonsten schlief ich mit dem Kopf in die andere Richtung, als Zeichen dafür, dass sich meine Stimmung im Keller befand.

Vielleicht etwas verrückt, doch es half. Das war meine Art, mit den beschissenen Tagen in meinem Leben umzugehen. Leider gab es davon mehr als genug.

Endlich fand ich die kleine Fernbedienung, in der Kante meines Bettes, direkt zwischen Matratze und Holzgestell. Nahm sie in die Hand und richtete sie über das Bett hinweg auf die Anlage. Die Lichter an dem Gerät flackerten auf und Musik fing an den Raum zu erfüllen.

Mein Zimmer war einfach aber gemütlich.

Zwei Kiefernschränke, an der gegenüberliegenden Wand vom Bett.

Am Fenster, ein großer Schreibtisch, auf den mein Vater damals eine noch größere Arbeitsplatte gelegt hatte, weil ich einfach viel Platz benötigte.

Hier auf dieser Seite ein Bett, eine Kommode und viele Poster an den Wänden. Die Wände selbst waren alle in einem hellen pink gehalten, doch bei den vielen Postern sah man nicht mehr viel davon.

Abgerundet wurde das Ganze noch von den unzähligen Stofftieren auf den Schränken und in den Regalen. Erinnerungen an schönere Zeiten.

Eben ein typisches Jugendzimmer.

Angela Müllers kleine Welt.

Plötzlich klopfte es an der Tür und eine dumpfe Stimme fragte durch das Holz: »Angie bist du da?«

Dann ging die Tür auf und meine Mutter steckte den Kopf ins Zimmer.

»Die Musik ist an!«, sagte ich genervt. »Was denkst du, wo ich dann bin?«

»Entschuldige«, sagte meine Mutter kurz. Sie hatte ebenfalls dunkelbraunes Haar, wie ich. Hatte es sich aber kurz schneiden lassen. Sportlich sollte es aussehen, so wie sie gesagt hatte. Für mich sah sie so einfach nur alt aus.

Sportlich war anders!

Jedenfalls steckte ihr Kopf, mit der sportlichen Frisur, im Türrahmen, während sie einen rosa Bademantel trug, unter dem sie vermutlich nichts weiter an hatte. Und so wie sie den Kopf hinein steckte, hatte sie auch nicht vor, weiter ins Zimmer zu kommen.

»Wir essen gleich!«, bemerkte sie.

»Jetzt noch, ich hab eigentlich keinen Hunger.«

»Ja jetzt noch. Wir mussten ja auf die junge Dame warten.«, antwortete sie vorwurfsvoll und warf einen ausgedehnten Blick ins Zimmer, bevor sie verschwand.

Wie so oft, ließ sie dabei die Tür offen und wie immer, stand ich dann verärgert auf, schlug mit der flachen Hand gegen das Türblatt, so dass es mit einem lauten Knall zuflog. Dabei brannte meist meine Handfläche so unsäglich, dass ich mich noch mehr über meine Mutter zu ärgern begann.

Aber diesmal nicht.

Diesmal hatte die Hand, die Tür so getroffen, dass ich kaum einen Schmerz verspürte, als ich mich wieder aufs Bett setzte.

Jetzt würde es nicht mehr lange dauern, bis meine Mutter, mich in die Küche rief.

Sie würde dann mit Phillip im Bett essen, während ich alleine vor dem Küchenfenster sitzen würde und mir aus den Resten, ein paar Brote schmieren durfte. Mehr würde sie um die Uhrzeit sowieso nicht mehr auftischen und natürlich musste ich danach auch alles wegräumen.

Wie praktisch Kinder doch sein konnten!

Heute war wieder so ein Tag, an dem ich mit dem Kopf in die andere Richtung schlafen würde!

Irgendwie hatte ich es den ganzen Tag über gespürt.

Ich legte den Kopf gegen die Wand und lauschte der Musik.

Was für eine blöde Wette, dachte ich.

Dann rief meine Mutter aus der Küche.

Am nächsten Morgen traf mich die Nachricht, von Melanies angeblichem Unfall, wie ein Schock.

Melanies Mutter hatte noch vor der Schule bei uns angerufen und mir mitgeteilt, dass Melanie im Krankenhaus liege. Prellungen am ganzen Körper und im Gesicht. Dazu eine Platzwunde, über dem rechten Auge, die mit zwei Stichen genäht werden musste.

Als ich die Nachricht in mich aufnahm und Melanies Mutter den Versuch unternahm einige Geschehnisse, des gestrigen Tages bei mir zu hinterfragen, konnte ich nur noch an Donald Herb denken.

Niemand sonst wäre für diesen Überfall in Frage gekommen. Doch aus den Fragen, die mir Melanies Mutter stellte, konnte ich erkennen, dass Melanie nichts davon erzählt hatte. Vermutlich gab es dafür einen guten Grund und solange ich diesen nicht kannte, entschloss ich mich dazu, die Geschichte mit Donald Herb für mich zu behalten. Was dazu führte, das ich während des Telefonats, jede Frage, die mir Melanies Mutter stellte, geschickt zu umgehen versuchte. Doch als sie dann auflegte, konnte ich fühlen, dass sie ahnte, dass ich ihr etwas verheimlichte.

Aber ich wollte nichts sagen. Wenigstens so lange, bis ich mit Mel gesprochen hatte.

Darum versuchte ich mir äußerlich nichts anmerken zu lassen. Auch wenn ich innerlich voller Zorn und Verachtung gegen Donald Herb war.

Plötzlich bedauerte ich, dass ich Melanie gestern Abend nicht nachhause begleitet hatte.

Die Vorstellung, was sie alles durchgemacht haben musste, während dieses fette Schwein sie misshandelt hatte, löste in mir eine ganze Welle von Hass und Wut aus, die nach und nach immer mehr anstieg.

Je länger ich über das, was gestern geschehen war nachdachte, umso mehr verstand ich, wie offensichtlich es gewesen war, dass er einer von uns beiden auflauern würde. Melanie hatte ihn schließlich bloßgestellt. Eine Blamage, die ein Säuferhirn, wie Donald Herb es besaß, nicht so ohne weiteres wegstecken konnte.

Als ich den Hörer zurück in die Ladeschale gestellt hatte, versuchte ich meine Mutter davon zu überzeugen, dass ich bereits heute Vormittag ins Krankenhaus müsse.

Doch meine Mutter sprach ein klares Verbot aus!

Auch nachdem ich immer wieder versucht hatte, sie umzustimmen. Schließlich hatte ich überlegt, ob ich die Schule einfach sausen lassen sollte.

Blau machen!

Aber bei den vielen Fehltagen, die ich bereits auf meinem Konto verbuchte und der Absprache, die meine Mutter mit meinem Klassenlehrer getroffen hatte, machte ich mich doch lieber auf den Weg in die Schule.

Wenn nicht, hätte mein Klassenlehrer bei meiner Mutter angerufen und sie darüber informieren, dass ich nicht in der Schule gewesen war und dann würde meine Mutter wieder Hausarrest verhängen. Eine der drakonischen Bestrafungen, die zu meinem Wohl sein sollten und die mich dazu bewegen sollten, zukünftig überlegter und erwachsener vorzugehen.

Meine Mutter liebte solche Maßnahmen.

Bei dem Gedanken daran, könnte ich ihn schon riechen. Den muffigen Gestank der Wohnung, den ich dann wieder für mindestens eine Woche einatmen durfte.

Bäh!

Also ging ich heute lieber zur Schule

Ein langer und beschwerlicher Weg, auf dem mich hundert Gedanken quälten und ich mich immer wieder daran erinnerte, was mit meiner Freundin geschehen war. Hinzu kam mein Gewissen, das mich immer wieder davon zu überzeugen versuchte, doch lieber ins Krankenhaus zu fahren.

Schließlich ging ich an der Bushaltestelle vorbei, wo meine Entschlossenheit, in die Schule zu gehen, auf eine harte Probe gestellt wurde.

Nein!

Ich blieb fest entschlossen.

Besuchen konnte ich Melanie auch noch am Nachmittag.

Vielleicht kam sie ja dann sogar schon wieder raus!

Schließlich versuchte ich, nicht mehr an Melanie zu denken, sondern vielmehr an ihren Täter.

Was ging nur in einem Menschen wie Donald Herb vor, das er ein siebzehnjähriges Mädchen krankenhausreif schlagen musste und das, obwohl sie ihm eigentlich überhaupt nichts getan hatte. Außer das sie ihn seine eigene Medizin hatte schmecken lassen. Er hatte mir hinterher gerufen und mich auf der Straße lächerlich gemacht. Mel hatte lediglich den Spieß herum gedreht, indem sie Donald angeschnauzt hatte und plötzlich alle Passanten nicht mehr mich, sondern ihn angeschaut hatten.

War das ein Grund, ihr aufzulauern und sie zusammen zu schlagen?

Wieder war es da!

Das aufgewühlte Gefühl, und mit ihm die Vorstellung, was alles passiert sein konnte!

Ich musste fast weinen.

Plötzlich aber schweiften meine Gedanken ab. Denn mir schoss eine furchtbare Vorstellung durch den Kopf.

Was, wenn er auch hinter mir her war?

Gestern hätte er mich nicht abfangen können!

Der Weg vom Supermarkt zu mir nach Hause, war zu belebt und zu gut ausgeleuchtet.

Ein Glück für mich.

Dennoch war ich der Auslöser gewesen, der zu der ganzen Streiterei geführt hatte.

Darüber hatte ich noch überhaupt nicht nachgedacht und plötzlich ertappte ich mich dabei, wie ich einen kurzen Blick zurück über meine Schulter warf. Nur für einen kurzen Moment. Um mich zu vergewissern, dass mir niemand folgte.

Das Ganze war so verrückt!

Beruhig dich, sagte ich zu mir und ging weiter.

Die Allee entlang und direkt auf die Schule zu, die am Ende der Straße stand.

Ein altes Backsteingebäude, wie es abstoßender kaum hätte sein können.

Mit kleinen Fenstern, die sich an dem vierstöckigen Gebäude, in langen Reihen über die Hausfronten erstreckten. Darauf befand sich ein hässliches schwarzes Dach, in dem sich noch weitere Klassenräume befanden, die aber nur genutzt wurden, wenn Bedarf bestand. Angeblich gab es auf dieser Etage Probleme mit den Brandschutzbestimmungen. Ich hatte das ganze Gerede darüber nicht verstanden.

Es war mir auch ziemlich egal gewesen. Auch als es damals hieß, unser Klassensaal sollte dort oben hin verlegt werden.

Die Etage war genauso unattraktiv und abstoßend, wie alle anderen.

Die Wände voll mit Graffiti, die Treppen alt und ausgetreten. Das Geländer nur noch ein spärlicher Überrest dessen, was es einmal gewesen war, ein breiter Holzlauf, der durch unzählige Schnitzereien, mehr oder weniger verunstaltet worden war und schließlich an vielen Stellen aufplatzte.

Die Toiletten waren alt und verdreckt, so wie die ganzen Waschräume und die Turnhalle, die sich auf der Rückseite des Gebäudes anschloss.

Die ganze Schule hätte eine Renovierung dringend nötig gehabt, doch ich würde das nicht mehr erleben.

Noch ein Jahr!

Wenn alles gut ging.

Ich erreichte das große Durchgangstor, das zum Schulhof führte und schaute nochmals zurück.

Hinter mir nur Kinder!

Alles okay, dann ging ich hinein.

Nach der Schule fuhr ich ins Krankenhaus.

Mit dem Bus durch die Stadt, vorbei am Stadtpark, dem Geschäftsviertel und auf der anderen Seite der Stadt den Hügel hinauf, bis zum höchsten Punkt, wo das Krankenhaus lag.

Ein kalter, unangenehm wirkender Neubau. Weiß und abstoßend.

Die silbernen Jalousien blinken freundlich in der Sonne und verbargen, was sich dahinter befand. Schmerz und gähnende Langeweile. Ich hasste den Bau alleine deshalb schon, weil ich bisher noch nichts Gutes in ihm erlebt hatte. Hier gab es nur Spritzen, Pflaster und langwierige Untersuchungen.

Nichts von dem, war je angenehm gewesen.

Besucht hatte mich hier noch nie jemand. Und obwohl ich heute als Besucher entspannt sein sollte, ergriff mich das gleiche beklemmende Gefühl im Magen, das ich jedes Mal gespürt hatte, wenn ich als Patient hier gewesen war. Mit diesem Gefühl, lief ich durch die Doppeltür am Eingang und betrat den großen Eingangsbereich des Gebäudes.

Dort links, ging es in die Ambulanz.

Den Weg kannte ich genau!

Geradeaus, dann zweimal rechts und noch mal links, dort lag ein kleiner Warteraum, in dem man Platz nehmen musste. Bevor man dann irgendwann aufgerufen wurde.

Wie viele Stunden ich dort schon mit irgendwelchen Wehwehchen verbracht hatte, konnte ich überhaupt nicht sagen.

Jetzt musste ich mich aber neu orientieren.

Station 3, hatte Melanies Mutter gesagt.

Ich überlegte und suchte nach einer Beschilderung, die mir den Weg zu den Stationen weisen würde, als plötzlich jemand zu mir sagte: »Kann ich dir helfen?«

Erschrocken fuhr ich herum.

Eine Frau in einem weißen Kittel stand neben mir und schaute mich an.

Nichts Ungewöhnliches in einem Krankenhaus und doch starrte ich sie an, wie eine geisterhafte Erscheinung. Schluckte dabei verlegen. Fast schuldbewusst. Heute schien ich derart schreckhaft zu sein, das ich anfing, mich über mich selbst zu wundern. Doch in Wahrheit gab es nichts, worüber ich mich wundern musste. Nur das sich der Gedanke, dass Donald Herb auch mir auflauern könnte, so intensiv in meinem Gehirn festgebissen hatte, das ich bei jeder Kleinigkeit aufschreckte. Darum sagte ich etwas irritiert: »Ich suche die Station 3. Kinderstation, dort liegt meine Freundin Melanie Schneider!«

»Dort entlang und dann mit dem Aufzug in die dritte Etage. Wenn du den Aufzug verlässt, siehst du direkt die Tür der Station.«

»Danke!«, bedankte ich mich und folgte der Beschreibung, die die Frau mir gegeben hatte. Ich betrat den Aufzug, fuhr hinauf und verließ ihn wieder, in der dritten Etage.

Wie die Frau mir erklärt hatte, sah ich sofort die Tür zur Station und ging darauf zu.

Ich öffnete sie und ging hinein.

Ein langer, gelber Korridor mit vielen Zimmertüren. Bilder von Kindern aus aller Welt, hingen an den Wänden. Dazwischen einige selbst angefertigte Gemälde und Basteleien.

Etwas weiter vorne, war ein verglaster Raum, aus dem Licht in den Flur fiel.

Ich ging darauf zu und stellte mich, in die weit offen stehende Tür.

Ein junger Mann, saß an einem Tisch und schrieb etwas in eine Mappe.

Als er mich sah, blickte er auf und fragte: »Hallo, kann ich helfen?«

»Guten Tag! Ja!«, sagte ich, »Ich suche meine Freundin, Melanie Schneider.«

»Zimmer 312! Wieder zurück und das vorletzte Zimmer, auf der linken Seite!« Er deutete mit dem Arm den Weg an, auch wenn ich ihn längst kannte.

Ich ging zurück und stand dann vor der Tür zu Zimmer 312.

In großen Ziffern war die Nummer an der Tür zu lesen.

Ich starrte die Ziffern an.

Was würde mich auf der anderen Seite erwarten, fragte ich mich. Wie sollte ich mich verhalten?

Ob Melanie wohl sauer auf mich war?

Zögerlich klopfte ich an und öffnete die Tür.

»Hallo!«, fragte ich leise, als ich den Kopf hinein steckte.

»Komm rein!«, rief eine Stimme und Melanie erhob sich im Bett.

Sie war alleine im Zimmer. Das zweite Bett war unbenutzt. Ich schloss hinter mir die Tür und war sichtlich erleichtert darüber, dass nicht noch jemand im Zimmer sein würde. Schnell ging ich auf sie zu.

Wir umarmten uns und dann sah ich mir lange ihr Gesicht an. Es war voller blauer Flecke und über ihrem Auge hatte sie eine kleine Wunde, die man genäht hatte.

»Das sieht ja schlimm aus!«, sagte ich schließlich aus einem Impuls heraus und schämte mich im selben Moment, für diese Bemerkung. Es war mir einfach so heraus gerutscht, ohne dass ich es wirklich sagen wollte.

»Vergiss es!«, winkte Melanie ab. »Ich hab‘s überlebt.«

»Aber nur knapp oder?«

Melanie setzte sich auf die Kante ihres Bettes und schaute auf ihre Hände, die sie in ihren Schoss gelegt hatte.

»Dieses Schwein hat mich richtig übel verprügelt!«

»Erstatte eine Anzeige oder so!«, schlug ich vor und setzte mich neben sie. Legte den Arm über Melanies Schulter.

»Nein!«, fuhr Mel ängstlich auf. »Nur das nicht. Versprich mir, dass du es niemandem sagst. Deinen Verdacht meine ich!«

Ich sah sie verwirrt an. »Welchen Verdacht?«

»Na das Donald Herb mich verprügelt hat! Ich habe niemandem erzählt, wer es war.«

»Aber das kannst du doch nicht verschweigen!«, sagte ich empört.

»Ich möchte nicht, dass er mir irgendwann noch mal auflauert. Bitte!«, Melanie sah mich flehend an und ich musste mir eingestehen, das ich sie sogar verstehen konnte. Auch wenn ich es noch so falsch fand. Doch auch ich hatte Angst und Melanie so im Arm zu halten, steigerte meine Angst noch mehr. Es fühlte sich seltsam an. Sie fühlte sich seltsam an. So wie ich sie im Arm hielt und dabei versuchte, sie nicht unbewusst zu drücken. Sondern nur behutsam meinen Arm um ihre Schulter zu legen.

»Okay!«, sagte ich ruhig. »Ich verstehe es zwar nicht wirklich, aber es ist deine Sache, was hast du denn hier erzählt, wie das passiert ist?«

Melanie schluckte. »Ich habe gesagt, es waren zwei Jungs. Stimmt ja auch irgendwie.«

»Wie zwei?«

Mel schwieg. Sie schaute mich an, dann zum Fenster, durch das die Sonne schien. »Dieser Reiner war auch dabei.« Ihre Stimme klang nachdenklich.

»Die haben dich beide verprügelt?«, hakte ich bei Mel nach.

»Nein.«, antwortete sie zögernd, »Er war nur dabei. Getreten und geschlagen hat mich nur Donald Herb. Aber wenn dieser Reiner nicht gewesen wäre, dann wär ich jetzt vermutlich tot.«

»Wie ist das denn überhaupt passiert?«

»Nachdem wir uns getrennt hatten, bin die die Levinger rauf und dann in die Bleichstraße. Da wo die beiden großen Hausvorbauten sind, hat mich Donald gepackt. Ich dachte er schmeißt mich gegen die Wand. Doch stattdessen bin ich in den Hausflur beim Haus Nr. 18 gefallen. Erst da habe ich bemerkt, dass dieser Reiner die Tür aufgemacht hatte. Er hatte scheinbar schon im Flur darauf gewartet, das Donald mich gegen die Tür schmeißen würde.«

»Das klingt ja so, als hätten die Beiden das ganze richtig geplant.«

»Das hatten sie wohl auch.«

Melanie schaute wieder zu mir. »Dann hat Donald Herb auf mich eingetreten. Ich glaube er hat mich auch geschlagen. Ich hatte aber schützend, Arme und Hände vor meiner Brust und vor meinem Gesicht. Darum kann ich es nicht genau sagen. Schließlich hat er eine Flasche mit Schnaps über mir ausgegossen und weiter getreten. Vielleicht wollte er mich sogar anzünden. Ich weiß es nicht.«

Ich hörte ihr fassungslos zu. Dabei wusste ich nicht, über was ich mich mehr wundern sollte. Die Brutalität, mit der die beiden vorgegangen waren, oder die ruhige, fast gleichgültige Art, in der Melanie alles erzählte.

»Dann hörte ich diesen Reiner. Scheinbar bekam er es langsam mit der Angst, so wie Donald Herb auf mich eintrat. Er befahl Donald aufzuhören, doch dieser schien wie in Rage zu sein. Dieser Reiner muss Donald schließlich weggezogen haben. Raus auf die Straße, sodass die Haustür zufiel und Donald nicht zurückkommen konnte. Dann lag ich da.«

»Scheiße!«, das war alles was ich sagen konnte. Dabei trat meine Befürchtung wieder in den Vordergrund, das Donald auch hinter mir her sein könnte. Doch irgendwie traute ich mich nicht, Mel danach zu fragen.

Sie schaute wieder aus dem Fenster. Grübelte darüber nach. Schließlich wagte ich es doch. »Glaubst du der ist auch hinter mir her?«

»Nein! Der wollte mir nur heimzahlen, das ich ihn auf der Straße lächerlich gemacht habe.«

»Das war doch nichts schlimmes!«, versuchte ich die Angelegenheit etwas zu beschwichtigen. In dem Moment fing Melanie an zu weinen. Die Tränen liefen über ihr Gesicht und sie legte ihren Kopf auf meine Brust.

Schluchzend und weinend saß sie da.

Ich tröstete sie. Streichelte mit meiner Hand über ihren Kopf. Erst jetzt, wo die Ereignisse der letzten Nacht, nochmal durch ihre Gedanken wanderten, schien alles aus ihr herauszubrechen und sie musste sich plötzlich eingestehen, dass sie keineswegs so stark war, wie sie immer geglaubt hatte.

Melanie die Starke. Man hatte ihr ihre Stärke genommen.

Ich hätte am liebsten mitgeweint, denn ich fühlte mit ihr.

Schließlich hatte es Melanie mir zu verdanken, dass dieser Donald Herb überhaupt erst auf uns beide aufmerksam geworden war.

Alles nur wegen dieser verfluchten Wette.

Nach einer Weile stammelte Melanie leise: »Der hat mich als Schlampe bezeichnet! Ich bin keine Schlampe!«

»Nein! Das bist du nicht!«, flüsterte ich ihr zu und hielt sie im Arm.

Dann saßen wir da.

Ich streichelte Melanies Kopf. Melanie versuchte sich dabei zu beruhigen.

Während mein Zorn auf Donald Herb immer weiter anstieg.

So vergingen einige Stunden, bis ich mich schließlich auf den Nachhauseweg machen musste. Auch wenn ich es noch so sehr bedauerte. Denn auch alle weiteren Versuche, Melanie dazu zu bewegen, die Wahrheit zu sagen, änderten nichts an ihrer Einstellung. Sie bestand darauf, dass ich niemandem ein Wort darüber sagen durfte.

Als ich bereits im Begriff war, das Zimmer zu verlassen, rief Melanie mich noch einmal zu sich und wir überlegten uns gemeinsam eine Geschichte, die ich erzählen sollte, wenn mich jemand darauf ansprach.

Dann ging ich.

Ich wollte gehen. Mein Kopf war voller Lügen, die ich erst einmal aneinander reihen musste. Mein Herz voller Zorn und dieses Krankenzimmer fing an, mich zu erdrücken.

Ich umarmte Melanie ein letztes Mal und verließ den Raum.

Ging den Flur entlang, als hinter mir Schritte auf mich zukamen und mich jemand am Arm packte.

Nur ganz sanft hielt mich jemand fest und sagte: »Entschuldigung!«

Ich hielt inne und schaute in die Augen des Mannes, der vorhin am Tisch in dem verglasten Zimmer gesessen hatte und mir den Weg beschrieben hatte.

Er war jung und klein, hatte kurzes schwarzes Haar und trug eine dicke Hornbrille mit dünnen Gläsern.

»Ich wollte sie nicht verpassen und auch nicht stören, während sie bei ihrer Freundin sind.«, entschuldigte sich der Mann dafür, dass er mich an der Schulter festgehalten hatte.

Ich schaute ihn an.

Mir war sofort klar, warum er mich sprechen wollte.

Der Grund war so offensichtlich, dass der bloße Gedanke daran, mir den kalten Angstschweiß auf den Rücken trieb. Jetzt musste das Lügengebilde in meinem Kopf beweisen, ob es den Fragen eines Erwachsenen standhalten würde.

Ich wusste nicht, vor was ich mehr Angst hatte. Davor, das ich zusammen brechen könnte, oder vor Melanies Lügengeschichte, die ich zu erzählen hatte.

»Mein Name ist Doktor Schreiber.«, stellte sich der Mann vor. »Hättest du einige Minuten Zeit. Ich darf doch du sagen?«

Ich nickte zustimmend und der Mann bat mich, ihm den Gang entlang, zurück zum Zimmer zu folgen, indem ich ihn zuletzt gesehen hatte. Als wir beide eingetreten waren, schloss er die Tür und bat mir einen Drehstuhl ohne Lehne als Sitz an. Er selbst stellte sich mit dem Rücken an die Wand.

Ich nahm schweigend platz und schaute ihn fragend an.

»Es geht um deine Freundin, wie du dir sicher denken kannst!«, sagte er, »Die Verletzungen, die sie hat, scheinen von schweren Schlägen zu kommen. Vielmehr Tritte. So als hätte man ziemlich lange auf sie eingetreten. Es ist ein Wunder, das sie nur mit Prellungen davon gekommen ist.«

Ich schluckte ängstlich.

»Die Geschichte, die sie uns erzählt hat, passt irgendwie nicht dazu. Mir scheint es so, als hätte ein erwachsener Mann, ihr diese Tritte zugefügt und kein Jugendlicher.«

Er hielt einen Moment lang inne, schaute mich an und fragte dann: »Kann es sein, dass sie zuhause geschlagen wurde?«

»Nein!«, rief ich sofort empört. Alleine schon die Vorstellung, das Melanies Mutter, ihr etwas antun könnte, war absurd. Außerdem wusste ich ja, wer ihr das angetan hatte. Plötzlich entwickelte sich in mir ein innerlicher Konflikt. Einerseits hätte ich gerne die Wahrheit gesagt, andererseits hatte ich meiner Freundin versprochen, nichts zu erzählen. Zumindest nichts von dem was wirklich passiert war.

»Mir hat sie gesagt,«, fing ich an, »zwei Jugendliche haben sie zusammengeschlagen und dann in dem Hauseingang liegen gelassen.«

»Und du glaubst das?«

»Es ist das, was ich weiß! Warum sollte ich es in Frage stellen. Sie lügt mich nicht an. Das weis ich.«

»Ich möchte Dir nur sagen, dass Melanie, neben ihrer Mutter, dich als Person angegeben hat, die wir in Notfällen anrufen sollen. Das sprich doch dafür, das ihr beide euch sehr gut kennt.«

Ich schluckte. Das hatte Melanie getan. Ich konnte es kaum glauben und es erfüllte mich mit Stolz. Gleichzeitig zehrte es an meinem inneren Konflikt. Für einen kurzen Moment war ich geneigt, dem Arzt die Wahrheit zu sagen, doch dann sagte ich knapp. »Mehr weiß ich nicht.«

»Na gut!«, der Arzt sah mich nachdenklich an, »Wenn ihr beide nicht mit der Wahrheit rausrückt, dann kann ich euch nicht helfen.«

»Das ist die Wahrheit!«, beteuerte ich und stand auf. Wie ein motziges Kleinkind, das auf seinem Standpunkt beharrte, versuchte ich mit dieser Reaktion, das Gespräch abrupt zu beenden und schob dabei beiläufig, mit dem Fuß, den Stuhl zur Seite.

Der Doktor, den dies nicht weiter beeindruckte, öffnete mir die Tür und ich ging hinaus.

»Passt auf euch auf!«, sagte er, als ich durch die Tür gegangen war.

Ich drehte sich kurz um, warf ihm einen besorgten Blick zu und ging dann.

Als ich wieder zuhause eintraf, war es fast schon fünf.

Außer mir, war nur Phillip in der Wohnung.

Endlich knarrte das Bett mal nicht, dachte ich, als ich herein kam, ihn sah und gleich in meinem Zimmer verschwand, um mich vor ihm in Sicherheit zu bringen.

Doch Phillip schien auf mich gewartet zu haben, denn ich hörte ihn aus der Küche rufen, »Angela! Komm mal her!«

Wie nett! Dachte ich, als ich seine Stimme vernahm.

Kein: Hallo wie geht’s.

Kein: schön dich zu sehen.

Nur ein Einfaches: Komm her!

Was glaubte der Typ eigentlich wer er war!

Ich warf genervt den Inhalt meiner Hosentasche, den ich gerade hervorgeholt hatte, aufs Bett und kam aus meinem Zimmer. Ging in die Küche, wo Phillip bereits auf mich wartete und lässig mit dem Hinterteil an der Arbeitsplatte lehnte. Er musterte mich und ich starrte ihn an.

Phillip war schlank, fast zu schlank und groß.

Über ein Meter achtzig. Er trug einen schmalen Oberlippenbart. Dazu hatte er dichtes, schwarzes Haar und graugrüne Augen. Wie so oft, trug er ein geripptes Unterhemd und eine dunkle Jeans. Seine Lieblingskleidung, wenn er sich hier in der Wohnung aufhielt. Alles was er noch zum Rausgehen benötigte, war sein Hemd, das fast immer griffbereit neben dem Fenster im Schlafzimmer hing.

Irgendwie sah er aus, als wäre er irgendwann in den Achtzigern hängen geblieben. Ich kannte diese Zeit zwar nicht besonders gut, aber wenn meine Mutter, oder mein Vater mir davon erzählt hatten, dann hatte ich mir die Menschen damals, genauso vorgestellt.

Jetzt stand Phillip hier vor mir und musterte mich, als sei ich seine Tochter. Jemand für den er Verantwortung übernehmen müsse.

Eine Vorstellung, die mich fast zur Raserei brachte.

»Na! Was für Ärger habt ihr denn gemacht?«, fragte er in einem derart abfälligen Ton, das ich mich zurückhalten musste, um nicht gleich an die Decke zu gehen.

»Was meinst du?«, fragte ich zurück und täuschte dabei Ahnungslosigkeit vor.

»Deine Freundin liegt doch nicht ohne Grund im Krankenhaus!«, fügte er seiner Frage bei.

Ich ging an ihm vorbei, und öffnete den Kühlschrank.

»Sie wurde zusammengeschlagen! Was soll die Fragerei! Bist du mein Vater?«

»Nein!«, Phillips Stimme wurde für einen Moment lang leise, dann konterte er. »Aber ich kann mir doch trotzdem Sorgen machen. Außerdem wird selbst in diesem Stadtteil, kaum jemand ohne Grund zusammengeschlagen und nachdem was ihr beide so alles anstellt…«

»Was sollen wir angestellt haben? Und wieso willst ausgerechnet du mir Ratschläge geben?«, fiel ich ihm ins Wort und sah ihn auffordernd an, bevor ich wieder den Kopf zum Kühlschrank drehte und hinein sah. Auf irgendetwas hatte ich Hunger, auch wenn ich mich nicht entscheiden konnte.

Jogurt, Wurst, Käse, solange Phillip mir hier zusah, bekam alles einen seltsamen Geschmack. Meine Unentschlossenheit lag also nicht an den Lebensmitteln, sondern der Gesellschaft, in der ich mich befand.

»Was willst du damit andeuten?«, er drehte sich mir zu und lehnte sich dabei noch lässiger auf die Arbeitsplatte. Stützte sich mit seinem linken Ellbogen ab und schaute mich von der Seite an.

»Du weist genau was ich damit sagen will.«, sagte ich rasch.

»Du spielst auf meine Vergangenheit an?«, fragte er mich ernst und ich konnte dabei fühlen, das ich einen wunden Punkt getroffen hatte. Doch anstatt mich darüber zu freuen, bekam ich plötzlich ein beklemmendes Gefühl im Magen, das sich von Sekunde zu Sekunde steigerte.

Hatte ich ihn eventuell verärgert?

Sein Tonfall war mit einem mal auffallend ernst und hatte jeden Anflug von Sarkasmus verloren.

Mit einem Ruck schloss ich die Tür des Kühlschranks. Mein Appetit war vergangen. Alles in diesem Kühlschrank löste in mir plötzlich nur noch ein leichtes Übelkeitsgefühl aus. Ich schaute ihm ins Gesicht und sagte: »Ich weiß, was du schon alles in deiner Vergangenheit gemacht hast!«

»Was denn?«, fragte er spöttisch.

»Drogen!«, ich grinste ihn an. »Bist du nicht deswegen im Knast gewesen?«

»Du bist ein kleines Miststück!«, sagte er verärgert. Wenngleich er nicht wirklich betroffen wirkte. Ganz im Gegenteil, es schien ihn fast zu amüsieren.

Wie auch immer. Ich machte damit weiter. Hier in der Wohnung meiner Mutter, fühlte ich mich sicher. Ich hatte keine Angst vor diesem kleinen Gauner.

»Miststück hin oder her! Ich war jedenfalls noch nicht im Knast. Warum warst du denn da drin?«

»Es gibt Dinge, die passieren eben. Nicht immer läuft alles so glatt, wie man sich das wünscht. Das hat deine Freundin ja scheinbar gestern zu spüren bekommen.«

Ich schluckte. Ohne dass er es wissen konnte, hatte er recht, mit dem was er gesagt hatte. War die Situation so durchschaubar, oder war ich es etwa?

Vielleicht hatte ich mich mit irgendetwas verraten. Etwas das ich gesagt hatte?

Lass mich in Ruhe!

»Das erzählen ja wohl alle hinterher!«, ich grinste nochmals spöttisch.

»Weißt du, so wie du dich verhältst, bist du nicht mehr weit vom Jugendknast entfernt. Daher würde ich den Mund nicht zu weit aufreißen!«

Ich fing an zu lachen.

»Wegen was sollte ich denn da reinkommen?«, verlangte ich zu wissen und lachte dabei lauthals weiter.

»Da führen viele Wege hin.«, sagte er ruhig. »Vielleicht muss man nur etwas nachhelfen.«

»Das würde ich dir auch noch zutrauen.«, mein Lachen verstummte. »Das du mir etwas anhängst, nur um mit meiner Mutter alleine zu sein.«

»Würde dich das wundern?«

»Du bist ein Arschloch!«, rief ich verärgert und ging an ihm vorbei.

»Im Moment wäre deine Mutter jedenfalls besser ohne dich dran, das steht ja wohl fest.«, rief er mir hinterher.

»Ein Arschloch!«, schrie ich zurück und rannte durch den Flur in mein Zimmer.

Phillip schaute mir nach, bis ich aus seinem Blickwinkel entschwunden war. Dann drehte er sich wieder mit dem Rücken zur Küchenzeile und blickte weiter aus dem Fenster hinaus auf die Stadt.

Kleines Luder, dachte er bei sich.

Stur und verbohrt, wie ihr Vater. So kann es nicht weitergehen. Nicht nur sie rennt in ihr Unglück, sie reißt ihre Mutter gleich mit hinein. Phillip fuhr sich nachdenklich mit der Hand über seinen Mund.

Am nächsten Tag konnte ich in der Schule an nichts anderes denken, als an den Moment, an dem ich endlich Melanie aus dem Krankenhaus abholen konnte. Aus diesem Grund wanderten meine Blicke, den ganzen Vormittag über, zur Uhr im Klassenzimmer und wieder zurück.

Heute war es soweit und nachdem die Ärzte, Melanie gesagt hatten, dass sie bereits zur Mittagszeit gehen dürfe, durfte ich sie abholen. Denn ihre Mutter konnte nicht vor fünf Uhr Nachmittags von der Arbeit gehen. Zwar waren wir dann auf den Bus angewiesen, doch das störte uns nicht und Melanie wollte keine Sekunde länger als nötig im Krankenhaus bleiben.

Und wenn überhaupt, dann hätte eher Melanies Mutter gestört.

Sie wäre mit ihrem alten Auto ankommen, hätte nur zur Eile gedrängt. Melanie übertrieben fürsorglich bemuttert und umsorgt. So das ich keine Chance gehabt hätte, mich Melanie zu nähern, ohne an ihrer Mutter vorbei zu müssen.

So wie es jetzt war, war es schon besser.

Wesentlich besser!

Noch eine Stunde in der Schule und dann war es soweit.

Doch diese Stunde zog sich wie Gummi.

Die Minuten vergingen zäh und langsam.

Immer wieder schweifte mein Blick von der Tafel, hinüber zur Tür des Klassenzimmers, über der die Uhr hing.

Wieder eine Minute weiter und noch neunundfünfzig die übrig blieben!

Aber als wäre das noch nicht genug, ging es in diesen beiden letzten Schulstunden auch noch um Physik. Ein Fach, mit dem ich überhaupt nichts anfangen konnte. Es hatte mich nicht interessiert, warum der Strom von Minus nach Plus floss und es interessierte mich nicht, warum eine Glühbirne brannte.

Das einzig interessante an diesem Thema war gewesen, als Rektor Zimmer, vergessen hatte, die Stromleitung vom Wasserhahn abzunehmen, als er sich die Hände waschen wollte.

Und so kam es, wie es kommen musste, er schrie kurz auf, als er den Stromschlag abbekam und erklärte dann eine halbe Stunde lang, was gerade geschehen war, um von seinem Missgeschick abzulenken.

Doch keiner hatte ihm wirklich zugehört. Er hatte erzählt und erzählt und wir hatten gekichert.

Jetzt ging es um ein anderes Thema.

Magnetfelder!

Mindestens genauso interessant.

Vor allen Dingen, wenn es um die skalare Ausrichtung derselben ging. Hießen nicht auch Fische so, fragte ich mich.

Es war mir im Prinzip egal.

Heute zählte nur eines. Melanie!

Rektor Zimmer turnte in seinem dunklen Anzug vor der Tafel hin und her und malte dabei die unterschiedlichen Magnetfelder auf das Schwarz.

Linien und Kreise. Ein wildes Gewirr, das für mich keinen Sinn ergab.

Ich wendete den Kopf ab und blickte durchs Fenster, auf die Baumkronen.

Nicht nur um diesem langweilen Thema zu entfliehen, sondern auch um mich etwas von der Uhr abzulenken.

Vermutlich war noch keine weitere Minute vergangen.

Oder?

Ich wendete den Kopf. Blickte auf die Uhr.

Doch eine.

Enttäuschend!

Um wie viel langweiliger konnte das hier noch werden, fragte ich mich und blickte wieder auf die Tafel.

Noch mehr Magnetfelder!

Rektor Zimmer schien an der Tafel zu Höchstform aufzulaufen.

So verging Minute um Minute.

Mitbekommen hatte ich kaum etwas, aber reicher um die Erfahrung, dass es wirklich noch langweiliger sein konnte, war ich geworden. Denn die Spannung, über die Magnetfelder, kam gänzlich zum Erliegen, als bei dem anstehenden Versuch, der Stromgenerator den Geist aufgab und sich nichts tat.

Die Metallspäne blieben regungslos liegen, ohne sich für irgendeine Richtung zu entscheiden. Dann endlich klingelte es und ich war mit eine der ersten, die aus dem Raum stürzte.

Die Treppe hinunter und die Straße entlang.

Ich rannte zur Bushaltestelle.

Nicht die Haltestelle, an der die ganzen Schüler standen, sondern die, von der aus der Bus direkt zur Südseite der Stadt fuhr und fast direkt vor dem Krankenhaus anhielt. Kaum an der Haltestelle angekommen, traf auch schon der Bus ein. Ich stieg ein und setzte mich auf die hinterste Bank.

Dann ging die Fahrt los.

Wieder durch die halbe Stadt und den Hügel hinauf.

Dann war ich da.

Als ich das Krankenhaus betrat und mit dem Aufzug nach oben fuhr, beschäftigte mich nur ein Gedanke.

Doktor Schreiber!

Ich wollte ihm auf keinen Fall begegnen. Nicht weil ich Angst vor ihm gehabt hätte, sondern weil ich ihn nicht noch weiter anlügen wollte.

Prinzipiell hatte ich mit dem Lügen keine Probleme. Schließlich bestand mein halbes Leben aus Lügen und Ausflüchten.

Doch hier war es anders.

Meiner Meinung nach war es nicht richtig, Donald Herb einfach so davon kommen zu lassen. Er hatte Melanie übel zugerichtet und sollte dafür auch zur Rechenschaft gezogen werden. Irgendjemand musste diesem fetten Kerl einmal klarmachen, was für eine erbärmliche Figur er eigentlich war. Aus dem Grund hätte ich am liebsten die Wahrheit erzählt. Doch ich hatte es versprochen.

Als ich die Station betrat und die Glastür hinter mir ins Schloss fiel, stand meine Freundin bereits vor dem verglasten Zimmer des Arztes und schaute zu mir den Gang hinunter.

Dabei konnte ich selbst von hier aus sehen, wie übel dieser Donald sie zugerichtet hatte. Die Schwellungen in ihrem Gesicht hatten zwar etwas nachgelassen, doch an Farbschattierung hatten sie zugelegt.

Melanie lächelte mich zwar an, doch ich konnte ihr anmerken, dass sie sich in ihrem Inneren elendig und ungerecht behandelt fühlte und in diesem Moment wurde mir klar, warum sie nicht sagen wollte, was wirklich geschehen war.

Wenn sie auch nur ein wahres Wort über diese Sache erzählen würde, dann musste sie für den Rest ihrer Jugend vor Donald Angst haben.

Er würde sie finden, ihr auflauern. So wie er es jetzt auch getan hatte, denn ihm war es egal, ob er ins Gefängnis kommen würde oder nicht. Sein Leben war nichts weiter als ein ständiges auf und ab, zwischen seinem Alkoholkonsum und einer aussichtslosen Zukunftsperspektive. Ein sinnloses dahin fristen, ohne Aussicht auf Arbeit, oder irgendeine einschneidende Verbesserung.

Vielleicht wollte er ja sogar ins Gefängnis!

Melanie blickte den Flur entlang, durch den ich kam und umarmte mich, als ich sie erreicht hatte.

Ich indes erschrak, als mich Melanie in den Arm nahm und ich einen kurzen Blick durch die Glaswand werfen konnte. Im Zimmer dahinter, saß Doktor Schreiber und war damit beschäftigt, die letzten Papiere für Melanies Entlassung auszufüllen, während sie schon fertig gepackt dastand und darauf wartete, endlich von hier zu verschwinden.

»So!«, sagte er schließlich, als er seine Unterschrift unter das Formular gesetzt hatte und es Melanie entgegen hielt. Sie griff durch die offene Tür und nahm es dankend entgegen.

»Da ist ja auch schon deine Freundin!«, sagte er noch, als er mich sah.

»Guten Tag!«, fügte er freundlich an.

Ich nickte stumm.

»Dann kann es ja jetzt losgehen!«, bemerkte er grinsend und seine Hornbrille rutschte dabei langsam die Nase hinunter, wo er sie sogleich mit einer geschickten Handgeste zurück schob, damit sie wieder langsam auf das Ende seiner Nase zu rutschen konnte, von wo er sie...

»Hast du dir das noch mal durch den Kopf gehen lassen?«, fragte er mich und Melanies Blicke verfinsterten sich. Sie betrachtete unverständlich mein Gesicht, während ich sagte: »Es gibt nichts zu überlegen.«

»Dann wünsche ich euch beiden eine gute Heimfahrt!«

»Ja, danke«, giftete Melanie kurz dazwischen und nahm ihre Tasche auf.

Wir verließen die Station. Als die Glastür hinter uns zugefallen war und wir auf den Aufzug warteten fragte mich Melanie: »Was wollte er denn?«

»Na was wohl!«, antwortete ich, etwas verärgert darüber, das sie mich gezwungen hatte, zu schweigen. »Er hat deine Geschichte nicht geglaubt und wollte mich überreden, dass ich etwas sage. Ich habe mich richtig mies gefühlt, als ich ihn anlügen musste.«

»Aber du hast ihm nichts gesagt oder?«

»Nein! Auch wenn ich es nicht richtig finde. Dieses fette Schwein sollte eine Strafe bekommen!«

Ein leiser Klingelton ertönte und die Tür vom Aufzug ging auf.

Rasch stiegen wir ein.

Angie

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