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La Chaux-de-Fonds
Wolfgang Steinamhirsch wird am 1. März 1917 in La Chaux-de-Fonds geboren. Alljährlich feiern die Einwohner an diesem Tag ihren Aufstand gegen den preußischen König. Dann schließen die wenigen Aristokraten, die ihr Adelsprädikat behalten haben, zum Zeichen der Trauer ihre Fensterläden und gehen den ganzen Tag nicht aus dem Haus. Daher lässt auch der Arzt, ein gewisser de Rougemont, an diesem Tag Gebärende mit der Hebamme allein. An einem 1. März wird nicht entbunden, damit das klar ist.
Wolfgangs Vater ist der Besitzer der Buchhandlung Librairie du Progrès. Seine Mutter hat auf eine Karriere als Pianistin verzichtet, um vier Kinder zur Welt zu bringen. Erst Wolfgang, dann drei Mädchen, die nach dem Willen des Vaters Alpha, Beta und Gamma genannt werden. Die Mutter ist nur stolz auf ihren Ältesten, will einen Dirigenten aus ihm machen. Deshalb lernt er neben Latein, Griechisch und Englisch auch Geige. Das Konservatorium übernimmt es, sein musikalisches Talent zu fördern. Er lässt nicht gerne starke Gefühle zu. Sein Geigenlehrer regt sich auf: «Mehr Inbrunst, weniger Technik, lass dich mitreißen, Wolfgang, verflixt nochmal!»
Schon als Kind begeistert er sich für die Wissenschaft, liest keine Romane, weil darin erfundene Geschichten erzählt werden. Die Wahrheit steht in wissenschaftlichen Handbüchern.Physikbücher zum Beispiel erklären, warum Körper fallen. Wäre ein Roman je in der Lage, die Anziehungskraft des Kerns auf die Elektronen zu erforschen? Jedes Jahr zu Weihnachten dürfen die Kinder sich im väterlichen Geschäft ein Buch aussuchen. Die drei Mädchen begnügen sich mit Heidis Abenteuern in den Alpen. Ihr Bruder bevorzugt eine Logarithmentafel oder das Periodensystem der Elemente, zur Not eine Gelehrtenbiografie.
Eines Tages liest er ein Buch über das beispielhafte Leben von Edison, dem Vordenker, der die Menschheit mit Hilfe des Gesetzes des geringsten Widerstands um mehrere erhellende Erfindungen bereichert hat. Dem jungen Edison ist es gelungen, ohne die Wärme einer Henne Eier auszubrüten, Wolfgang macht es ihm nach. Bei einer Bäuerin, die jeden Montag auf dem Marktplatz steht, besorgt er sich zwei frische Eier. Er versteckt sie unter seiner Bettdecke und sorgt dafür, dass sie dort in gleich bleibender Wärme liegen. Tagsüber wickelt er jedes Ei in eine Socke und steckt sie sich in die Taschen. Seinen Berechnungen zufolge müssten die Küken am Sonntag schlüpfen. Er wird also ausgiebig Zeit haben, ihnen dabei zuzusehen. Leider besteht die Mutter am Samstag darauf, dass er kurze Hosen ohne Taschen trägt, sodass es den Eiern an Wärme fehlt. Den Mangel meint er ausgleichen zu können, indem er sie eine Zeit lang in heißes Wasser legt, im Glauben, die doppelte Temperatur in der halben Zeit führe zum gleichen Ergebnis. Resultat: Weder am Sonntag noch an den folgenden Tagen schlüpfen die Küken aus ihrer Schale. Wie hat Edison das bloß geschafft?
Wolfgang macht weitere Experimente zum Flug von Fledermäusen, die er tagsüber weckt, mit unsichtbarer Tinte, mit dem zweiten Hauptsatz der Wärmelehre. Er kommt zu vorhersehbaren Ergebnissen, zu Variationen über ein gegebenes Thema, macht jedoch keine Entdeckung. «Nichts Neues unter der Sonne», bestätigt seine Mutter. Worauf ihr Mann zu ergänzen wagt: «Außer dem Fortschritt, mein Schatz.» Trotz aller Bewunderung für seine Mutter weiß Wolfgang, dass sie kaum an die Erzeugung eines Kükens fern der Wärme einer Glucke glaubt. Er möchte für sie etwas Neues erfinden oder entdecken, dann würden sie gemeinsam den Nobelpreis in Stockholm abholen.
Seine erste Freundin lernt Wolfgang auf dem Jahresabschlussfest kennen. Heidi, die älteste Tochter des Pfarrers, trägt denselben Namen wie das kleine Waisenmädchen, das immer krank wird, wenn es seinen Großvater und die Alpenluft verlassen muss. Wie im Bilderbuch seiner Schwestern hat auch diese Heidi schöne blonde Zöpfe, aber wenig Talent zum Lernen. Einmal in der Woche verabredet Wolfgang sich nach seiner Geigenstunde mit ihr im Cafè Moreau an der Avenue Lèopold-Robert. Dort setzen sie sich nebeneinander, um die Passanten besser beobachten zu können, benoten deren Aussehen und dichten ihnen eine Biografie an. Aber es fehlt ihnen an Fantasie, außer bei Paaren, bei denen sie rasch einen möglichen Trennungsgrund ausmachen.
Wolfgang hat keinen Freund. Er hat das Gefühl, nur junge Mädchen könnten ihm eine angenehme Gesellschaft leisten, sie verstehen das Innere der Dinge. Will man wissen, um wie viel Uhr ein Zug abfährt, ist das Geschlecht des Auskunft Erteilenden ziemlich egal, geht es aber um Stimmungen, um Gefühle und vor allem um Unsagbares, wendet man sich lieber an eine Frau. Nur Frauen stellen sich dieselben Fragen wie er: Wo ende ich, und wo beginnt die Welt?
Bei Heidi weiß er nicht so recht weiter. Ausgerechnet über ein Thema kann er nicht mit ihr sprechen, nämlich: Sollte man seine Liebe gleich zu Beginn offenbaren? Oder macht man sich damit lächerlich? Und dann diese tausendmal gewälzte Frage: Wird die Liebe die Freundschaft töten?
Da er beides noch nie erlebt hat, sind seine Sorgen rein theoretischer Natur. Für den Fall, dass eines Tages die Wirklichkeit ins Spiel kommen sollte, macht er sich jetzt schon auf Schwierigkeiten gefasst. Seine Mutter ist ihm dabei keine Hilfe. Anfangs, als sie noch nicht weiß, dass ihr Sohn sich auf eine ernsthafte Beziehung vorbereitet, fragt sie ihn, ob er nicht ein wenig, wie soll man sagen, den Jungen zugeneigt sei. Wolfgang errötet, gerät ins Stottern und beflügelt den mütterlichen Verdacht nur umso mehr.
Sein erster Versuch ist also Heidi. Mit ihr will er vorbeugend sämtliche Regeln für Treue, Lüge und Eifersucht festlegen. Sie versteht all diese Fragen nicht, die, solange er ihr nicht seine Liebe gestanden hat, ohne Inhalt bleiben. Eine Sache, die ihn bei der Planung seines Liebeslebens ganz besonders bewegt, ereignet sich, als er mit Heidi zur Geburtstagsfeier eines Klassenkameraden verabredet ist. Er holt sie zu Hause ab.
«Gefalle ich dir so, Wolfgang?»
«Du hättest dir deine Zöpfe nicht abschneiden sollen.»
«Das wolltest du doch.»
«Und diese knallroten Lippen.»
«Das wolltest du doch.»
«So hohe Absätze.»
«Du wolltest es, Wolfgang.»
Das trifft ihn doppelt. Erstens, weil sie ihm ohne Zöpfe und ohne ihre blassen Lippen nicht mehr gefällt. Und zweitens, weil sie ihm einen unwiderlegbaren Beweis ihrer Liebe gibt. Er verkneift sich weitere Bemerkungen, schmollt jedoch den restlichen Abend, ohne sich zu trauen, ihr zu erklären, warum. Seine Schlussfolgerung: Niemals Liebesbeweise verlangen, sondern sich damit begnügen, welche zu bekommen.
Wenig später versucht er in einem von einem Freund überlassenen Dienstbotenzimmer, wo eine Matratze auf dem Boden die Umarmungen abfedert, Heidi zu seiner Geliebten zu machen. Am nächsten Tag schickt er ihr glühende Liebesschwüre. Da es in seinen Zeilen auch um Krieg und einen eifersüchtigen Ehemann geht, bittet Heidi um Aufklärung. Er ist so ehrlich, ihr ein Exemplar von Stürmische Jugend zu schenken, auf dessen Seiten er die Sätze unterstrichen hat, die er sich für seinen Brief entliehen hat.
Eines Tages wird Wolfgangs Mathematiklehrer Enoch Laplace auf seinen Schüler aufmerksam, als es zu beweisen gilt, dass jede beliebige Zahl den Wert eins annimmt, wenn man sie mit null potenziert. Wolfgang braucht zwei Minuten, um den Beweis zu formulieren. Eine Stunde später haben seine Klassenkameraden den Kniff immer noch nicht heraus. Enoch Laplace beglückwünscht ihn und nimmt ihn mit nach Zürich ins Büro des großen Kernphysikers Professor Scherrer. Der fragt Wolfgang, ob er glaube, die Physik werde alle Menschheitsprobleme lösen. Der Sechzehnjährige antwortete altklug: «Die Physik, jawohl, in Verbindung mit Intelligenz.» Professor Scherrer klopft ihm kräftig auf die Schulter: «Enoch, der Junge gefällt mir.»
Während der Bahnfahrt zurück nach La Chaux-de-Fonds lässt Enoch Laplace sich zu einigen Vertraulichkeiten hinreißen: Ach, wäre er doch noch einmal sechzehn, läge doch das Leben noch vor ihm, er würde es der theoretischen Physik widmen. Und wie zu sich selbst sagt er mehrmals: «Armer kleiner Enoch, armer kleiner Enoch.» Sein Schüler schließt daraus, dass ihm das dritte Bier im Zürcher Bahnhofbuffet zu Kopf gestiegen ist.
Nachdem Wolfgang einen Studienplatz an der ETH, der Eidgenössischen Technischen Hochschule in Zürich bekommen hat, verlässt er seine Heimatstadt mit Bedauern. La Chaux-de-Fonds ist nicht irgendeine Stadt. Ein ganzes Regalbrett reserviert die Librairie du Progrès den lokalen Berühmtheiten. Wolfgangs Mutter ist sich sicher, dass auch ihr Sohn dort eines Tages seinen Platz finden wird. Einstweilen stehen hier Monografien zum Maler Lèopold Robert und zum Rennfahrer Louis Chevrolet, der gleich hinter dem Haus der Steinamhirschs geboren ist.
In Zürich wohnt Wolfgang bei seiner Tante, der Schwester seines Vaters, die in einen Flieger verliebt ist, jeden Sonntag zur Kirche geht und nie verheiratet war. Sie ist auch seine Gotte und schenkt ihm jedes Jahr einen Silberlöffel zum Geburtstag. Zu seinem zwanzigsten bekommt er von ihr sogar einen Jungfernflug ab dem Flugplatz Dübendorf.
Nach seinem ersten Ball an der ETH gibt Wolfgang Heidi den Laufpass. Seine Kommilitonen finden die junge Frau zu provinziell und eines Ingenieurs nicht würdig. Außerdem hat sein ehemaliger Lehrer Enoch Laplace sich in sie verliebt. Sie träfen sich heimlich, erzählt sie Wolfgang. Der ist erst gekränkt, dann traurig und betrinkt sich mehrere Samstage hintereinander. Als Heidi ihm schließlich schreibt, sie habe alles nur getan, um ihn eifersüchtig zu machen, ist es zu spät, die Liebe ist verflogen.
Einmal im Monat bekommt Wolfgang Besuch von seiner Mutter. Da er nun keine Freundin mehr hat, hakt sie sich schon am Bahnhof bei ihm unter. Gemeinsam, wie ein Liebespaar, bewundern sie den See und die große Brücke. Wolfgangs Mutter ist eine sehr schöne Frau, die ihr Ehemann nicht verdient hat. Der verbringt seine Zeit damit, seine drei Töchter zu verhätscheln. Hätte seine Frau nicht nach der dritten aufgehört, hätte die vierte Delta geheißen. Der Buchhändler mag aus dem Deutschen übersetzte Bücher. Seiner Jüngsten, Gamma, die sich in der psychiatrischen Anstalt von Val-de-Ruz befindet, bringt er jeden Sonntag eines mit.
Nur samstags, wenn angesehene Kunden sich etwas zu lesen kaufen, hilft Frau Steinamhirsch gern in der Buchhandlung aus. Dann schiebt sie die Verkäuferin Fräulein Degoumois zur Seite, um mit strahlendem Lächeln den Herrn Doktor, den Herrn Pfarrer oder den Herrn Bürgermeister zu begrüßen. Sie kommentiert die letzte Abonnementvorstellung, welche die Herren doch sicherlich genossen haben. Dann klagt sie über das Wetter, sagt, La Chaux-de-Fonds, das seien sechs Monate Winter und sechs Monate Steuern, und lässt keine Gelegenheit aus, die brillante Karriere ihres Sohnes in Zürich zu schildern. Sie fesselt ihre Zuhörer und hält sie so lang wie möglich auf, um den Augenblick hinauszuzögern, in dem sie sich nach dem gewünschten Buch erkundigen. Hierfür müssen sie sich an Fräulein Degoumois wenden.
Wolfgang neckt seine Mutter gern deswegen, wenn er Arm in Arm mit ihr am See spazieren geht, vorne die Schwäne, in der Ferne die verschneiten Berge. Dann unterhalten sie sich über Wolfgangs neue Leidenschaft, die Physik des unendlich Kleinen. Tut seine Mutter nur so, als verstünde sie, was er ihr erzählt? Oder begreift sie wirklich den Unterschied zwischen negativ geladenen Elektronen und Neutronen?
Wenn Professor Scherrer den großen Physikhörsaal betritt, müssen die Studenten sich erheben und so lange stehen bleiben, bis er seine dicke schwarze Ledermappe krachend aufs Pult geworfen hat. Er schreibt eine Formel an die Tafel und zeigt mit dem Finger auf einen der Studenten, der die Ziffern- und Buchstabenabfolge erklären soll. Eines Tages gerät Wolfgang an eine Gleichung von Max Planck und merkt im letzten Moment, dass Professor Scherrer ihm eine Falle stellt. Die Formel wurde widerlegt. Zitternd demonstriert er in drei Schritten den Irrtum der alten und den Triumph der neuen Wahrheit. Professor Scherrer lobt seine Scharfsicht:
«Schlau wie immer, unser kleiner Steinamhirsch aus La Chaux-de-Fonds.»
Wie üblich zündet er sich eine dicke Zigarre an, bevor er die Vorlesung fortsetzt. Von Zeit zu Zeit macht er eine kurze Pause, um die Zigarre erneut anzuzünden. Dann herrscht jedes Mal eisige Stille auf den Rängen.
Im ersten Jahr vertieft Wolfgang seine Kenntnisse in Mathematik, anschließend in Chemie und Physik. Seine ersten Ferien verbringt er im Werkstofflabor, die nächsten mit dem Zusammenbauen von Hydraulikpumpen. Es zieht ihn zur theoretischen Physik, praktische Übungen reizen ihn wenig. In seiner Diplomarbeit befasst er sich mit der Heisenbergschen Unschärferelation, sperrt Schrödingers Katze ein und besiegelt das Schicksal der Transurane. Der hochzufriedene Professor Scherrer lädt ihn gemeinsam mit seinen Assistenten zu sich nach Hause ein, ein seltenes Privileg. Frau Scherrer, die schöne Ida, flüstert ihm auf Französisch zu:
«Mein Gatte setzt große Hoffnungen in Sie, mein Junge.»
Noch am selben Abend schreibt Wolfgang seiner Mutter, um ihr die gute Nachricht zu verkünden.
Von außen betrachtet, ist Wolfgang ein eher kühler, nicht besonders herzlicher junger Mann. Eine gewisse protestantische Strenge, gepaart mit Unbeholfenheit. Aber in seinem Innersten, jedenfalls so, wie er es begreift, sieht sich Wolfgang als eine empfindsame, leidenschaftliche, enthusiastische Person. Ständig ist er in irgendeine Frau verschossen. In eine Passantin, eine Studentin. Manchmal schwebt er gar in einem Zustand der Verliebtheit, ohne zu wissen, wem er seine Liebe erklären soll. Er verspürt ein Übermaß an Verlangen, das jedoch keinen Ort findet, um sich zu ergießen, fragt sich, wie er seinen Blick auf sich selbst mit einer anderen teilen kann. Nicht einmal Professor Scherrer vermag die philosophische Frage «Existiert die Welt außerhalb unserer selbst?» mit Sicherheit zu beantworten. Real ist vielleicht nur die Welt der Statistik und der Berechnungen. Die Sinnenwelt ist nichts als ein unfassbares Gebilde.
Und plötzlich zeigen sich wieder menschlichere Gefühle. Die Erinnerung an das erste Mal, als er Heidi geküsst hat, offenbart ihm erneut die Gewissheit, dass der andere existiert, doch jeder in seiner eigenen Welt. Schließlich findet er sich damit ab. Spät in der Nacht, während er an seiner Doktorarbeit schreibt, das Fenster vor dem Sternenhimmel geöffnet, beschließt er, diese ins Leere gehende Zärtlichkeit den Zustand der Einsamkeit zu nennen.
Ende 1938 eröffnet Professor Scherrer seinem Schützling, die nächste Station seiner Laufbahn sei Kalifornien. Er werde zu Professor Robert Oppenheimer nach Berkeley gehen. Zunächst aber schickt er ihn in einer Sondermission nach Stockholm.
An einem Novembermorgen in aller Frühe klopft seine Gotte an die Tür. Sofort malt Wolfgang sich das Schlimmste aus. In der Familie hat sich ein Unglücksfall ereignet, der ihm indes nicht wirklich nahegeht. Seine Schwester Gamma hat sich an ihrem sechzehnten Geburtstag das Leben genommen. Auf dem Friedhof von La Chaux-de-Fonds verabschiedet er sich von ihr und nutzt die Gelegenheit, um Familie und Heimatstadt Auf Wiedersehen zu sagen. Bald wird er im Zug sitzen und durch das Deutschland von Reichskanzler Hitler nach Schweden fahren. Die Avenue Lèopold-Robert versinkt schon im Schnee, das Cafè Moreau, Schauplatz seiner Rendezvous, kommt ihm recht armselig vor. Heidi Stähelin, die er bei der Beerdigung trifft, spricht ihm mit trauriger Miene ihr Beileid aus. Er nimmt es ohne innere Betroffenheit entgegen. Die Wege seiner beiden anderen Schwestern sind inzwischen vorgezeichnet. Alpha wird Lehrerin werden, Beta Krankenschwester. Sein Vater wird untröstlich bleiben und seine Mutter die Frau eines unglücklichen Provinzbuchhändlers, die sich ihren Sohn als Dirigenten oder notfalls als Physikprofessor an der Neuenburger Universität zurechtfantasiert.
Er kann ihr nur versprechen, oft zu schreiben und sich nie mehr mit Nazistudenten zu prügeln. In Zürich glaubte er, ein paar jungen Hitzköpfen erklären zu müssen, dass ihr Hitler ein Taugenichts sei, der nicht einmal die Universität besucht habe. Daraufhin kam es zu einer Schlägerei, von der Wolfgang Spuren zurückbehalten hat, die seiner Mutter gar nicht gefallen.
Am Bahnsteig lässt Frau Steinamhirsch den Tränen, die sie bei der Beerdigung zurückgehalten hat, freien Lauf, während ihr Sohn ihr hinter der beschlagenen Fensterscheibe liebevoll, aber verlegen winkt. Ihm wäre es lieber, diese Frau mit dem schwarzen Hutschleier würde weniger Gefühl und mehr wohlgesittete Zurückhaltung zeigen. Im letzten Moment schiebt er das Fenster herunter und wirft Mama mit den Fingerspitzen einen Kuss zu.