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DIE UNVERÖFFENTLICHTE PLATTE ALS BLAUPAUSE
ОглавлениеEs gibt nicht wenige Platten, bei denen die unveröffentlichte Platte zum Entstehungsprozess der letztendlich veröffentlichten Platte gehört. Oftmals ist es nur ein Arbeitstitel, der sich verselbstständigt und in Fan- Mythen weiterlebt. Manchmal ist es aber auch ein Projekt, das so viele Iterationen durchmacht, dass der Beginn kaum etwas mit dem Endergebnis zu tun hat. Folglich bleibt es meist den Fans selbst überlassen, ob sie das Album als eigenständiges Werk ansehen. Wie sehr muss sich die erschienene Platte von der nicht erschienen Platte unterscheiden, damit sie als unveröffentlichtes Album in die Historie eingeht? Ist NIRVANAs »In Utero« im ursprünglichen Mix von Steve Albini ein eigenständiges Album? Nur weil Scott Litt »Heart Shaped Box« neu mixte und Cobain dafür neue Backing-Vocals und eine Akustikgitarre aufnahm? Oder wegen des neuen Mixes zu »All Apologies«? Oder vielleicht doch, weil in letzter Minute der Song »I Hate Myself and Want to Die« vom Album gestrichen wurde? Für Albini ist die Sache klar: Das Album, das er lieferte, war gänzlich anders als das, was letztlich herauskam. Auch Bob Weston, der mit ihm zusammen die Aufnahmen ausführte, bestätigt diese Einschätzung. Erst 2003 erschien in England eine Vinyl-Neuauflage von »In Utero«, die auf Albinis ursprünglichen Mix zurückgriff. Allerdings wurden die Aufnahmen in den Abbey Road Studios remastered. Wer das Exemplar mit der Bestellnummer 424 536-1 sein Eigen nennt, wird feststellen müssen, dass die Unterschiede doch relativ marginal sind. Und auch Albini hat mit der Zeit seinen Frieden gefunden, das Wichtigste für ihn sei, dass die Platte, die in die Läden kam, eben die war, die die Fans hören sollten.
Cover des Promo-Tapes von »Verse Chorus Verse«
Aber ist es wirklich so einfach? Während des Entstehungsprozesses hatte »In Utero« nicht nur einen, sondern gleich zwei Arbeitstitel. Zum einen »Verse Chorus Verse«, ein Titel, der den generischen Aufbau von Popsongs aufgriff und zum anderen »I Hate Myself and Want to Die«, einen Titel, den Cobain selbst als »ziemlich negativ, aber auch irgendwie lustig« bezeichnete. Damals enthielt das Album auch noch einige Songs mehr. Darunter der temporäre Titelsong »Verse Chorus Verse«, der ebenfalls zusammen mit Albini eingespielt wurde. 1993 erschien er als Hidden-Track auf dem Benefiz-Sampler »No Alternative«. Unter dem Titel »Sappy« wurde er dann später auf dem Box-Set »With the Lights Out« sowie der Jubiläumsedition von »In Utero« 2013 verwertet. Auch der andere temporäre Titelsong, »I Hate Myself and Want to Die«, wurde mit Albini aufgenommen und erblickte das Licht der Welt auf einer Compilation (»The Beavis and Butt-Head Experience«), wurde aber von der finalen »In Utero«-Tracklist gestrichen, da das Album laut Cobain bereits genug lärmige Songs hatte.
Zumindest zeitweise waren »Verse Chorus Verse« und »I Hate Myself and Want to Die« sogar zwei eigenständige Alben. In seinen Tagebüchern schrieb Cobain, dass er als erstes die rohe Albini-Version mit insgesamt 14 Songs als »I Hate Myself and Want to Die« ausschließlich auf Vinyl, Kassette und 8-Track und ohne Promotion veröffentlichen wolle und einen Monat später dann die uns bekannte Version mit überarbeiteten »Heart Shaped Box« und »All Apologies« auf LP, CD und Kassette mit lediglich zwölf Titeln, allerdings unter dem Titel »Verse Chorus Verse« und nicht »In Utero«. Unklar bleibt, ob der andere Titel auch ein anderes Tracklisting impliziert hätte. Wir kennen also »In Utero« und vielleicht über Umwege sogar die Albini-Version mit dem identischem Tracklisting, aber mit Sicherheit kennen wir nicht das zeitweise geplante Album mit dem Titel »I Hate Myself and Want to Die«. Womöglich wäre auch diese Platte mit dem Titel »Verse Chorus Verse« ganz anders als »In Utero« gewesen.
BRUCE SPRINGSTEEN: THE TIES THAT BIND (1979)
01. The Ties That Bind
02. Cindy
03. Hungry Heart
04. Stolen Car [andere Version als auf »The River«]
05. Be True
06. The River
07. You Can Look (But You Better Not Touch) [Andere Version als auf »The River«]
08. The Price You Pay
09. I Wanna Marry You
10. Loose End
»The River« von BRUCE SPRINGSTEEN dagegen war zuerst gar nicht als Doppelalbum geplant und Springsteen hatte mit »The Ties That Bind« Ende 1979 bereits ein fertiges Uptempo-Album in der Tasche. Als er dann aber den ruhigen Song »The River« schrieb, war ihm klar, dass er das Stück nicht zurückhalten konnte. Der Song über ein junges Paar, das wegen einer ungewollten Schwangerschaft dasselbe gleichförmige Leben ihrer Eltern und Großeltern führen musste, erzählte die Geschichte von Springsteens Schwester Ginny. Gleichzeitig passte er aber auch von der Stimmung her nicht auf »The Ties That Bind«. Springsteen schrieb also weitere neue Songs und erweiterte das Album zur Doppel-LP. »Zu klein« erschien ihm die ursprüngliche Platte, und auch mit der Produktion und dem Sound war er unzufrieden. So wurden aus geplanten fünf Wochen Studiozeit geschlagene 18 Monate. »Stolen Car«, enthalten auf beiden Alben, unterscheidet sich jeweils stark im Arrangement. 2015 wurde das geplante Album letztlich in einem Box-Set so veröffentlicht, wie es ursprünglich geplant war, ergänzt um allerlei Bonusmaterial und einer Dokumentation.
Gänzlich umgekehrt war dagegen der Weg, den Springsteen bei »Nebraska« einschlug. Springsteen spielte die Demos der Songs zusammen mit Mike Batlan auf seinem Teac-Vierspurrekorder an einem Tag im Januar 1982 ein. Ganze 15 Stücke zeichneten die beiden bis tief in die Nacht auf. Für die meisten brauchte Springsteen nicht mehr als vier oder fünf Takes, darunter auch ein nicht ganz unbedeutender Song namens »Born in the USA«. An weiteren Tagen kamen einige wenige Overdubs hinzu, bevor die Songs abgemischt wurden.
Springsteens Produzent und Manager Jon Landau war nach der Übergabe der Tapes sofort klar, dass die meisten Songs nur wenig Bearbeitung brauchten und im besten Falle von folkigen Arrangements getragen werden sollten. Einige Songs verlangten aber nach rockigeren Versionen. Also ging Springsteen mit seiner E STREET BAND ins Studio und nahm einige der Demos neu auf. Unter den zwölf Stücken dieser ersten Session befanden sich allerdings hauptsächlich Songs, die wir nicht von »Nebraska« kennen, sondern vom Nachfolger »Born in the USA«, neben dem Titelstück u. a. auch »Glory Days« und »Cover Me«.
Erst in einer zweiten Session nahm die Band Stücke wie »Johnny 99«, »Mansion on the Hill«, »My Fathers House« und »Open All Night« auf. Das eigentliche Ziel, durch die Demos mit der Band effektiver im Studio zu arbeiten, erwies sich allerdings bald als Fehleinschätzung. Vielmehr vermisste Springsteen den rauen, folkigen Klang seiner ursprünglichen Aufnahmen. Mehr als einen Monat brauchte er, um sich sicher zu sein: Der Weg, den er mit Band eingeschlagen hatte, machte keinen Sinn.
Also fragte er Tontechniker und Produzent Tobe Scott, ob es nicht möglich wäre, ein vernünftiges Ergebnis zu erzielen, indem man einfach die Demos mastern würde. Ein grandioser wie auch mutiger Schachzug, Nebraska wurde Blaupause für Lo-Fi-Singer-Songwriter*innen und eines der besten Alben des Bosses. Mit dem kompromisslosen Sound lief Springsteen allerdings Gefahr, Kritiker*innen wie Fans zu vergraulen. Das Album kletterte dennoch bis auf Platz 3 der Billboard Charts, und schon ein Jahr später wurde das Werk durch JOHNNY CASH geehrt, der zwei Songs der Platte coverte.
Obwohl Springsteen gerne alte Schätze aus seinen Archiven kramt, sagte sein Manager Jon Landau 2006, dass es unwahrscheinlich sei, dass die Bandaufnahmen, die Fans »Electric Nebraska« tauften, je erscheinen werden. Einzig und allein die Liveshows von 1984 und 1985 können einen Eindruck davon vermitteln, wie diese vielleicht klangen.
Auch die COWBOY JUNKIES hatten Schwierigkeiten mit der Produktion, als sie den Nachfolger zu ihrem Erfolgsalbum »The Trinity Sessions« aufnehmen wollten. Wieso also nicht das Erfolgsrezept wiederholen? Statt einer Kirche wählte die Band diesmal ein Museum, den Sharon Temple. Wie auch schon bei den »Trinity Sessions«, nahm die Band mit einem einzigen 360°-Mikrofon auf. Ganze drei Tage brauchte Produzent Peter Moore, um klanglich brauchbare Aufnahmen überhaupt erstellen zu können. An nur einem Nachmittag nahm die Band dann das Album auf, das Fans »The Sharon Temple Sessions« tauften. Die Band war zufrieden und übergab die Aufnahmen ihrem Label, das sich weniger begeistert zeigte. Gemeinsam wurde beschlossen, das Album erst einmal zurückzuhalten. Nach einer Tour, auf der die neuen Songs frische Arrangements bekamen, entschloss sich die Band, die Platte noch einmal von Anfang einzuspielen. Dieses Mal in einem Studio. Zwar wurde wieder mit einem 360°-Mikrofon aufgenommen, doch alle Instrumente wurden zusätzlich auch einzeln abgenommen, sodass die Band für das Abmischen der Platte einen Externen suchte. Unzufrieden mit dem gelieferten Ergebnis, übernahmen letztendlich die Cowboy Junkies selbst, ergänzt um Moore und Tontechniker Tom Henderson, die Abmischung der Platte. So gibt es das Album, das unter dem Namen »The Caution Horses« erscheinen sollte, tatsächlich in drei Versionen, von denen bisher nur eine offiziell erschien. Ein Relikt der »Sharon Temple Sessions« fand in Form des Covers dennoch seinen Weg an die Öffentlichkeit. Dort ist die Band nämlich vor besagtem Gebäude zu sehen.
Offizielles Cover von »The Caution Horses«: Die Cowboy Junkies vor dem namensgebenden Sharon Temple.