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April 1942

Seitdem ihr Wolfgang begegnet ist, kann Fumika ihn nicht mehr aus ihrem Herzen vertreiben. Im Studentinnenwohnheim klappt sie ihren Taschenspiegel auf. Morgens beim Aufwachen ist ihr rechtes Auge schmaler als das linke. Fumika, sagt sie sich, du bist zu einsam. Kalifornien und dieses Berkeley bekommen dir nicht. Du bräuchtest eine große Liebe, aber eine geteilte.

Später am Vormittag konzentriert sie sich auf ihr Klavierspiel. Eine halbe Stunde Tonleitern, dann fünf Seiten aus dem grünen Heft und anschließend Fingerübungen. Noch einmal holt sie den Spiegel hervor. Zwischen ihren Augen herrscht wieder Gleichgewicht, der Abglanz von Wolfgangs Lächeln ist verschwunden.

Sollten eines Tages, wenn dieser neue Weltkrieg zu Ende ist, andere junge Japanerinnen wie Fumika in die Vereinigten Staaten auswandern wollen, dann müssen sie eines wissen: In diesem Land ist alles zu groß. Die Hochhäuser im Zentrum von San Francisco kratzen an den Wolken. Jede x-beliebige Avenue nimmt mehr Platz ein als die Kais im Hafen von Nagasaki, wo Fumika immer dem Flugzeugträger beim Auslaufen zusah. Papierkörbe, mächtig wie Tonnen. Landesflaggen, breit wie Planen. Sogar die Haufenwolken, die vor jedem Gewitter über der Bucht schweben, sind größer als in Japan. Und in den Wohnheimbetten würden sich Riesenstudentinnen wohlfühlen, Fumika aber sehnt sich nach den Paravents aus Papier, den Bambusbrücken, dem Vulkan und nach einem charmanten europäischen Geiger …

An diesem schönen Morgen im April 1942 beendet sie ihre Übungen mit einem Stück von Mozart, das so langsam und fröhlich ist wie ein breites Lächeln. Mittags lässt sie mit dem Fuß ihren Schemel kreisen, dreht sich um sich selbst, bis der Rock aufschwingt, freut sich, dass Donnerstag ist, Schwimmbadtag. Den einteiligen Badeanzug hat sie schon zurechtgelegt. Ihre Freundin Shizuko hat sie überredet, sich die Brust nicht länger mit Bandagen einzuschnüren. Hier trägt man ein Stoffteil unter der Bluse, das sich Büstenhalter nennt. Es ist leicht zu waschen. Beim Aufhängen am Wäscheständer des Wohnheims sieht man, wie es gemacht ist. Für jede Brust eine kleine Schale, für jede Schulter einen Riemen und einen weiteren zum Verschließen im Rücken. Damit lässt sich der Busen gut verstecken, auch wenn das bei Fumika nicht nötig wäre. Tante Yu hat immer gesagt, Eleganz sei, nicht mehr Brust zu haben als ein Mann. Wer hätte gedacht, dass Tante Yus Brust eines Tages durch die einschießende Milch so stark anschwellen würde? Die Ärmste!

In der Campuskantine nimmt Fumika ihre Mahlzeit gemeinsam mit einer anderen Pianistin ein, deren Familie aus Tokio herübergekommen ist, allerdings schon vor zwanzig Jahren. Shizuko ist in den Vereinigten Staaten aufgewachsen, besucht am Konservatorium von Berkeley denselben Kurs wie Fumika und spricht lieber Englisch. Mit ihren Tabletts gehen sie in den für Asiaten bestimmten, deutlich dunkleren Teil des Speisesaals. Seit dem Kriegseintritt Seiner Majestät unseres Kaisers von Japan im Dezember 1941 werden sie von den Küchenmädchen grundlos beschimpft. Heute aber vergoldet die Sonne die Spitze des Kampanile und die weißen Tulpen in den Beeten vor dem Physiklabor.

Gut gelaunt essen sie, stoßen sich mit den Ellbogen an, glucksen übermütig. Shizuko erzählt Fumika von dem Tag, als sie von einem reichen japanischstämmigen Reisimporteur ein Stipendium bekam. Dank ihm ist sie jetzt nicht mehr von ihrer Familie abhängig. Vor allem nicht von ihrem Vater, einem ziemlich gewalttätigen Mann. Für die Küchenmädchen legen sie die ausgespuckten Kirschkerne herzförmig auf ihre Tabletts, dann gönnen sie sich einen faden, ohne Zeremonie zubereiteten schwarzen Tee. Immer noch besser als Kaffee. Tee gibt es umsonst, so sparen sie Geld für die Partituren, die sie dem alten Bibliothekar abkaufen.

Die japanischen Stipendiatinnen führen ein anderes Leben als die übrigen Studentinnen. Die Bälle am Wochenende dürfen sie nicht besuchen. Im Wohnheim stehen ihnen pro Stockwerk nur zwei statt acht Duschen zur Verfügung. Im Orchester des Konservatoriums nehmen sie nur an den Proben teil. Seit letztem Dezember herrscht Auftrittsverbot.

Fumika zeigt Shizuko das Foto ihres Verlobten aus Nagasaki, den ihre Mutter und Tante Yu für sie ausgesucht haben. Sie möchte Shizukos Meinung hören. Das Foto zeigt einen würdevoll aussehenden jungen Mann in der weißen Ausgehuniform der Unteroffiziere der japanischen Luftwaffe. Shizuko, flüsternd:

«Ich finde, er hätte lächeln können.»

«Lächeln auf dem Foto? Das ist was für Amerikaner.»

«Nein, er sollte für dich lächeln, Fumika.»

«Ein Soldat hat nicht zu lächeln.»

«Liebst du ihn?»

«Nein, Wolfgang mag ich lieber.»

«Aber Herrn Tsutsui wirst du heiraten.»

Das fängt ja gut an. Alles ist schon arrangiert. Dabei mag Fumika in Wahrheit einen anderen lieber. Wolfgang, der zweite dieses Namens, ist viel größer als Mozart und nicht so zierlich. Der Geiger heißt Wolfgang Steinamhirsch. Fumika hat herausgefunden, was der deutsche Name bedeutet. Kann man einen laufenden Hirsch mit einem einzigen Stein aufhalten?

Anfangs dachte Fumika, er habe sie nicht bemerkt. Bis er sie eines Tages bat, ihn bei seinem Diplomkonzert zu begleiten. Welche Ehre! Er kommt aus der Schweiz, aus La Chaux-de-Fonds, war in Stockholm und dann in Berkeley. Bevor er die Geige abstützt, legt er sich immer ein weißes Tuch über die Schulter. Wenn er spielt, hält Fumika den Atem an, und manchmal verkneift sie sich eine Träne. Jetzt, wo er nach Chicago gezogen ist, sollte sie weniger an ihn denken. Er hat seine Tage im Labor für Teilchenphysik verbracht. Angeblich hat er dort etwas berechnet, das man nicht sieht. Ein bisschen wie in der Musik. Die hat auch noch niemand gesehen. Aber gespielt. Für ihn eine Nebenbeschäftigung. Na dann, leb wohl, Wolfgang.

«Ihr seht euch bestimmt wieder», sagt Shizuko. «In der Zwischenzeit könntest du einen anderen kennenlernen. Ich stell dir mal einen vor, der sehr gut küsst, mit der Zunge …»

Sie gehen bei der Hausmeisterin ihres Wohnheims vorbei, wo ein Fahrrad für sie bereitsteht. Eins für zwei. Badeanzüge und Handtücher verstauen sie im Lenkradkorb. Fumika setzt sich im Damensitz auf den Gepäckträger. Gemächlich radelt Shizuko die Telegraph Avenue entlang. Eine Brise fährt ihnen unter die roten Röcke und ins Haar. Fumikas Haar ist mittellang und mit dem Onduliereisen gewellt, Shizuko hat ihres zur Seite gekämmt und den Pony mit einer Klammer festgesteckt. Beide tragen ein helles Kopftuch darüber, Konservatoriumstracht.

Auf den Terrassen der großen Holzhäuser halten Männer ihren Mittagsschlaf. Mit etwas gutem Willen könnten sie in weniger als einer Stunde den Müll aufsammeln, der nicht erst seit diesem Frühjahr in ihren Gärten herumliegt. Die Größe der Schaukelstühle unter den Vordächern beeindruckt die Mädchen. Sie stellen sich vor, dass auf einem dieser Holzsitze ohne Weiteres eine ganze japanische Familie Platz fände. Aber in Kalifornien werden sie nur von einer einzigen Person benutzt. Jemanden, der schon dort sitzt, zu fragen, ob man mit ihm schaukeln dürfte, wäre ungehörig. Hier behalten die Männer ihre Wiege ein Leben lang.

Im Schwimmbad haben die Weißen ihre eigenen Tage: Samstag, Sonntag und Montag. Der Dienstag ist für die Mexikaner und andere Mischlinge reserviert. Mittwochs sind die Schwarzen dran. Erst donnerstags, wenn das Wasser schon trübe ist, dürfen die Gelben rein, morgens die Männer, nachmittags die Frauen. Freitags macht das Schwimmbad zu, das Becken wird geleert, der Boden geschrubbt. Samstags, wenn die Weißen wieder an der Reihe sind, ist Sauberkeit garantiert.

Um nichts in der Welt würden die beiden Freundinnen auf ihr Donnerstagsschwimmen verzichten. Ohne Eile fahren sie an einer Reihe Eukalyptusbäume entlang, vergleichen ihre kleinen Abenteuer und unterhalten sich über Fumikas Verlobten, den offiziellen. Sie fragen sich, ob Herr Tsutsui beim Angriff auf Pearl Harbor dabei war. Wegen dieser Pazifikinsel gelten sie beide jetzt als Feinde. Die japanischstämmigen Ladenbesitzer haben handgeschriebene Schilder mit der Aufschrift «Ich bin Amerikaner» in ihre Schaufenster geklebt. Als ob es nicht reichen würde, dass sie die Waffeln, die sie einem verkaufen, mit Senf und Ahornsirup beschmieren.

Shizuko erzählt, im Radio habe sie den Präsidenten der Vereinigten Staaten seinen Mitbürgern erklären hören, dass die auf der hawaiischen Inselgruppe stationierte us-Flotte feige angegriffen worden sei. Er habe Maßnahmen angedroht, damit Freiheit und Demokratie überall auf der Welt respektiert würden. Mit dramatischem Tonfall habe er mehrmals gesagt, so gehe es nicht. Die Vereinigten Staaten ließen sich nicht demütigen. Und was nun geschehen werde, habe Japan selbst zu verantworten.

Sie wundern sich über diesen behinderten Präsidenten, der sich mühsam im Rollstuhl fortbewegt. Könnte man sich Seine Majestät unseren Kaiser ohne Beine, immer sitzend vorstellen? Wie würde er denn Befehle erteilen? Wie bei Militärparaden seine Generäle grüßen? Gar nicht einfach. Wenn dieser Präsident Roosevelt im Radio spricht, hört man gleich, dass er keine Beine mehr hat.

Shizuko fragt sich, ob seine Rede vielleicht erklärt, warum eine Angestellte sie gestern Abend in der Bibliothek als dreckige Japse beschimpft hat. Fumika entgegnet, sie wolle sich einen so schönen Tag nicht verderben lassen. Sie gehen jetzt schwimmen und denken nicht mehr daran. Nichts ist aufregender, als vom Sprungturm ins Wasser zu springen. Diesmal werden sie es von der dritten Plattform aus versuchen, sich die Nase zuhalten und möglichst weit draußen im Becken landen.

Die eine stellt Fragen, die andere tritt in die Pedale. Wie viele Kinder sie wohl in die Welt setzen werden? Shizuko will ungefähr zehn, von einem Amerikaner. Darauf legt Fumika ehrlich gesagt keinen Wert. Selbst als ihre Freundin sagt:

«Wenn du von deinem Piloten ein Kind bekommst …»

«Du spinnst ja! Erst heiraten wir.»

«Dann nennt ihr es Wolfgang.»

«Wenn Seine Majestät unser Kaiser das hören würde …»

«Er ist nicht mehr mein Kaiser, Fumika.»

«Achtung, Kreuzung.»

Nur knapp kann die Radfahrerin einem Lastwagen ausweichen, den eine blühende Magnolie verdeckt hat. Am Schwimmbad angekommen, stellen sie das Rad an einen Mammutbaum, der so dick ist wie fünf japanische Eichen zusammen. Über die Schranke hinweg bewundern sie das Becken, den blau gestrichenen Sprungturm, die schrägen Bretter, auf denen sie sich in die Sonne legen können.

Fumika beschreibt ihren Geigenspieler Wolfgang genauer. Na ja, einen Makel hat er. Der ist ihr gleich beim ersten Mal aufgefallen. Hinten, am linken Ende seines Lächelns, fehlen ihm zwei Zähne. Er sagt, er habe sich in der Schweiz mit Studenten geprügelt. Davon habe sein Gebiss dieses Andenken zurückbehalten. Außerdem habe er damals auch ein zugeschwollenes Auge, ein paar ausgerissene Haarbüschel und mehrere Beulen davongetragen. Sie hätten ihn am Bordstein liegen lassen, nachdem sie ihm zwei Rippen gebrochen hätten. Von all dem habe er sich erholt, außer von diesem unschönen schwarzen Loch im Mund, das ihn daran erinnere, dass er mit Berlin noch eine Rechnung offen habe, selbst wenn das Ganze in Zürich passiert sei. Fumika und Shizuko finden beide, dass er für diesen kleinen Schönheitsfehler nichts kann. Außerdem gewöhnt man sich schnell daran. Beim Essen kann er ja auf der anderen Seite kauen. Jedes Mal, wenn er lächle, sagt Fumika, verberge er das Loch mit der Zunge. Das mache er sehr gut. «Eigentlich», schließt sie, «verstehe ich nicht, warum er sich für Physik statt für die Geige und mich interessiert. Dieses Chicago, wo er jetzt lebt, ist viel zu weit weg.»

Im Schwimmbad ist kein einziger Badegast zu sehen. Das Becken ist leer. Nicht eine Welle im Wasser. Was ist los? Was hat das zu bedeuten? Über die Schranke hinweg halten sie Ausschau. Der Aufseher, der normalerweise ein Fünfcentstück dafür verlangt, dass er am Drehkreuz die Sperre löst, hat seinen Posten verlassen.

Eine mit einem großen Plakat überzogene, vom Kleister noch feuchte Tafel versperrt den Durchgang. Mehrere junge Frauen stehen schweigend davor und lesen. «Anweisungen an alle Personen mit japanischen Vorfahren.» Fumika liest den Text laut und fröhlich vor, als sei es ein Brief ihres Verlobten. Aber hier geht es um etwas ganz anderes. Nicht nur ist das Schwimmbad geschlossen, die Badegäste werden ernsthaft ermahnt:

«Alle Bürger japanischer Abstammung mit oder ohne amerikanische Staatsbürgerschaft, die sich noch auf amerikanischem Territorium aufhalten, werden aufgefordert, sich zwischen morgen, Freitag, 8 Uhr, und übermorgen, Samstag, 17 Uhr, in einem Sammelzentrum einzufinden. Folgendes ist mitzubringen: Laken und Decken (keine Matratzen), Toilettenartikel, Kleidung zum Wechseln, Messer, Gabeln, Löffel, Teller, Schalen sowie unentbehrliche persönliche Habe. Jeder Gegenstand wird verpackt und erhält ein Etikett mit dem Namen und der von den Behörden vergebenen Registriernummer.

Die Bündel dürfen nur so groß sein, dass eine Person allein sie tragen kann. Das Mitführen von Tieren ist verboten. Kein Gegenstand darf von Dritten zum Sammelzentrum gebracht werden.

Die Regierung der Vereinigten Staaten wird sich über ihre Behörden um die Besitztümer der Evakuierten kümmern sowie um den Verkauf ihrer Immobilien, für die die Verantwortung allein bei den Eigentümern liegt.» Was bedeutet das? «Dies gilt auch für Kühlschränke, Waschmaschinen, Klaviere und anderes schweres Mobiliar.

Auf Wunsch werden Küchenutensilien gelagert, aber nur wenn sie sachgemäß verpackt und mit der Registriernummer ihres Besitzers versehen sind. Jede Familie und jede alleinstehende Person wird nach Anweisung der Kontrollstelle für Zivilbevölkerung zum Sammelzentrum gebracht.

Gezeichnet: Der Armeekommandant der Territorialzone.»

Schwer zu verstehen, diese üble Nachricht. Die eine zupft ihr Kopftuch zurecht, die andere reißt es sich wütend herunter. Sie hoffen, das Ganze ist nur ein Scherz, über den sie gleich lachen werden, wenn sie in ihre Badeanzüge schlüpfen.

Aber die anderen Studentinnen um sie herum ziehen so lange Gesichter, dass ein Irrtum wohl ausgeschlossen ist. Einer der beiden rollt unverhofft eine Träne über die Wange. Die andere hakt sie unter, schweigend gehen sie über die Straße zu ihrem Fahrrad zurück, das an dem riesigen Mammutbaum lehnt. Ein weltweites Unglück, dessen Ursache man nicht begreift, ist schnell passiert. Und kann einem den Schwimmbadnachmittag am Donnerstag restlos verderben.

Um fünf Uhr nachmittags hätten sie Unterricht in Musiktheorie. Allen, die nicht erscheinen, hat der Lehrer den Ausschluss von den Abschlussprüfungen angedroht. Was ist wichtiger: die Erklärungen des Meisters zur Harmonie einer Quinte oder die öffentliche Bekanntmachung eines Armeekommandanten der Territorialzone?

So leicht kommen ihnen nicht die Tränen, aber die Lust am Radfahren ist ihnen vor lauter Kummer vergangen. Sie versuchen, sich zu beruhigen, schließlich können sie es zu zweit mit diesem Krieg aufnehmen.

«Wir sollten abhauen, Fumika.»

«Zu spät.»

«Man wird uns einsperren.»

«Aber wir haben doch nichts Böses getan, Shizuko.»

«Uns den Schädel rasieren, uns die Nägel ausreißen.»

Fumika will dem Ganzen etwas Positives abgewinnen, sagt, jetzt habe sie eine gute Ausrede, um nicht nach Japan zurückzukehren. Um diesen Herrn Tsutsui nicht zu heiraten. Und auf Wolfgangs Rückkehr zu warten. Wenn der erfahre, dass sie in Schwierigkeiten steckt, werde er kommen, um sie zu retten.

Im Gegenteil, meint Shizuko, Liebe und Krieg dürfe man nicht durcheinanderbringen. Es ist so ungerecht, wenn das Leben eine Wendung ins Unglück nimmt. Sie sind beide dreiundzwanzig Jahre alt. Wäre das nicht genau der richtige Moment zum Glücklichsein? Außerdem war Shizuko am Abend mit einem neuen Verehrer im Bett verabredet. Ist das auch bald verboten?

Zum Trost erzählt Fumika von früherem Schmerz. Von ihrem Vater, der starb, als sie erst vier war. Während des Erdbebens waren die Vulkane erwacht. Unter den Trümmern fand man seine Leiche nicht wieder. Eines Abends, als ihre Mutter dachte, sie schlafe, hörte Fumika ein Gespräch unter Erwachsenen mit an und erfuhr von dem Grauen, das geschehen war: Ihr Vater war in das kochende Wasser des Vulkans gefallen und hatte um sich geschlagen. Ihre Mutter erzählte den Erwachsenen, sein Körper sei weiß geworden wie ein Hühnchen im Kochtopf. Er habe entsetzlich geschrien, und niemand habe ihn retten können.

Shizuko findet es unnötig, dass man ihr von fernen Abscheulichkeiten und vom Unglück anderer erzählt. Darüber lässt sich leicht reden, wenn man es selbst überlebt hat. Alles Vergangenheit. Aber wie man bevorstehendem Unglück begegnen soll, weiß man nicht. Fumika merkt, dass ihre Freundin anfängt, ins Blaue hinein zu philosophieren. Also gut, Shizukos Vater, wohnhaft im Staat Ohio, schlägt sie, was aber immer noch besser ist als sadistische Soldaten. Nein, sagt Shizuko, zu ihrem Vater geht sie nie mehr zurück. Sie spricht von ihm wie von einem Ungeheuer, dem sie für immer entkommen ist. Nichts wird besser mit der Zeit. Im Gegenteil, die Zeit zieht einen hinein in den Schmerz.

Nehmen wir mal eine Mozart-Sonate. Erst kommen tieftraurige Passagen, als müsse die ganze Welt verzweifeln. Doch plötzlich huschen ein paar heitere Töne vorbei, berühren das Herz. Man hat das Gefühl, der Schmerz sei vorbei, die Leichtigkeit wieder da.

Na gut, und was jetzt? Alles in einen Koffer packen und sich im Sammelzentrum einfinden? Ob auch die Partituren ins Gepäck passen? Lieber würden sie fliehen. Aber wie? Fumika könnte als Indianerin durchgehen, als Apachin oder Navajo zum Beispiel, und sich in einem pueblo in der Wüste verkriechen. Aber Shizuko würden alle ansehen, dass sie nicht von hier ist, das steht ihr ins Gesicht geschrieben. Deshalb wird sie sich auf einem Schiff verstecken und nach Europa reisen müssen. Aber da ist Krieg. Ob die Leute in Europa genug zu essen haben, um einen asiatischen Flüchtling zu ernähren?

Sie beschließen, sich nicht von der Traurigkeit unterkriegen zu lassen. Dafür ist es noch zu früh. Dieser Krieg hier kann dauern. Doch was immer geschieht, sie werden sich nicht trennen, das schwören sie einander. Das gibt ihnen den Mut, zum Konservatorium zurückzufahren.

In der Telegraph Avenue steigen sie ab und laufen neben dem Rad her, jede auf einer Seite. Die Männer in ihren zu großen Schaukelstühlen unter den Vordächern schauen ihnen wortlos hinterher. Seit einer Weile folgen ihnen drei Schüler mit Ranzen auf dem Rücken und machen sich über ihre Konservatoriumskopftücher lustig. Plötzlich schreit einer: «Dreckige Japsen!»

Zwischen dem linken Ohr der einen und dem rechten der anderen zischt ein Steinchen vorbei.

Kamikaze Mozart

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