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Berkeley

Februar 1939. Wolfgang überquert den Atlantik und den nordamerikanischen Kontinent. Professor Scherrer hat ihn vorbereitet: «Robert Oppenheimer ist ein toller Bursche, Sie werden sehen.» Und um ihn im Spektrum menschlicher Typen einzuordnen, hat er gesagt: «185 Zentimeter und 51 Kilo, 34 Jahre, Professor für theoretische Physik in Berkeley und am Caltech.»

Am Tag seiner Ankunft stellt Wolfgang sich bei Oppenheimers Sekretärin vor. Berkeleys Wiesen blühen in der Sonne, die Luft ist mild, die Mammutbäume sind riesig. Er spürt, dass er Kalifornien mögen wird. Die junge Frau, die sein Einführungsschreiben entgegennimmt, verschwindet im Nebenraum. Der Professor empfängt seinen Gast auf europäische Art mit einem kräftigen Händedruck und einer angedeuteten Umarmung. Als er Wolfgangs leichten Akzent hört, stellt er seine Fragen in perfektem Französisch. Er nimmt einen Stapel Papiere von einem Stuhl, bittet ihn, sich zu setzen, bleibt selbst aber stehen, unruhig. Er ist so mager, dass man das Gefühl hat, ihn im Profil zu sehen. Mit seinen unterschiedlich hohen Schultern wirkt er etwas schief gebaut. Sein Haar ist leicht gelockt, eher gewellt. Am stärksten aber fällt das intensive Blau seiner Augen auf und die in seinem Lächeln lauernde Ironie.

Sie unterhalten sich über Lise Meitner. Oppenheimer kennt Hahns Artikel über den Beschuss von Uran mit Neutronen.Wolfgang berichtet ihm von ihrem Gespräch in Stockholm. Es sei Lise Meitner gewesen, die den Begriff Spaltung erfunden und am Weihnachtsabend an Hahn geschrieben habe.

Oppenheimer zufolge hat ihr Briefpartner die Entdeckung umgehend veröffentlicht, und zwar unter seinem Namen. Meitner habe er nicht als Mitautorin des Artikels angeben können, da sie als Jüdin im Exil lebe. Seit einigen Tagen sei der Text sogar in Japan bekannt. In den Vereinigten Staaten habe er eine geradezu kopernikanische Revolution ausgelöst. Einstein soll dem Präsidenten der Vereinigten Staaten geschrieben und von einer neuen Möglichkeit berichtet haben, eine Bombe von unerhörter Sprengkraft zu bauen. Kernspaltung.

Zunächst habe er Zweifel an dieser Hypothese gehabt, sagt Oppenheimer, ja, Zweifel, wie Descartes, fruchtbare Zweifel. Doch nachdem er das Experiment in seinem Labor wiederholt habe, sei er zu einem glühenden Anhänger der Kernspaltung geworden. Voller Enthusiasmus wandert er in seinem Büro auf und ab. Auf jedem Tisch, jedem Stuhl stapeln sich Unterlagen, aufgeschlagene Bücher, offene Ordner. Auch an den über und über mit Blättern behängten Wänden ist kein Fleckchen mehr frei. In einem Regal entdeckt Wolfgang französische Romane, Aragon, Claudel, Martin du Gard. Auf Deutsch die dicken Bände von Marx’ Kapital. Auf Englisch John Steinbeck. An einer verschmierten Wandtafel stehen die abschließenden Berechnungen des Meisters über die Wirkung der Kernspaltung. Der Faktor zehn hoch sechs steht für das Verhältnis von Dynamit und Uran. Die Gleichung ist mit gelber Kreide doppelt unterstrichen. Ein Wert, der noch genauer zu berechnen wäre, nicht wahr? Für den Anfang wäre das eine interessante Sache, die er Wolfgang anvertrauen könnte.

«Was sagen Sie dazu, Steinamhirsch?»

Oppenheimer fügt der Aufgabe einige Arbeitsanweisungen hinzu. Er will nicht Herr Professor, sondern Oppie genannt werden. Jeden Freitag erwartet er ihn zum Mittagessen in seiner auf einem Hügel gelegenen Villa, zum Treffen der Professoren, Assistenten und Gastwissenschaftler. Man soll ihn ruhig so oft stören wie nötig, ohne Furcht vor seiner Sekretärin.

Wolfgang ist angetan von diesem neuen Arbeitsstil, der sich völlig von den preußischen Sitten an der Zürcher Hochschule unterscheidet. Auf väterliche und zugleich zwanglose Art nimmt Oppie ihn beim Arm, um ihn mit seinen anderen Assistenten bekannt zu machen. Jedem einzelnen stellt er ihn als den Mann vor, der kürzlich Lise Meitner begegnet ist. Und fügt hinzu: «Die Frau, der wir die Kernspaltung verdanken.»

Ein sympathisches Team. Alle bewundern Oppie und scheuen sich nicht, ihm zu widersprechen, wenn er sich bei Einzelheiten ihrer Biografie irrt. Unter einem Mammutbaum draußen im Park, neben dem Gebäude für theoretische Physik, schildert Oppie seinem neuen Assistenten nun auch seinen eigenen Lebenslauf.

Er stammt aus einer jüdischen Familie. Am Ende des 19. Jahrhunderts kam sein Vater aus Deutschland in die Vereinigten Staaten und machte mit dem Verkauf von Futtermaterial für Bekleidungen ein Vermögen. Oppie studiert in Harvard und Cambridge, schreibt anschließend in Göttingen seine Dissertation über die Quantentheorie kontinuierlicher Spektren. Er liebt Frankreich, hat Freunde in England, schwärmt von Korsika, spricht Holländisch, hat die spanischen Republikaner gegen die Faschisten unterstützt, reitet und erleidet von Zeit zu Zeit einen Nervenzusammenbruch. Will er Wolfgang schmeicheln, als er über die Schweiz sagt: «Nie in meinem ganzen Leben habe ich produktiver gearbeitet als in den wenigen Monaten in Zürich mit Pauli und Scherrer. Ich träume davon, Berkeley zu einem ähnlichen Ort wie eure ETH zu machen.»

Als Wolfgang abends das Buch liest, das Oppie ihm geliehen hat, L’Espoir von Malraux, notiert er sich daraus einen von einem früheren Leser unterstrichenen Satz: «Er sah aus wie ein junger Einstein und gleichzeitig wie ein zu groß gewachsener Chorknabe.»

Eine Woche nach seiner Ankunft in Berkeley schickt er seiner Mutter einen langen Brief, in dem er ihr seinen neuen Chef mit so überschwänglichen Worten beschreibt, dass sie sich in ihrer Antwort besorgt erkundigt, ob er neben dem so verherrlichten Gelehrten da drüben in Kalifornien vielleicht auch eine wie auch immer geartete Erfüllung seines Liebeslebens gefunden habe.

1939, 1940, 1941. Wolfgang ist hingerissen von der Bucht von San Francisco. Endlich Platz, große Weiten, die Unendlichkeit des Meeres statt der Schweizer Berge, die ihm den Blick auf den Horizont verstellten. Hier findet er, was er schätzt: ein geregeltes Leben, intelligente Kollegen, eine wissenschaftliche Herausforderung fern allen Säbelrasselns. Europa versinkt im Krieg, Wolfgang beginnt seine Tage mit zwei Stunden Geigenspiel.

Freitags freut er sich auf das Mittagessen bei Oppie. Dessen Haus in den Hügeln liegt an einem Hang mit Blick auf die Bucht. An den getäfelten Wänden Navajoteppiche, mexikanische Silberschmiedearbeiten. Eine herzliche Atmosphäre, in der jeder über den Stand seiner Forschungen berichtet. Die Gäste stellen sich selbst vor. Einige kommen von der Ostküste, andere aus Australien oder Großbritannien. Wolfgang hat den Eindruck, die theoretische Physik schreite mit großen Schritten voran. Man braucht ihr nur auf dem Fuß zu folgen.

Im Dezember 1941, nach dem japanischen Angriff auf Pearl Harbor und dem Kriegseintritt der Vereinigten Staaten, ruft der Chef seine Mitarbeiter zusammen. Aus seiner kleinen Ansprache geht hervor, dass die Wissenschaftler in Friedenszeiten in ihren Forschungen frei gewesen seien, sich jedoch in Kriegszeiten in den Dienst der Demokratie stellen müssten. Da nun ein anderes Klima herrsche, würden Forschungsergebnisse nicht mehr in internationalen Zeitschriften publiziert, sondern unterlägen der militärischen Kontrolle.

Wolfgang bekommt einen Brief von seiner Mutter, die ihm erzählt, wie stolz sie sei, den Kunden in der Buchhandlung mitteilen zu können, dass ihr Sohn sich für die Befreiung Europas einsetzt. Auch klagt sie über die reichen deutschen Juden, die sich in La Chaux-de-Fonds niedergelassen haben. Sie vertrieben sich die Zeit damit, im Laden die Bücher zu zerlesen, statt sie zu kaufen. Mutters Schlussfolgerung: «Hoffen wir, dass sie bald wieder nach Hause können und du hier in meiner Nähe einen Lehrstuhl bekommst.»

Eines Abends auf dem Campus schaut Oppie im Labor vorbei, das in einem Kellergeschoss hinter dem Kampanile liegt. Die Ergebnisse weichen um den Faktor zwei von den Berechnungen ab. Wolfgang versteht diese Ungenauigkeit nicht, für den Professor aber bedeutet der klare Faktor zwei, dass es sich nicht um einen banalen Irrtum handeln kann. Um eine ganze Oktave habe man sich vertan, sagt er. Er fragt Wolfgang geradeheraus, ob er noch immer Geige spielt. Wolfgang bejaht, Diplom in einem Monat. Darauf stellt Oppie eine sonderbare Frage:

«Werden wir mit Ihrem Mozart den Krieg gewinnen?»

Im ersten Augenblick weiß Wolfgang nicht, was er erwidern soll. Oppie spricht sich nicht wirklich gegen Musik aus, aber sein kleiner Satz über Mozart lässt Zweifel aufkommen. Fortan achtet Wolfgang genau darauf, wie lange er Geige spielt, als raube er diese Stunden den Kriegsanstrengungen. Bei seiner Diplomprüfung lässt er sich von Fumika begleiten, einer bildhübschen japanischen Pianistin, der er nicht den Hof zu machen wagt. Als der Name Steinamhirsch auf der Liste der bestandenen Diplomprüfungen auftaucht, gratuliert ihm Oppie. Und doch liegt im Blick des Meisters ein Hauch von Missbilligung. Wolfgang bittet ihn nicht, seine Gedanken auszusprechen. Schließlich reitet Oppie doch täglich aus, genau wie Professor Scherrer. Ist angesichts der vordringlichen Bekämpfung des Nationalsozialismus nicht auch Reiten Zeitverschwendung? Da die Frage offen bleibt, sieht Wolfgang den schwarzen Kasten seiner Gagliano schief an. Am Tag nach dem Diplomkonzert, als er das Rosshaar seines Geigenbogens mit Kolophonium bestrichen hat, nimmt er den kleinen stumpfen Bleistift zur Hand, mit dem er die Bogenstriche notiert, und schreibt in Großbuchstaben auf den grünen Umschlag einer Köchelpartitur: «Werden wir mit Ihrem Mozart den Krieg gewinnen?»

Da ihm ein Nein auf einmal selbstverständlich erscheint, klappt er den Geigenkasten zu und beschließt, das weiße Seidentaschentuch, den Bogen und das schöne Instrument, das ihm seine Mutter geschenkt hat, nie wieder in die Hand zu nehmen … Nach der Niederlage der Nazis, wenn wieder Frieden in der Welt herrscht … Wenn ich nach Europa zurückkehre und eine Frau finde, wenn ich wieder französischen Wein trinke und die Schweizer Armee demobilisiert wird, erst dann wird die Musik wieder zu ihrem Recht kommen, erst dann werde ich den schwarzen Holzkasten wieder öffnen und auf meiner kostbaren Gagliano spielen. Sogar mehrere Stunden täglich.

Er traut sich nicht, seiner Mutter zu schreiben, dass er die Geige aufgibt und folglich nie Dirigent werden wird. Gewiss ahnt sie es bereits. Solange man sich beides erlauben konnte, hat er die Musik und die Erforschung der Materie mit ganzer Kraft betrieben, die Atomphysik zum Wohl der Menschheit, die Geige für sich selbst. Doch irgendwann bringen die Ereignisse jedermanns Privatleben durcheinander.

Auch Fumika sagt er nichts von seinem Entschluss. Was er für sie empfindet, geht sie nichts an, solange er ihr seine Liebe nicht gestanden hat. Sie wäre die dritte Frau in seinem Leben. Nach Heidi Stähelin und Lise Meitner.

Einige Zeit darauf bestellt ihn Oppie in sein Büro und schlägt ihm vor, in Enrico Fermis Labor in Chicago zu wechseln. Eine neue, diesmal von den Militärs kontrollierte Mission. Amerika erweist ihm eine große Ehre. Obwohl er Schweizer Staatsbürger ist, wird er an einem internationalen Projekt mitarbeiten, bei dem sich die Wissenschaft untermittelbar dem Kampf gegen den Nationalsozialismus zur Verfügung stellt.

Kamikaze Mozart

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