Читать книгу Kamikaze Mozart - Daniel de Roulet - Страница 7
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Das Sammellager
Nach vierzehn Tagen Internierung wird Fumika erneut ins Ermittlungsbüro gerufen. Was wollen sie denn schon wieder von ihr? Zum dritten Mal schallt an diesem Morgen ihr Name aus dem Lautsprecher.
Umgeben von penetrantem Mistgestank, wartet sie in der Schlange. Auf der ehemaligen Pferderennbahn stehen die Zelte so dicht nebeneinander, dass man jedes Gähnen aus dem Nachbarzelt hört. Bräunliches Segeltuch, hässlicher Militärstil. Um Platz für die Evakuierten zu schaffen, wurden die Rennpferde zu ihren Besitzern zurückgeschickt. Hinter den geschlossenen Wettbuden haben die Soldaten Stacheldraht gespannt. Gelbe drinnen, Bleichgesichter draußen.
Fumika versteht nicht, wie Shizuko verschwinden konnte. Falls sie auf einem Dampfer über den Pazifik geflohen ist, hätte sie ihr vorher Bescheid sagen können. Und im Fall eines Rendezvous hätte eine kurze Nachricht genügt. Sie hatten sich doch geschworen, sich nicht zu trennen, hatten die gemeinsame Flucht geplant. Vor fünf Tagen, als der Lautsprecher ihren Namen nannte, hatte sich Shizuko guter Dinge auf den Weg zum Ermittlungsbüro gemacht. Danach wurde sie nicht mehr gesehen. Hat sie das Personal beschimpft, einen Zwischenfall provoziert, Widerstand angekündigt?
Wenn man aufgerufen wird, muss man zunächst in der Sonne Schlange stehen, nur selten spenden ein paar träge, mollige Wolken Schatten. Dann wird man reihum hinter einem Vorhang befragt, ohne sich setzen zu dürfen.
Auch vor den Duschen langes Warten. Morgens sind die Männer dran, nachmittags die Frauen. Ein Aushang informiert darüber, wie die Internierung der Japaner ausländischer und nicht ausländischer Herkunft geregelt ist. Es müsse Ordnung herrschen, heißt es dort, der Gebrauch einer anderen Sprache als der englischen sei untersagt und jeder Aufstand ende vor dem Kriegsgericht. Angeblich schießen sie einem direkt ins Herz.
Essen gibt es genug, dafür aber mangelt es an anderen Dingen. Zum Beispiel an Musik. Seit zwei Wochen hat Fumika keine Klaviertasten mehr gesehen. Mit dem Finger einer Partitur zu folgen und den ersten Wolfgang nur im Kopf zu spielen, hat nicht dieselbe Wirkung. Wenn kein Klavier die Noten zum Klingen bringt, verlieren sie irgendwann jegliche Existenz. Sie lassen sich nicht berechnen wie physikalische Teilchen.
Fumika hat sich in die Schlange gestellt, die zum achten Rang hochführt. Sie will die Inspektorinnen um Erlaubnis bitten, das Zelt wechseln zu dürfen. Die Chefin ihres Zelts ist eine schmuddelige Matrone, die den ganzen Tag mit erloschener Zigarette im Mundwinkel herumläuft und achtzehn junge Frauen herumkommandiert. Morgens brüllt sie schon um halb sieben ihre Befehle. Die Matten müssen zusammengerollt, die Decken gefaltet, der Tee serviert und der Eingang gefegt werden. Um halb acht, wenn die Fahne der Vereinigten Staaten von Amerika zum Klang des Horns gehisst wird, müssen sich die Evakuierten in einer Reihe aufstellen, die schmalen Augen auf das den Mast hinaufwandernde Stück Stoff gerichtet.
In Japan war Fumika dank des Klaviers von den Nachmittagen befreit, an denen die Schüler zum Vaterlandsdienst anzutreten hatten. Ihre Schulkameradinnen mussten den Arm recken und Parolen zu Ehren Seiner Majestät unseres Kaisers deklamieren. Sie mussten schwören, dass niemals ein Fremder seinen Fuß auf den heiligen Boden der Vorfahren setzen werde.
Der Matrone hat sie sofort erklärt, ihre Finger vertrügen nicht den ganzen Tag Waschwasser, sie brauche sie noch zum Klavierspielen. Der Drache hat sich nur über sie lustig gemacht und ihre Künstlersorgen mit einem dreckigen Lachen quittiert. Ein Sammellager sei kein Konservatorium. Eine junge, zwanzigjährige Japanerin, die nicht mal die amerikanische Staatsbürgerschaft besitze, könne jederzeit für eine Spionin gehalten werden und vor dem Hinrichtungskommando landen. Kapiert? Die Mädchen, mit denen sie das Zelt teilt, haben in den Hügelstraßen von San Francisco gewohnt. Manche haben als Kellnerinnen gearbeitet, andere sind auf den Strich gegangen. Ihr Englisch ist so ordinär, dass es Fumika erröten lässt.
In den anderen Zelten richten sich Familien wie für ein verlängertes Picknick ein. Aus Brettern und Kisten zimmern sie sich Möbel zusammen. Zum Essen setzen Eltern und Kinder sich an einen wackeligen Tisch. Ab und zu reichen ihnen frühere Nachbarn einen Sack Reis oder Gemüse über den Stacheldrahtzaun. Die Wärter lassen es geschehen. Fumika beneidet die kleinen Kinder, die nicht zum Englischreden gezwungen werden. Diesen Verstoß gegen die Vorschriften erlauben sogar die uniformierten Lageraufseher, die mit ihrem Schlagstock unterm Arm zwischen den Zelten umherstreifen.
Die Schlange zum achten Rang wird immer länger, und die Sonne brennt. Vor Fumika wiegt eine Mutter ihr Baby. Hinter ihr wartet eine alte Frau, dem Schnitt ihres schwarzen Kleides nach zu urteilen, ist sie koreanischer Abstammung. Da Korea inzwischen zu Japan gehört, gelten auch Personen, deren Eltern dort geboren wurden, als Feinde der Vereinigten Staaten. Fumika lässt sich von der Alten erklären, wie ungerecht ihre Lage sei. Die Japaner seien alle schuld an ihrem Unglück, sagt sie. Fumika inbegriffen, sie habe in Kalifornien nichts zu suchen gehabt, hätte auf ihrem Archipel bleiben können, bei ihren Samurai und ihrem Kaiser … diesem Nichtsnutz.
Die Matrone hat sie und die anderen gewarnt: Jeden Streit vermeiden. Im Sammellager gebe es auch Agents Provocateurs. Angeblich haben die Inspektorinnen den Befehl, diejenigen zu enttarnen, die dem Reich der aufgehenden Sonne helfen könnten, in Kalifornien zu landen. Deshalb: Sich nie dazu verleiten lassen, mit Fremden über Politik zu reden.
Trotzdem kann Fumika es sich nicht verkneifen, der Alten zu sagen, dass sich Japan ihrer Meinung nach nicht auf eine Inselgruppe beschränkt. Seine Majestät unser Kaiser herrsche auch über mehrere Festlandgebiete, die zu ein und demselben Lebensraum gehörten.
Eine Frau in der Schlange, die so tut, als spreche sie zu ihrem Baby, rät ihr flüsternd, still zu sein, die Wände hätten Ohren. Fumika begreift, dass die Koreanerin womöglich eine dieser berüchtigten Agents Provocateurs ist. Mit einem Satz über das Glück, das man in dieser Gegend mit dem Wetter habe, beendet sie das Gespräch. Hier, sagt sie, könnten die Wolken anschwellen, ohne je ihr Wasser zu verlieren.
Darauf verflucht die Alte alle Japaner. Den Männern wünscht sie, dass sie den Krieg gegen Amerika verlieren, den Frauen, dass sie zweiköpfige Ungeheuer gebären. Keiner reagiert. Die Schlange bewegt sich langsam auf den Vorhang zu. Als Fumika an der Reihe ist, befragt eine uniformierte Beamtin sie anhand eines Ermittlungsbogens und verkündet dann, man werde ihr jetzt die Häftlingsnummer auf die Schulter tätowieren. Fumika protestiert. Nie und nimmer! Was wird Tetsuo Tsutsui denken, wenn er das schändliche Zeichen auf der Schulter seiner Verlobten entdeckt? Wie man weiß, ritzen die Völker des Westens den Myladies Lilien auf die Schulter. Und was werden ihre Eltern sagen? Und der Gesundheitsdienst im Hafen von Tokio, wenn sie so nach Hause kommt? Sie bleibt stur:
«Ich bin doch keine Prostituierte, Madam.»
«Du wohnst in Zelt 415?»
«Jawohl, im Zelt für alleinstehende Frauen.»
«Dann wirst du tätowiert.»
«Aber ich bin verlobt.»
«Das sagen alle.»
Fumika öffnet die Seitentasche ihres Kittels und zieht ein Foto heraus. Als die Inspektorin es ihr aus der Hand reißt, begreift sie, dass sie auch dieses Foto in ihr Kopfkissen hätte einnähen sollen. Verächtlich mustert die Frau das Bild. Die Uniform gefällt ihr ganz und gar nicht.
«Wer ist dieser Kerl mit den Tressen?»
«Mein Verlobter, Herr Tsutsui, Madam.»
«Kennst du sein Geburtsdatum?»
«1917, Madam.»
«Und seinen militärischen Rang?»
«Offizier der Luftwaffe, Madam.»
«Unteroffizier. Ich kenne mich aus.»
Das Foto wird beschlagnahmt. Auf der Rückseite notiert die Inspektorin Fumikas Angaben. Dazu ihren Namen, den der vermeintlichen Verlobten, zurzeit im Sammellager inhaftiert. Fumika soll sagen, ob sie irgendwelche Schriftstücke von diesem Tsutsui bei sich hat. Da ihr Nein zu zaghaft klingt, schickt die uniformierte Frau sie hinter einen zweiten Vorhang, fordert sie auf, ihre Taschen zu leeren und sich auszuziehen. Splitternackt bückt Fumika sich für die Analuntersuchung, schluckt die Tränen hinunter.
Noch einmal muss sie ihr Leben von vorne erzählen, angefangen beim Tod ihres Vaters. Das mit dem weißen Huhn im Kochtopf lässt sie aus. Nach dem Erdbeben, als Osaka nur noch aus Gestank und Verwüstung bestand, hat ihre Mutter beschlossen, wieder in ihr Heimatdorf bei Nagasaki zu ziehen. Dort hat Fumika auf einem alten, von einem Mönch gestimmten Klavier ihre ersten Melodien gespielt. Sie hatte das Gefühl, die Musik begleite ihre eigene Traurigkeit und die ihrer Mutter, die ihren Mann verloren hatte.
Später, aber davon braucht sie nicht zu erzählen, hat sie entdeckt, dass Musik auch fröhlich sein und neue Empfindungen auslösen kann. Weder Tränen noch Lachen, sondern Melancholie, verwoben mit einem Sehnen nach etwas, das man nicht anders ausdrücken kann als eben mit Musik.
Jeden Morgen hat ihre Mutter sie zwei Stunden vor ihrer Schwester Nobuko geweckt und sie ans Klavier gesetzt. Einsam kämpfte Fumika vor den Tasten gegen die Müdigkeit an. Der Lehrer schrieb ihr immer ganz genau das tägliche Übungspensum auf. Und er brachte jede Woche neue Partituren mit.
Mit zehn Jahren konnte sie ihr erstes Konzert auswendig spielen. Köchelverzeichnis 482, um genau zu sein. Die Inspektorin schreibt sich die Nummer auf. Das Dorf hatte nur sechstausend Einwohner, die Musikschule war sein ganzer Stolz. Ein Mäzen namens vom Pokk hatte die Errichtung des Gebäudes bezahlt und Instrumente gestiftet. Ein ordentlich gestimmtes Klavier für ihre mittellose Mutter. Jedes Jahr bewilligte Paul vom Pokk einem verdienstvollen Schüler ein Stipendium für ein Musikstudium in Nagasaki. Zur Einweihung der Schule war der Mäzen persönlich erschienen. Fumika hatte mit einem alten Mann mit geschmacklosen Fingerringen gerechnet, aber er war im selben Alter wie ihr verstorbener Vater. In den Ruinen des Erdbebens hatte der junge Ingenieur und Erbe eines Zementfabrikanten eine Rettungsmannschaft begleitet. Statt einfach Säcke mit Schweizer Zement für den Wiederaufbau des Landes zu spenden, hatte er sich für das Schicksal der Kinder interessiert, für ihre musikalische Ausbildung.
Mit vierzehn durfte sie ans Konservatorium von Nagasaki gehen. Ihre Mutter gab sie in die Obhut von Tante Yu, in deren Haus sich Fumika mit drei Cousins und Cousinen ein Zimmer teilte. Morgens stand sie immer früh auf und kam erst zum Abendessen wieder nach Hause. Neben den Klavierstunden wurde sie in Musiktheorie und Musikgeschichte unterrichtet. Sie träumte von Salzburg am Ende des 18. Jahrhunderts, hätte gern den ersten Wolfgang kennengelernt.
Ihr Lehrer am städtischen Konservatorium, ein Mann um die Dreißig und schon mit Glatze, vermittelte ihr seine Kunst. Er sparte nicht mit Lob, sagte oft etwas Nettes, wenn sie eine Passage gut gespielt hatte. Einmal schob er ihr eine Hand zwischen die Schenkel, aber das sagt sie der Inspektorin nicht.
Mit achtzehn, nach ihrem Konzertdiplom, kandidierte sie für das Auswahlverfahren. Ein internationales Stipendium für ein Musikstudium in den Vereinigten Staaten, ebenfalls von Paul vom Pokk gestiftet. Sie trug ein vom zwölfjährigen Mozart komponiertes Concerto vor. Schwer zu spielen, selbst für Ältere. Die Jury beglückwünschte sie, verlieh den Preis aber dem Sohn des Konservatoriumdirektors, dem jeder ansehen konnte, dass er weder Talent noch Lust zu lernen hatte. Im Jahr darauf wählte die Jury, diesmal keiner Anweisung unterworfen, einstimmig Fumika und beglückwünschte auch ihre Mutter. Die freute sich, dass ihre vielversprechende Tochter eines Tages genug verdienen würde, um eine ganze Familie zu ernähren.
Drei Wochen später, im August 1940, ging sie an Bord eines Passagierschiffs, das von Tokio nach San Francisco zwölf Tage brauchte, mit Zwischenstation auf Hawaii. In Berkeley wurde Shizuko, die erste Studentin, die sie nach ihrer Überfahrt kennengelernt hatte, ihre beste Freundin. Schade, dass diese nun unauffindbar ist.
Ende der Aussage, Fumika unterschreibt. Die Inspektorin fügt das Datum ein und setzt zwei Stempel aufs Papier. Auch sie will sich nicht zu Shizukos Verbleib äußern.
Dann begleiten zwei Frauen in Uniform Fumika bis zu Zelt 415, durchwühlen ihre spärliche Habe, finden ohne langes Suchen den ins Kopfkissen eingenähten Brief ihres Verlobten. Die Entdeckung hat, wer weiß warum, zur Folge, dass Fumika nicht tätowiert wird. Man verlegt sie in einen aus Stein gebauten Pferdestall, Gebäude 321, in dem bereits drei Familien zusammengepfercht sind, deren kleine Kinder im Stroh schlafen.
Da diese Japaner schon seit zwei Generationen in Kalifornien leben, sind sie nicht begeistert von ihrer Gegenwart. Sie sind Bürger der Vereinigten Staaten, haben alle japanischen Traditionen abgelegt. Wäre nicht ihre Hautfarbe, hätte niemand das Recht, ihnen Scherereien zu machen. Ein würdevoller älterer Herr schildert ihr seine militärische Laufbahn in allen Einzelheiten. Während des Ersten Weltkriegs sei er Infanterist bei den nordamerikanischen Streitkräften gewesen, habe an der Seite der Franzosen in Belgien gekämpft. Wegen des Giftgases habe er einen Lungenflügel verloren. Doch um das Sternenbanner zu verteidigen, wäre er bereit, abermals seinen Dienst anzutreten. Fumika nickt, vermeidet es, ihm zu widersprechen, bietet an, seine Stiefel zu wienern. Zwei Tage dauert es, bis der ehemalige Soldat ihr Angebot annimmt. Schließlich erklärt er, die Neue stehe unter seinem Schutz. Er werde sie die Kunst des Grabenkampfes lehren. Um ihn nicht zu verärgern, versteckt sich Fumika unter dem Tisch und hechtet mit lautem «Ta-ta-ta-ta!» hervor. Er sagt, wenn man ein guter Krieger sein wolle, dürfe man nicht davor zurückschrecken, sich auch selbst zu töten. Zum Glück ist Fumika kein echter Soldat.
Ein paar Tage später reicht sie im Ermittlungsbüro einen Antrag ein. Doch obwohl sie alle Verwaltungsformulare ausgefüllt hat, gibt man ihr weder das Foto noch den Brief ihres Verlobten zurück. Im Pferdestall stattet ihr ein Inspektor des militärischen Geheimdiensts einen Besuch ab. Er sieht verärgert aus. Sie muss ihm auf eine der oberen Tribünen des Stadions folgen, wo er sie auffordert, genau zu erklären, welche Art von Verbindung sie zu dem von ihrer Familie ausgewählten japanischen Flieger unterhält. Wieder versichert sie, dass sie ihm nie begegnet ist. Vor zwei Jahren sei sie dank eines Schweizer Stipendiums und des Vertrauens, das ihr Lehrer in Nagasaki in sie gesetzt habe, der inzwischen auf dem Feld der Ehre gefallen sei, zum Klavierstudium nach Berkeley gekommen. Der Inspektor wundert sich:
«Welches Feld der Ehre?»
«Der Dienst an unserem Kaiser.»
«Wo?»
«Jetzt ist er im Paradies.»
Von der Ohrfeige, die sie ihm geben musste, damit er seine Hand von ihren Schenkeln nahm, erzählt ihm Fumika nicht. Stattdessen erklärt sie, jetzt, im Mai 1942, würde sie sich, wenn sie nicht in diesem Lager inhaftiert wäre, auf ihr für August geplantes Konzertdiplom vorbereiten. Danach wolle sie nach Hause, nach Japan, zurückkehren, trotz der Angebote des Direktors des Symphonieorchesters von Kalifornien, der ihr eine steile Karriere prophezeit habe.
Am nächsten Morgen ruft der Inspektor sie erneut zu sich, um mehr über ihre Kindheit, ihren Klavierlehrer, ihre Familie zu erfahren. Er interessiert sich für die von Seiner Majestät unserem Kaiser angeordneten patriotischen Übungen am Konservatorium von Nagasaki. Und sie muss alles aufzählen, was sie über den Arbeitsablauf in der Mitsubishi-Werft unten vor Tante Yus Terrasse weiß. Abends, bei Sonnenuntergang, sah man nicht selten einen Flugzeugträger mit Dutzenden an Deck aufgereihter Jagdflugzeuge vom Typ Zero aufs Meer hinausfahren. Während sie ihrem Onkel, der als Lehrer an einem technischen Gymnasium arbeitete, den Rücken massierte, zählte dieser laut die Rettungsboote. Seiner Meinung nach war das die beste Methode, um herauszufinden, wie viele Seeleute an Bord waren. Auf zwei Männer kommt je ein Platz im Rettungsboot. Ein japanisches Schiff sinkt nie, ohne die Hälfte seiner Besatzung mit in die Tiefe zu reißen.
Sie kehrt zum Pferdestall und zu den Kindern zurück, denen sie beibringt, wie man Papier zu kleinen Schönwetterwolken faltet. Da es kein Buntpapier gibt, benutzen sie Essensverpackungen. Zum Beispiel Kakaotüten. Aber für die Wolkenpfoten fehlen ihr Trinkhalme. Die erwachsenen Kalifornier benutzen nämlich zum Trinken von Obstsäften ein höchst raffiniertes Nuckelsystem. Ein Trinkhalm ist ein Röhrchen, das man ins Glas steckt und durch das man die Flüssigkeit einsaugt. Wenn am Boden des Glases oder des Bechers oder in der Flasche nichts mehr übrig ist, erzeugt das Saugen ein lautes Geräusch, das Kinder nicht in die Länge ziehen dürfen. Seitdem die langen Trinkhalme im Lager Mangelware sind, vermissen alle dieses Schlürfgeräusch.
In Friedenszeiten kamen die Wettliebhaber jeden Sonntag hierher zur Rennbahn, um auf die glänzenden, herausgeputzten Pferde zu setzen. Auf der großen Tafel stehen immer noch die Namen der letzten Wette. Was ist aus den Reichen geworden, die hier ihre Mätressen spazieren führten? Und aus den Armen, die ihre gesamten Wochenersparnisse auf ein einziges Pferd setzten? An den Giebeln der winzigen, hinter den Tribünen aufgereihten Häuschen stehen noch die Startzeiten des letzten Rennens, die Sitzplatzpreise und die Namen der Pferde: Artamis, Balthazar, Camellia. Wenn der Krieg vorbei ist, werden sie wiederkommen. Und da in den zu Schlafsälen umfunktionierten Boxen noch immer der Geruch nach Pferdeäpfeln hängt, werden die Stuten sich wohlfühlen.
Die Zeit vergeht sehr langsam, wenn man kein Klavier hat. Die Gedanken schweifen in alle Richtungen. Abends kann Fumika nicht einschlafen, wandert am Zaun entlang, vorsichtig, um nicht vom beweglichen Lichtstrahl erfasst zu werden, mit dem der Soldat herumspielt. Er richtet seinen Schweinwerfer auf die Erde, da er ja nicht die Sterne am Himmel anstrahlen kann. Auch der alte Japaner, der den Ersten Weltkrieg in belgischen Schützengräben erlebt hat, steht manchmal mitten in der Nacht auf. Bei der Pferdetränke gesellt sich Fumika zu ihm. Er erzählt ihr aus seinem Leben. Sie lässt ihn seine Geschichte wiederholen, ohne ihn zu unterbrechen, springt mit leisem «Ta-ta-tata!» aus dem Schützengraben. Er zielt auf sie und bedankt sich von ganzem Herzen.
Tagsüber revanchiert er sich, indem er ihr zeigt, wie man durch Himmelsbetrachtungen Langeweile vertreibt. Sie lernt, die Wolkenfamilien an ihrer Position und ihrer horizontalen Ausdehnung zu erkennen. Zum Schluss kann sie sie alle beim Namen nennen. Besten Dank, mein Herr.
Im Lager kann sich jeder zum Zeitvertreib eine Geschichte ausdenken. Fumika malt sich aus, sie wäre ein junges Mädchen aus Salzburg, vergisst ihre Insel, sieht sich als die Verlobte eines jungen Mannes mit deutschem Akzent. Das Haar mit einer Schleife im Nacken zusammengebunden, verbeugt er sich tief, nach altem Brauch. Sie reicht ihm die Hand. Eine geschmeidige Geste, wie bei einem Anfangsakkord. Und er, Wolfgang, gibt ihr mit einem strahlenden, spitzbübischen Lächeln auf dem Gesicht einen angedeuteten Handkuss. Abends setzt Mozart sich im Kerzenschein ans Cembalo und komponiert für sie allein eine Sonate in D-Dur.
Vier Monate vergehen, die Haft dauert an. Nach und nach leert sich das Sammelzentrum, die Insassen werden in weniger provisorische Lager verlegt. Manche machen, wenn sie auf der Liste erscheinen, am Abend vor ihrer Abreise eine Runde durchs Lager und verabschieden sich. Fumika spürt ihre Beklommenheit, als bedauerten sie plötzlich, dass man einander fremd geblieben ist, unfähig war, mehr als Höflichkeiten auszutauschen. Zuerst verschwinden die Zeltbewohner, dann die Stallbewohner. Jeden Morgen werden ganze Familien auf Armeelaster verfrachtet. Angeblich wurde in der Wüste von New Mexico ein festes Lager für sie errichtet.
Von Tag zu Tag wird der Herbsthimmel grauer, die Kälte schneidender. Federwolkenbänder, von den Höhenwinden in die Länge gezogen, treiben vom Ozean herüber, verweben sich immer dichter, bis sie eine milchige Decke bilden, die den Tag bis zum Abend in fahles Licht taucht. In den ungeheizten Ställen fehlt die Wärme der Pferde. Anfang Dezember entdeckt Fumika endlich ihren Namen auf der Liste der Abreisekandidaten des nächsten Tages. Zum letzten Mal wird sie ins Ermittlungsbüro gerufen, nimmt dort ihre Partituren entgegen, die wie Kriegsarchive aufbewahrt wurden. Auch den ersten Brief ihres Verlobten gibt man ihr. Und einen zweiten, der unterdessen eingetroffen ist.