Читать книгу Die drei Emigrationen der Sonja Berg - Daniel Levin Becker - Страница 10

Spurensuche, Berlin 2017

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Sonjas Erzählung klingt mir nach drei Jahrzehnten noch gut im Ohr, aber ich bin doch etwas skeptisch gegenüber meiner eigenen Erinnerung und zugleich neugierig darauf, mehr herauszufinden über Personen und Orte der Geschichte.

Da ist zunächst Sonjas Vater Gustav Hackel und seine jüdisch-orthodoxe Familie aus Mitau, heute Jelgava in Lettland.3 Vor meinem inneren Auge stelle ich mir, wenn Sonja von der ärmlichen Herkunft ihres Vaters und der Wanderschaft des Großvaters erzählte4, ein ostjüdisches Schtetl vor. Im Laufe meiner Recherche muss ich dieses Bild revidieren. Auf alten AufnahmenI ähnelt Mitau – mit herzoglichem Schloss, humanistischem Gymnasium und baumbestandenem Marktplatz mit klassizistischen Fassaden – eher einer deutschen Provinzstadt.5

Im Mitauer Adressbuch von 1892 finde ich den Eintrag J. M. Hackel, Große Straße 39. J. M. könnte für Jacob Moses stehen, so hieß Gustavs Vater – vielleicht wurde seine Mutter Leah, geb. Lewiss, noch unter dem Namen ihres (damals bereits lange verstorbenen6) Mannes geführt? Hier ist diese Spur leider zu Ende. Es müssen außer Gustavs Mutter noch weitere Verwandte in Mitau gelebt haben, denn Flora erwähnt in einem Brief aus dem Jahr 1905: »… haben unseren Neffen aus Mitau zu Besuch, der eben sein Abiturium macht und unsere Jungen während der Sommermonate beschäftigen soll.« Dies muss ein Sohn von Gustavs einziger Schwester sein, denn seine drei Brüder lebten alle inzwischen in St. Petersburg. Leider wird sein Name nicht angegeben, wie auch von Gustavs Schwester in den Familienannalen weder Name7 noch Geburtsdatum je erwähnt werdenII. All dies sind wohl Indizien, dass die Beziehung nach Mitau nicht allzu eng war, wenn nicht sogar von bewusster Distanz geprägt. Ich erinnere mich nicht, dass Sonja je erzählt hätte, sie sei in Mitau gewesen, noch findet sich in Floras umfangreichen Aufzeichnung irgendein Hinweis darauf. Vielleicht ist hier ein – damals unter assimilierten Juden durchaus verbreitetes – Verhaltensmuster erkennbar, die als rückständig empfundenen Wurzeln abzustreifen.III

Auch über die von Sonja – dann doch mit etwas Stolz – erwähnten Vorfahren der Hackels, die Rabbiner wurden, kann ich nichts Gesichertes herausfinden. Offenbar muss diese Tradition bereits mindestens zwei Generationen zurückgelegen haben.8 IV Gustav und seine Geschwister wuchsen jedenfalls bereits in einem Milieu auf, das stark von bürgerlich-weltlichen Einflüssen geprägt war. Seine drei jüngeren Brüder machten alle am Mitauer Gymnasium Abitur. Die beiden jüngeren, Ludwig und Arthur9, besuchten jeweils für ein Jahr die Universität in Dorpat und eröffneten 1895 in St. Petersburg gemeinsam eine Apotheke.V JeannotVI, der zweitälteste, schloss in Dorpat ein Medizinstudium ab und wurde Arzt, ebenfalls in Petersburg.10 Seine 1891 abgeschlossene Doktorarbeit ›Ein Beitrag zum Erhängungs- und Erstickungstode im engern Sinn‹ finde ich in der Staatsbibliothek Berlin. Die Universität Dorpat war die einzige deutschsprachige Universität im zaristischen Russland. Die Beibehaltung von Deutsch als Lehrsprache gehörte zu den Privilegien, die Russland den Provinzen Kurland und Livland gewährt hatte, als diese Teil des russischen Reiches wurden. In den 1880er-Jahren fand eine umfangreiche Russifizierung statt, von der die auf Deutsch abgefasste Dissertation von Jeannot Hackel jedoch noch nicht betroffen gewesen zu sein scheint. Auf dem Vorblatt steht: ›Meinem Vetter Doctor Edward Lewiss aus Petersburg in Liebe und Dankbarkeit gewidmet.‹ Wahrscheinlich hatte dieser Verwandte mütterlicherseits ihn während seiner Ausbildung finanziell unterstützt. Offenbar beruhte dies auf einer umfassenderen Abmachung der Familien Lewiss und Hackel. Flora berichtet in ihren Erinnerungen, Gustav habe ihre Mitgift benötigt, um seinem Bruder Jeannot die ›Kaltwasserheilanstalt von Dr. Lewiss‹ zu kaufen.


Gustav Hackel, St. Petersburg, um 1910

Bei meiner Recherche finde ich einen weiteren Hinweis zur kulturellen Sonderrolle Kurlands. Aus den Privilegien, die der kurländischen Bevölkerung bei der Einverleibung ins Zarenreich zugestanden wurden, ergab sich auch innerhalb des Ostjudentums eine Sonderstellung: Ein ›Kurischer‹ war kulturell nach Deutschland ausgerichtet und hatte üblicherweise eine deutsche Schulbildung erhalten, der Gebrauch des Jiddischen war auf dem Rückzug. Zugleich fühlten sich die kurischen Juden Russland besonders verbunden, als Treuebezeugung für die relative Unabhängigkeit innerhalb Kurlands – oder als Schutzmechanismus, um angesichts des erstarkenden Nationalismus den Vorwurf des ›vaterlandslosen Gesellen‹ zu entkräften, der den Juden in Zeiten der Verfolgung immer wieder gemacht wurde.VII

Sonja charakterisiert ihren Vater so: seines kulturellen jüdischen Hintergrundes bewusst, dabei stark in der deutschen Sprache und Kultur verwurzelt, zugleich glühender russischer Patriot – vielleicht hätten seine Zeitgenossen Gustav als typisches Beispiel für einen ›Kurischen‹ angesehen.

Zum Schluss frage ich mich, was aus möglichen in Mitau verbliebenen Verwandten geworden sein mag. Im Mitauer Adressbuch finde ich den Eintrag: ›Hebräischer Friedhof, an der Ruhenthal-Bauska-Straße, 4 Werst von der Stadt, vis-à-vis der Strautneek-Buschwächterei‹. Es gibt in Lettland ein Projekt zur Abschrift jüdischer Grabsteine. Aber Jelgava/Mitau ist aus irgendeinem Grund nicht dabei. Schließlich finde ich eine Quelle, die Aufschluss gibt: Beim Einmarsch der Deutschen nach Lettland 1941 war Mitau einer der ersten Orte, an denen die jüdische Bevölkerung zusammengetrieben und an Ort und Stelle von Erschießungskommandos getötet wurde. Dies geschah unter anderem auf dem jüdischen Friedhof, der anschließend vernichtet wurde.VIII Die Welt der Mitauer Hackels und Gittelsohns existiert nicht mehr.

Einfacher als bei Gustav Hackel stellt sich die Quellenlage bei Sonjas Mutter dar. Hunderte von ihr verfasste Briefe finden sich in Sonjas Nachlass, ebenso ein langer Text, in dem sie für ihre Kinder und Enkel Erinnerungen an ihre Jugend in Berlin festhält. Sie erzählt darin auch von ihrer im Kindbett verstorbenen Mutter und dem Vater, der kurz danach die Familie verließ und der erst wiederauftauchte, als sie erwachsen war:

Meine Mutter war 1830 geboren, sie war 27 Jahre alt, als sie heiratete. Zart, feinknochig und feinnervig, mit wunderschönen Händen und einem hübschen Gesicht, welches durch das gescheitelte über die Ohren frisierte Haar noch schmaler erscheint, muss sie nach damaligen Ansprüchen »charmant« gewesen sein. Die Handschrift hatte absolut Sophiechen von ihr geerbt. Wir hatten als einziges Andenken von ihr ein Poesiealbum, in denen Goethesche und Heinesche Gedichte in der Mehrzahl waren.

Es war nicht zu ihrem Glücke, dass sie den Schlossermeister Isidor Blumenthal heiratete. Zwar war er durchaus nicht das, was man sich unter einem Schlossermeister vorstellte. Doch war es durchaus charakteristisch für ihn, dass er gerade dieses Metier erwählt hatte. Als die Eltern (in Friedeberg in der Neumark) sich seinem glühenden Wunsch zu studieren, widersetzten und einen Kaufmann aus ihm machen wollten, erklärte er trotzig, er wolle Handwerker werden und zwar das schwerste Handwerk erlernen. Das war in damaliger Zeit für jüdische Begriffe ein Rückschritt in niedere Sphären! Er selbst erzählte aber später mit Freude und Humor von seinen Wanderjahren als sangesfroher Geselle, und wenn wir im Harz oder Thüringen waren, knüpfte er mit jedem Handwerksburschen teilnehmende Gespräche an.

An einer anderen Stelle ihrer Memoiren skizziert Flora das Umfeld in der Berliner Holzmarktstraße 61, wo sie gemeinsam mit ihrer Schwester Sophie im Haus ihrer Tante Bertha aufwuchs:

Unsere Wohnung lag im Parterre, einige Stufen hoch, darunter ein an einen Sattler vermieteter Keller. Aus einem kleinen Entree kam man in ein zweifenstriges Wohnzimmer, ein Tritt am Fenster mit Stuhl und Nähtisch darauf, war Tantes Lieblingsplatz. Nach hinten war ein einfenstriges Schlafzimmer, wo Tante mit uns schlief, und dann eine geräumige Küche, wo auch das Mädchen [Hausmädchen] schlief. Unser liebster Aufenthalt waren der sehr große Hausflur und der geräumige Hof, und ich meine noch Tante Berthas, »Töni« genannt, – Stimme zu hören, wenn sie immer wieder zu den Mahlzeiten rief und wir uns doch von den Spielen nicht trennen konnten.

Wir nahmen sowohl unter den Kindern des Vorderhauses wie unter den Handwerkskindern der Kleinwohnungen (24 Mieter waren es im Ganzen) als »Wirtskinder« eine besondere Stellung ein, alle – und wir mit – waren überzeugt, dass die Beutel mit harten Talern, das Ergebnis der Miete, zu unserem ureigensten Gebrauche da seien. Ich machte von unserer Vorzugsstellung wenig Gebrauch, Sophiechen aber war der »Führer« mit uneingeschränkter Macht und dem entsprechenden Despotismus. Ob Räuber und Prinzessin oder Theater gespielt wurde, wer die Hauptpersonen sein sollten, bestimmte nur sie, trotz freigiebig verteilter Ohrfeigen war sie aber beliebt, als »Emil« in der Straße bekannt, denn sie kletterte und sprang und war unternehmungslustig wie ein Junge. Ich war ihr zärtlich gehüteter Schützling, und vergalt’s ihr mit Liebe, Bewunderung und dem durch lange Jahre anhaltenden Wunsche, ihr zu gleichen.

Auch der Alltag der Petersburger Jahre, sie dauerten für Flora von ihrer Heirat 1890 bis zur Flucht 1918, ist bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges nahezu lückenlos durch das sogenannte Kindertagebuch (die Abschriften der Briefe, die sie an ihre Freundin Jenny Aron in Elbing schrieb) dokumentiert. Bemerkenswert ist ihr vollendeter Briefstil, aber auch ihre umfassende Bildung, ihr ausgeprägtes Selbstbewusstsein und ihre differenzierte Meinung zu den politischen Ereignissen der Zeit. Das Kindertagebuch beginnt damit, dass sie sich für eine verspätete Antwort entschuldigt und vage Andeutungen über ihre erste Schwangerschaft macht:

den 28. April 1891

Nicht böse sein bitte! Aber mir war nicht so recht in letzter Zeit.

Im nächsten Brief erzählt sie bereits ganz selbstverständlich, wie sie sich mit den Umständen arrangiert hat:

Einen Doktor oder eine ›sage femme‹ habe ich bisher nicht zu Rat gezogen und rechne mittels eigener Kombination, dass ›dat Würmchen‹ Ende October in die Erscheinung treten wird.

In Acht nehme ich mich nach Kräften, fahre so wenig wie möglich Iswostschik [Pferdedroschke, im Winter Schlitten], ängstige mich in schwarzen Stunden und freue mich wiederum unsäglich, dass auch dies Glück uns zuteil werden soll.


Flora und Sophiechen als Kinder, Berlin, um 1868

In den darauffolgenden Jahren beschreibt Flora anschaulich den Alltag mit ihren größer werdenden drei Jungen:

November 1902

In der Schule [war] Tanzabend für die großen Schüler von sechs bis zehn Uhr, und Bobby hat so lange gebettelt, bis er mitgenommen wurde. Bruno [ältester Sohn von Benno und Sophie Becker] der Arrangeur und wir Alten alle dabei. Sehr hübsch. Bobby sehr tanzlustig, aber leider in all den Tänzen nicht bewandert. Paul und Fredy waren im Tanzsaal nicht sichtbar, zogen es vor, sich in den Korridoren Schlachten zu liefern.

März 1903

Die Babyfrage ist wieder einmal bei uns auf die Tagesordnung gesetzt, und alles, was du in diesem Augenblicke denkst, denke ich schon seit Wochen. Ich hab einen ordentlichen Hass auf die Leute, die mir immer zu einem Mädel so freundschaftlich zugeredet haben, obgleich die sozusagen ja nicht die Schuld tragen. Gustav ist noch mehr außer sich wie ich, wir hatten uns das Altwerden schon so bequem zurechtgelegt, und nun sollen wir wieder jung werden. Sophiechen findet das sehr hübsch; ich bin einerseits zu träge dazu, andererseits tut mir das Baby leid, das unfehlbar verzogen werden wird. Bitte davon niemandem etwas verlauten zu lassen, ich liebe es nicht, wenn acht Monate vor der Geburt des Kindes von ihm schon die Rede ist.

Sophiechen spielt im Schweiße ihres Angesichts Klavier, täglich 2 Stunden. Und ich? Lerne wieder Babys wickeln.

An dem Wohnungswechsel ist übrigens nicht Baby schuld, sondern in erster Linie Bobby, der uns im Schlafzimmer beschwerlich wird, obgleich er, wie aus dem Erfolg zu ersehen, das Eheleben nicht gestört hat.

Ich bin beeindruckt über die Offenheit, mit der Flora ihren Gefühlen hier freien Lauf lässt. Als Sonja dann glücklich auf der Welt ist, ist sie wieder mit dem Schicksal versöhnt:

Ihr glaubt gar nicht, wie einem zu Mute ist, wenn man den Berg hinter sich hat, und so ein kleines Wesen mit gesunden Gliedern vor sich. Das ist wirklich ein Wunder, so oft man es von neuem erlebt. Und wenn man dazu in guter Pflege ohne Zwischenfälle der Genesung entgegen geht, und der Gatte strahlend, wie er nur strahlen kann, sich mit Mutter und Kind freut, und wenn man die Tausend, vorläufig kleinen Sorgen und Mühen mit Feuereifer übernimmt, dann vergisst man schnell die ausgestandenen Beschwerden und wundert sich nur, dass man sich nicht schon neun Monate auf das Kind gefreut hat.


Paul, Fredy, Bobby, St. Petersburg, um 1900


Sonja, St. Petersburg, um 1912

Floras Ansichten über Erziehung sind wahrscheinlich geprägt von ihrer eigenen Kindheit, in der sie – für die damalige Zeit und die Gesellschaftsschicht, der sie angehörte – ungewöhnlich viel Freiheit besaß:

Ich genieße die Kinder ordentlich und finde sie interessanter als meinen sonstigen Verkehr. Dein Lob, dass ich mit den Kindern in gesunden Tagen nicht ängstlich bin, verdiene ich nur bedingt. Im innersten Herzen bin ich’s und zwar in der tollsten Weise, alle möglichen Ängste ausdenkend. Aber ich beschränke die Kinder deshalb nicht in ihrer Freiheit, wohl wissend, dass ihnen, wenn man sie an der Leine führt, auch alles Unglück zustoßen kann. Mit anderen Müttern aber herumzuunken, Krankheitsgeschichten auszutauschen et cetera, finde ich die größte der zahllosen Geschmacklosigkeiten, an denen unsere Gesellschaft so reich ist.

[…]

Wir hatten kürzlich ein Schulerlebnis; gottlob nicht mit unseren Kindern, sondern mit Franks [einer befreundeten Familie] ältestem, 14-jährigen. Der Junge hat unanständige Bilder in die Schule gebracht und ist ausgeschlossen worden. Zu streng nach unser aller Urteil, da er nicht, wie der Direktor annimmt, den Knaben damit etwas Neues gezeigt hat, vielmehr etwas, von dem sie alle wussten. Als wir unsere Jungen ins Gebet nahmen, zeigten sie sich sehr wohl unterrichtet und behaupteten ›es‹ zu wissen, seit sie die Schule besuchen. Ich sagte, ich wolle gar nicht wissen, was auf den Bildern gewesen, ich könne mir denken, es hänge damit zusammen, wie die Kinder geboren werden. Ja, wie es anfängt, lautete Fredys klassische Antwort.

[…]

Klavierunterricht der Kinder, [davor] graue ich mich umso mehr, als ich dabei gar nicht helfen kann, und die Lust meiner Söhne zum Spiel gewiss nicht größer sein wird als in anderen Häusern. Falls sich die Jungen als ganz talentlos oder ganz unlustig erweisen, gebe ich nach zweijähriger Probe das Spiel auf. Soviel Genuss die Musik bietet, hab ich doch nie verstanden, warum gerade sie zur Kunst für alle bestimmt sein soll, warum ein heranwachsender Mensch die wenigen freien Stunden, die ihm das Lernen lässt, gerade darauf verwenden muss.

Über eine Affäre, die Paul mit einer der Gouvernanten anfing, schreibt sie:

Mademoiselle est de retour, aber ich nehme sie nicht mehr wieder, ich glaube, ich schrieb dir schon, dass Paul ihr im vorigen Jahr hinter unserem Rücken Besuche gemacht hat. Große Frage: A-t-il déjà quelque chose à déclarer?11 Er sagt Nein.

Flora sieht die Verhältnisse in Russland kritisch. 1903 schreibt sie:

Meine Jungen sind heute nicht in der Schule, und die Elektrizität brennt nicht, beides aus demselben Grund: Überschwemmung. Heute Morgen sah es schrecklich aus, die Straßen ganz überschwemmt. Seit mehr als 100 Jahren soll da Remedur geschaffen werden, aber der berühmte Schlendrian.

Und etwa um dieselbe Zeit:

Mir tut es leid, dass die Jungen Russen geworden sind, sie sind selbst aber sehr zufrieden damit. Wo soll’s auch herkommen? Bei jeder freien Meinungsäußerung heißt es von allen Seiten: um Gottes willen den Mund halten! Unsere Auslandsstudenten12 sind ganz anders. Was wird aus meinen kleinen Russen werden? Ich bin wie die törichte Else im Grimmschen Märchen und gräme mich jetzt schon um alles, was nicht aus ihnen werden kann.

Den Russisch-Japanischen Krieg 1904 sieht Flora schon als Vorboten weit schlimmerer Ereignisse, sie schreibt an Jenny:

Wer weiß, zu wessen höherer Ehre ich dereinst meine Jungen totschießen lassen muss!

Im gleichen Jahr, als Gustav in einer Lotterie eine größere Summe gewinnt und davon ein Bankkonto für Sonjas spätere Aussteuer anlegt, ist Flora strikt dagegen – sie blickt skeptisch in die Zukunft:

Ich bin eine schlechte Mutter, denn wenn ich das Geld gewonnen hätte, so hätte ich nicht für Sonetschka weggelegt, sondern zunächst einmal eine feine Reise gemacht, die wieder eine goldene Erinnerung fürs Leben hätte werden können und uns allen somit bessere Zinsen tragen könnte, als Sonja das schnöde Geld. Muss denn in 20 Jahren das Mädel auch noch eine Mitgift haben? Und wenn in Russland alles drunter und drüber geht, wird dies Geld gerade festliegen? Und wenn man das Geld hat, kriegt man darum einen besseren Mann?

Die Ereignisse der Revolution von 1905 kommentiert sie so:

26. Oktober 1905

Eben kommt Bobby nach Hause; die Kinder sind aus der Schule entlassen. ›Goworjat bunt‹13. Es wird ernst. Möchtest du gern in einer historischen Zeit leben? Hätte ich die Kinder im Ausland, zum Beispiel bei dir, dann glaube ich, wäre ich bereit, die Sache als historisch interessant zu betrachten. Danke! Aber schicken kann ich sie dir nicht, denn erstens geht keine Eisenbahn und zweitens geht überhaupt nichts. Meine Kinder hätte ich auch lieber nach deutschen Prinzipien in Deutschland erzogen, da sie nun einmal Russen sind, so heißt es doch damit fertig werden. Was aus dem Sturm der Bastille, des politischen Gefängnisses, das auf der Wyborger Seite14 ist, geworden ist, die für Nachmittag geplant war, weiß ich nicht. Gus ist mit den Jungen hingegangen, sich die Demonstrationen ansehen, ich wäre auch mitgegangen, aber Bob ist bettlägerig, und das Stubenmädchen hat eine starke Angina. Dass wir totgeschlagen werden, kann uns allen passieren. Und geschieht es uns, und Sophiechen dazu, dann empfehle ich dir unsere Kinder. Gus glaubt immer noch nicht an eine Gefahr, und das ist gut, sonst wäre es um meinen Mut noch schlechter bestellt. Paulchen sagt, er möchte jetzt in keinem Falle von Petersburg weg; und ich muss sagen, wenn ich die Kinder im Ausland hätte, und unser Geld dazu, würde ich recht ruhig die Sache mit ansehen.

14. November 1905

Seit drei Tagen gehen die Jungen wieder nicht in die Schule, obgleich unsere nicht mitstreikt. In den anderen verlangen die Schüler Rauchzimmer, Versammlungsfreiheit und beratende Stimme in den Lehrerkonferenzen. – Blub! – Paul macht noch nicht mit, trotzdem er seit gestern lange Hosen trägt. Ob Dir die Eisenbahn oder ein deutsches Minenboot diese Briefe zuführen wird? Grüßt herzlich. Sonja quatscht herzerquickend neben mir.

4. Januar 1906

Und so kann ich nicht sagen, dass es schön bei uns wäre. Die Reaktion erhebt mächtig ihr Haupt, wir werden ganz nach altem Regime regiert15, und den Freiheitskampf werden wohl meine Jungens noch mitkämpfen. Hoffentlich fangen sie’s dann besser an wie die armen Verblendeten, die sich schon jetzt stark genug glaubten und im Herrn und Volk auf Beistand rechneten, der versagte. Schade um all die Jugend, die sich hinmorden ließ, schade um all unsere Hoffnungen, die wir nun wohl begraben müssen. Und doch können wir nur mit Freude die Wiederherstellung der Ordnung begrüßen.

22. Februar 1906

Genommen haben mir diese Zeiten etwas, nämlich das Vertrauen in die Zukunft. Wozu erziehe ich meine Söhne? Für die Lunte? Oder als Bombenopfer? An gedeihliche Entwicklung ist auf Jahre hinaus nicht zu denken. Und wie soll ich sie erziehen? Freiheitsdurstig, auf Menschenrecht gehend, oder mit dem Ideal der wohl bestallten Tschinowniks [Beamte] im Auge? Ja, erziehen wir denn überhaupt, erzieht sie nicht die Zeit, in der wir leben? Die allmächtige Zeit und das eherne Schicksal?

Als ich ihre Zeilen lese, bin ich beeindruckt von Floras scharfer Beobachtungsgabe. Nicht nur wegen der bevorstehenden Kriege, sondern auch mit Blick auf die Rolle, die der Antisemitismus im Leben ihrer Kinder noch spielen sollte. Bereits 1895, als Fredy, ihr Zweitgeborener, ein paar Monate alt ist, notiert sie:

Der kleine schwarze Alfred scheint weniger gut getauft, das Näschen zeigt keine Neigung nach oben, und das ist bedenklich. Oder glaubt ihr, dass bis zu seiner Großjährigkeit der Unterschied zwischen Jud’ und Christ vergessen sein wird?

Wenn man die späteren Erlebnisse der Familie Hackel bedenkt, kann man Flora fast hellseherische Fähigkeiten zusprechen!

Im Verlauf meiner Recherche fällt mir noch ein anderes Dokument aus Sonjas Nachlass in die Hände. Es sind Jugenderinnerungen von Sonjas Cousine Eva. Sie war die Tochter von Gustavs jüngerem Bruder, dem Apotheker Ludwig Hackel. Eva stand mit Sonja bis zu ihrem Lebensende in Briefkontakt. Sie schickte ihr die Aufzeichnungen in Erinnerung an die gemeinsame Kindheit. Eine Passage darin beschreibt die Sommerurlaube in Finnland, die Eva ganz ähnlich erlebt hat wie Sonja:

In unseren Sommerferien zog die ganze Familie für drei Monate aus der Stadt hinaus nach Finnland, um dem sehr ungesunden feuchten Klima von St. Petersburg zu entgehen.

Vater blieb zurück und kam nur an den Wochenenden, mit Ausnahme seiner drei Wochen Ferien. Wenn wir auf’s Land zogen nahmen wir buchstäblich alles mit: Blumentöpfe, Spielsachen, kleine Möbelstücke, alles wurde eingepackt und auf einem großen Pferdewagen transportiert. Unsere Köchin und das Kindermädchen fuhren gewöhnlich mit dem Wagen, sie liebten es, langsam zu Pferd unterwegs zu sein.

Die Familie inklusive der Haustiere fuhr mit dem Zug, wir nahmen Goldfische, Vögel und sogar Kaulquappen mit. Auf einer dieser Reisen zerbrach das Glas mit den Kaulquappen, und wir hatten keine andere Wahl, als die Kaulquappen zur Rettung in das Glas mit den Goldfischen zu tun. Ich erinnere mich noch, wie erschüttert ich war, als wir bei unserer Ankunft zwei Stunden später feststellten, dass die Kaulquappen von den Goldfischen verspeist worden waren.

Unsere drei Monate in Finnland waren immer unbeschreiblich glücklich, und ich habe die herrlichsten Erinnerungen daran, mit meinem Vater in den Wald zum Blaubeer- oder Preiselbeerpflücken oder zum Pilzesammeln zu gehen.

Er war Experte für Pflanzen und lehrte uns eine Menge, in dem er jede Pflanze benannte, die wir Kinder pflückten. Er gibt in Finnland zahlreiche Arten essbarer Pilze, und Vater bestand darauf, uns jede einzelne zu zeigen. Auf diese Weise lernten wir schnell zu erkennen, welche giftig waren.

Gewöhnlich hatten wir einen großen Garten um das gemietete Haus, das meine Eltern bereits im April sorgfältig aussuchten.

Wenn irgendwo im Garten Birken standen, nahm Vater das Haus nicht, denn das war ein Anzeichen von Feuchtigkeit. Und dort spielten wir Indianer, Verstecken, oder wir gingen schon vor dem Frühstück Pilze suchen.

Ich erinnere mich besonders an einen Garten, denn er war groß genug, dass ich darin Fahrrad fahren lernte. Am Abend spielten wir unseren Eltern kleine Theaterstücke vor, die wir uns draußen überlegt und eingeübt hatten. Und in den Sommern, in denen wir unsere geliebte Lehrerin Shura bei uns hatten (sie wurde später zu meiner angeheirateten Cousine16) malten wir, modellierten mit Ton und machten Picknick am Meer. Baden und Sandburgen bauen waren unsere größten Vergnügungen.

Wie wunderbar war es, wenn am Freitag Abend Vater herauskam; gewöhnlich holten wir ihn an der Haltestelle der ›Diligence‹ ab (einem Pferdewagen, der ihn von der Bahnstation brachte).

Auf unserem Heimweg kamen wir an einem runden Platz vorbei, dort hingen Seilschlingen an einem langen Pfahl [eine Art Schaukel]17, und es war gleichgültig, wie müde Vater war, er blieb immer stehen, um uns einen festen Schwung zu geben, und wartete, bis wir wieder herunterkamen.

Unter den vielen Papieren aus Sonjas Nachlass finde ich schließlich noch ein paar Schreibmaschinenseiten, auf denen Alfred (Fredy), der zweitälteste Bruder, ein paar kleine Szenen aus seiner Kindheit festgehalten hat. Sie lassen den Alltag der Hackels um die Jahre 1906/1907 lebendig werden:

Szene eins

Grauer Morgen, Sonntag in Petersburg. Ich werde wach. Jemand gibt mir einen Kuss. Ich öffne die Augen, lächle im Halbschlaf. Gleich schneide ich eine Grimasse. Sie kichert fröhlich. ›Sie‹ ist Sonjetschka, meine Schwester; ihre Haare sind sorgfältig gekämmt, eine große Seidenschleife darin, sie trägt ein schwarzes Samtkleid, auf der Brust ein Medaillon. Ich strecke den Arm aus, packe zu und ziehe sie heran. Ich will sie schnappen, aber sie macht sich frei, mit Quieken und Geschrei. Eine Stimme aus dem Nebenzimmer: »Na warte, Dir werd’ ich was erzählen!« Die Stimme bringt mich sofort zurück in die Wirklichkeit. Ich strecke mich. Tap-tap-tap den Flur entlang, jemand eilt zum ›Heiligen Örtchen‹, sagt dabei: »Kinder, aufstehen«. Das vertraute leichte Hüsteln, »ehem, ehem«, folgt Papa auf einen Platz, von dem jetzt für lange Zeit das Rascheln einer Zeitung zu hören ist. Denn das ist das ›Heilige Örtchen‹. Es ist der Ort, wo er sich die neuesten Nachrichten und die Theaterkritiken zu Gemüte führt. Mit einem Gefühl der Erleichterung einerseits, andererseits prall gefüllt mit den Berichten aus ›Das Wort‹18 oder dem ›St. Petersburger Herold‹19 IX, kommt er erfrischt wieder heraus und geht geradewegs in die Wanne. Meine Aufgabe ist es, ihm den Rücken zu schrubben, bis er rot wird. Er beugt sich vor, seine weiche Haut und sein muskulöser Rücken glitzern, und ich reibe richtig fest mit einem harten Schwamm. Papa knurrt zufrieden. »Feste rubbeln, feste!« Ich gehorche. Dann eilt er, um sich anzuziehen. Gestern ist er spät nach Hause gekommen, ›in Geschäften‹, nach einem Besuch bei Boris [gemeint ist Benno Becker], zusammen mit Rudi, Felix, Gerson und dem anderen Boris … Gerade jetzt ist er jedenfalls munterer als wir.

Das Frühstück beginnt um 10 Uhr. Bloß nicht zu spät kommen! Die frische Unterwäsche kratzt. Ich bin durcheinander, die Manschettenknöpfe sind irgendwo abgeblieben. Der Hemdkragen lässt sich kaum biegen, so sehr ist er gestärkt. Natürlich bin ich wieder der Letzte. Ich gebe Papa einen Kuss auf die sauber rasierte, leicht duftende Wange. (Gerade gestern hat er bei Louis [einem Friseur] haltgemacht). Ich gebe Mamas Hand einen Kuss, Sonjas Mund. Nicht nötig Paul und Bobus [Bobby] zu begrüßen, wir schlafen alle im selben Zimmer. Bei Tisch geht es lebhaft zu. Der Kaffee duftet, es gibt Honig, Butter, Brötchen. Schmatzgeräusche … lecker und bedeutungsvoll – Essen und Kauen. Papa weiß schon alle Neuigkeiten von der Börse. Es macht ihm Spaß, uns mit Nachrichten aus Slowo [die Zeitung ›Das Wort‹] zu erschrecken. Ich esse schnell, weil ich noch in die Zeitung schauen muss, bevor es losgeht. Zusammen mit Papa gehen wir hinüber zum Museum, natürlich zur Eremitage. Früher war es so: wir machten einen Spaziergang zum Palast, gingen am Ufer spazieren, aber jetzt ist es die Eremitage. Er nimmt uns mit zu ›seinen Lieben‹. Wir gehen die Marmortreppe hinauf zu den ›Drei Grazien‹, zu ›Vol’ter‹20. Vol’ters LächelnX – Satire, Spott. Zieht uns an und stößt uns ab. Aber Papa hat seinen Spaß. Dann geht es weiter zu ›Danaya‹21 und ›Venus vor einem Spiegel‹ von Tizian. Für Papa ist sie die Offenbarung weiblicher Schönheit. Dann zum großen Saal der italienischen Kunst. Papa ist verzückt. Dann ein Porträt eines Fremden, der Papa erstaunlich ähnlich sieht. Dann müssen wir noch einen Moment zu den Franzosen, dann zwei Minuten Rembrandt, dann wieder nach Hause. Aus zwei Minuten wird eine Stunde. Es ist Mittag. Ich schaue mich um, höre noch den Kanonenschuss, der 12 Uhr Mittag anzeigt. Er ist wie ein Zeichen für alle, auf die Uhr zu schauen. Die Fensterscheiben beben. Und jetzt die Musik, der Siegesmarsch. Wie in alten Zeiten möchte ich mitlaufen, den Gardisten folgen. Aber ich reiße mich zusammen, bin kein kleiner Junge mehr, ich bin gekommen, um Rembrandt anzuschauen! Aber mein Herz will nach unten rennen, und dann, anstelle von Rembrandt, anstatt der Gemälde, erscheint ein anderes Bild. Ich horche nach der Garde. Sie holen die Flagge ein, und so, zwischen Rembrandt und dem militärischen Spektakel, ist eine Kinderseele hin und hergerissen.

Schließlich gehen wir heim. Auf dem Nachhauseweg gehen wir mit Papa noch für ein paar Minuten in die französische Bäckerei. Papa will einen anständigen Laib Brot. Was ist ein sonntägliches Mittagessen ohne einen Laib Brot? Schließlich, Brot in der Hand, gehen wir triumphierend nach Hause. Viele vertraute Gesichter auf der Straße, sie kommen aus der Kirche zurück. Begrüßung, manchmal bleibt man stehen, manchmal nur ein Lächeln. Über die Brücke am Kanal, und wir sind zu Hause. Sonjetschka war draußen spazieren, sie hat rote Bäckchen von der Kälte. Es ist unwahrscheinlich weich, ihre leicht gefrorenen, samtigen Wangen zu küssen. Der Esszimmertisch ist schon gedeckt. Heute gibt es Blätterteig mit Kohl, ein wunderbares Gericht von Katja, der Köchin. Dann Eintopf und schließlich einen leichten Kuchen. Papa lässt es sich schmecken. Jeder Bissen ein Geschenk. Jeder Schluck Bier ein Genuss. Die Kunst, das Essen und ein gutes Schlückchen dazu, das ist die Sonntagssinfonie. Natürlich ist Kunst kein Fleisch, sie lässt sich mit Katjas Blätterteig nicht vergleichen, aber trotzdem ist sie seine allgegenwärtige Freude. Das lehrt er uns nicht mit Worten, sondern als Vorbild, durch sein eigenes, erfülltes Leben.

Szene zwei

Das Leben geht seinen Gang, geschmeidig wie Butter. Die Zeit vergeht, jeder Tag folgt einer bestimmten Routine. Im ruhigen Fluss der Zeit manchmal Pausen und Sprünge, Konzerte, Theater oder Partys zu Hause oder bei Freunden.

Abend: Ich lerne; die Prüfungen bringen mich noch um. Paul sitzt mir gegenüber und liest. Auf dem Tisch steht Schnaps, den wir in einem Bücherschrank verstecken. Der Schnaps steht hinter den französischen Büchern. ›Wie wär’s mit etwas französischer Dichtung?‹ In unserer Räubersprache bedeutet das ›Wie wär’s mit einem kleinen Drink?‹. Mama ist im Bett, Papa im Theater, und Bobus ist ausgegangen, natürlich irgendwo zum Tanzen. Plötzlich das vertraute »ehem, ehem«, Papas Hüsteln. Er ist zurück. Wir laufen ins Wohnzimmer, aber er ist bei Mama. Laute Stimmen sind zu hören, Papa ist offenbar aufgebracht. Er spricht schnell und aufgeregt. Vielleicht ist er im Theater bestohlen worden? Wir kommen rein. Papa steht am Bett und spricht wie in Trance. Nein, er ist nicht ausgeraubt worden. Im Gegenteil, er ist überwältigt von dem, was er gesehen und erlebt hat. In seinen Augen leuchtet eine Spur von etwas, das ich nie bei ihm gesehen habe. Seine Nasenflügel beben wie bei einem Vollblutpferd. Er ist irgendwie verwirrt, überwältigt. Stockend spricht er darüber, über das Theater, über ewige Liebe und den Tod. Der Samowar auf dem Esszimmertisch zischt. Dort stehen ein kleiner Imbiss und Obst. Aber Papa redet weiter. Manchmal versagt seine Stimme. Er gestikuliert hilflos mit den Händen und lächelt schuldbewusst. Mama legt sich hin und strahlt. Es tut ihr nicht leid, dass sie nicht dabei war. Sie freut sich, dass er da war, und sie versteht und fühlt, dass seine Seele aufgewühlt ist.

Es ist wieder Abend. Wir sind um den Tisch versammelt. Mama und die Kinder. Wie immer unterhalten wir uns lange. Und es gibt Tee aus dem Samowar, dazu Marmelade. Papa ist nicht da. Er ist einen Ringkampf anschauen gegangen zwischen den beiden Welt-Champions. Das ist ein bisschen merkwürdig. Papa ist kein Ringer, und an solch einen Ort zu gehen, der nach Tabak und Schweiß riecht, ist schon etwas unangenehm. Aber Papa ist trotzdem hingegangen.

Da ist sein »ehem, ehem« im Flur. Er kommt rein, freudestrahlend. Und? Wer hat gewonnen? Papa verwandelt sich. Er beginnt zu erzählen. Über Zaikin, wie er Zbitko zu packen bekam. Nein, gar nicht leicht. »Fredy, komm her.« Ich gehe hin. Papa ist Zbitko und ich bin Zaikin.22 XI

Papa packt mich fest mit seinen Händen und hebt mich hoch. Meine Hose reißt. Die Knöpfe fallen ab. Aber Papa ist voll bei der Sache. Und dann lief es genau so … das tut weh, kein Witz. Papa setzt mich auf dem Teppich ab. Er schnappt mich. Jetzt steigt auch bei mir die Spannung. Wir ringen. Mama und alle anderen lachen. Und so hat Zaikin ihn gepackt, aber Zbitko … Ich merke, wie meine Hosenknöpfe in den Kamin springen. Aber Papa ist voller Erregung. Er ist in Hochform, unter Volldampf. Und er steckt uns alle damit an.

Szene drei

›Weihnachtsbaum‹

Draußen liegt ein weißlicher Nebel. Die Fenster sind frostüberzogen. Es ist kalt. Die Stimmung ist hell und festlich. Mit meinen Zeugniszensuren ist es gut gelaufen. Vielleicht ist es wegen Weihnachten, aber die übliche Vier plus in Algebra ist raufgegangen zu einer Drei minus. Offensichtlich hat der Lehrer ein gutes Herz. Er versteht, dass sonst Papas Weihnachtslaune hin gewesen wäre. Besser nicht an die Schule denken – sinnlos!

[…] Das Arbeitszimmer ist außer Reichweite. Der Weihnachtsbaum steht darin. Er ist wunderschön. Wir haben ihn gestern zusammen mit Papa gekauft. Papa ist in dieser Hinsicht ein Profi. Der Baum muss der Beste sein, und billig dazu. Wenn er sieben Rubel kosten soll, feilscht Papa. Bis es dunkel wird. Aber er verliert nicht, er kriegt ihn für drei. Zwei kräftige Kerle tragen ihn auf den Schultern, wir gehen hinter ihnen nach Hause, während Papa zur Arbeit geht. Aber vielleicht verkaufen die beiden Typen ihn auch weiter, für eine Flasche Wodka?

Als wir gestern dort standen, war es so kalt, dass uns die Tränen in den Lammfellkragen rollten, aber Papa kümmerte das nicht. Sein Spazierstock hat eine Besonderheit: er hat am oberen Ende einen goldenen Knauf. Der Baum muss genau so groß sein, dass, wenn er den Arm mit dem Spazierstock hochstreckt, die Baumspitze über den Knauf hervorschaut. Wir fanden einen genau solchen Baum … das Gefeilsche dauerte eine ganze Weile. Es begann dunkel zu werden, die Straßenlaternen gingen an. Durch sie wurde es sogar ein bisschen wärmer und freundlicher. Die Bäume sahen aus wie mit Zucker überzogen, andere, als ob sie in Baumwolle gewickelt wären.

Wir kamen also zurück nach Hause. Die zwei Burschen schleppten den Baum vor uns her. Interessant, wie sie ihn die Treppe raufbrachten … der Teppich wurde ganz dreckig dabei … Kuprian [der Hausmeister] wurde wütend. Aber uns war’s egal, der Baum ist prima! Auf keinen Fall wollten wir den durch die Hintertür reinholen.

Nur ein kleines Missverständnis gab es. Die Burschen gaben Mama ein Stück Papier. Papas Unterschrift, Papas Handschrift, sieht echt aus – aber teuer … 13 Rubel!! »Nun, meine Dame, der Baum kommt aus Archangelsk.« Keine Chance, wir mussten zahlen … Papa hatte so entschieden. Er hat manchmal leichtfertige Phasen. Die beiden Riesenkerle bedankten sich und kriegten obendrauf noch ein Trinkgeld. Weg waren sie, nur ein säuerlicher Geruch blieb zurück. Papa kam abends zurück und erfuhr von den 13 Rubeln. Er bebte. Es stellte sich heraus, dass die Kerle, die den Baum geschleppt hatten, am Rand eine eins vor die drei geschrieben hatten, mit Bleistift … eigenmächtig, und so wurden 13 daraus. Papa hatte davon keine Ahnung, er hatte ihn für 3 gekauft. Aber schließlich ist es ihm egal, all das Gefeilsche, Geschrei und Gezänk. Er fühlt sich jetzt behaglich und zufrieden. […]

Das Wohnzimmer ist hell erleuchtet. Bronzene Engel mit ausgestreckten Armen halten die Kerzen und stehen dabei auf einem Bein. Der gläserne Kronleuchter glitzert in allen Farben des Regenbogens. Alle sind versammelt. Die Wolle des neuen Matrosenanzugs kratzt. Das Haar ist mit viel Pomade gescheitelt. Paul und Bobka brillieren am Klavier, Sonjetschka trägt ihr schwarzes Samtkleid, ihre Haare werden von einer großen Seidenschleife auf dem Kopf zusammengehalten. Papa und Mama sind im Arbeitszimmer und zünden die Kerzen am Baum an. Endlich das lang ersehnte Glöckchen. Wir sind sehr aufgeregt, und schließlich gehen die Türen auf. Der funkelnde Baum blendet uns. Aus dem Esszimmer kommt der verführerisch köstliche Duft von Gänsebraten. »Alle zu Tisch bitte …!«

2Früher finnisch, seit 1947 russisch, umbenannt in Selenogorsk.

3Jelgava, heute eine Kreisstadt in Lettland, muss in den beiden Kriegen so gründlich zerstört worden sein, dass kaum noch ein altes Haus vorhanden ist. Das Zentrum ist ein sowjetisches Plattenbau-Ensemble aus den 1960er-Jahren. Nur in den Randbezirken erinnern hier und da ein paar windschiefe Holzhäuser an die damalige Zeit.

4Russland erlebte durch Eisenbahn und Dampfschiffe seit den 1840er-Jahren einen Aufschwung des Außenhandels. Davon profitierten zunächst die Küstenstädte, in Kurland waren das Windau und Libau, sodass viele Menschen dorthin übersiedelten. Das war Juden jedoch verboten und wurde streng kontrolliert, sodass in dieser Zeit viele Juden in südliche Regionen ausweichen mussten um Arbeit zu finden. Die Arbeitsmigration von Jacob Moses Gittelsohn nach Tiflis scheint unter kurischen Juden kein Einzelfall gewesen zu sein.

5Das Mitauer Adressbuch von 1892 ist vollständig auf Deutsch verfasst, alle Straßennamen sind deutschsprachig, über 90 Prozent der verzeichneten Einwohner haben deutsche oder eingedeutschte jüdische Namen; auch alle öffentlichen Institutionen scheinen ausschließlich deutsche Namen gehabt zu haben. In Kurland, obwohl seit 1797 russische Provinz, war damals noch Deutsch die Behördensprache und die Sprache der gebildeten Oberschicht. Allerdings erschienen neben der deutschen ›Mitauschen Zeitung‹ auch eine russisch- und zwei lettischsprachige Zeitungen, offenbar waren also mehrere Sprachen im Alltag gebräuchlich.

6Laut Überlieferung starb Gustavs Vater, als dieser noch ein Kind war, weshalb Gustav früh zum Unterhalt der Familie beitragen musste.

7Im Heiratsregister der jüdischen Gemeinde in Mitau gibt es einen Eintrag vom 9. 1. 1883, der wahrscheinlich auf Gustavs Schwester verweist: Eheschließung von Levin Gittelsohn (31, geb. in Mitau, Sohn von Nekhmeje Gittelsohn) mit Julie Hackel (22, geb. in Mitau). Sie wäre somit ein Jahr älter als Gustav gewesen. Möglicherweise bestand mit der Familie des Bräutigams eine entfernte Verwandtschaft.

8In Mitau ist für das 19. Jahrhundert kein Rabbiner mit Namen Gittelsohn nachweisbar. Eine Besonderheit von Kurland war, dass es dort keine Talmudschule (Jeshiva) gab. Deshalb besuchten angehende Rabbiner aus Kurland zur Ausbildung Jeshivot im nahe gelegenen Litauen oder der Ukraine. In US-amerikanischen Rabbinerverzeichnissen taucht der Name Gittelsohn nur einmal auf: Benjamin Gittelsohn, geboren 1853 in Russland und Sohn von Jehuda Gittelsohn. Er studierte an der Talmudschule in Kaunas, Litauen, und wanderte später nach Cleveland, Ohio aus. Nach Alter und o.g. Umständen könnte Jehuda möglicherweise der von Sonja erwähnte ältere Bruder von Gustavs Großvater Moses Gittelsohn aus Mitau sein.

9Arthur Hackel, geb. 1864, Sterbedatum und -ort unbekannt, und Ludwig Hackel (Vater von Eva und Nora Hackel) geb. 1867, gestorben 1936 in Berlin, studierten beide je ein Jahr in Dorpat (ihre Berufsbezeichnung lautete ›Provisor‹) und führten seit 1895 gemeinsam in St. Petersburg die Puschkin-Apotheke. Sie befand sich in der Puschkinskaja 9, das Haus steht heute noch. Ludwigs Wohnung lag ein paar Häuser weiter in der Nr. 19. Er war unter anderem geschäftlich erfolgreich durch Herstellung und Vertrieb eines selbst entwickelten Mittels gegen Hämorrhoiden.

10Jeannot Hackel, geb. 1862 in Mitau, Sterbedatum und -ort unbekannt.

11Frz.: ›Gibt es da schon etwas mitzuteilen?‹

12Wahrscheinlich meinte sie damit Gaststudenten, die sie gelegentlich als Hauslehrer aufnahm.

13Russisch: ›Jetzt wird’s bunt‹, sinngemäß: ›Man sagt, dass es einen Aufstand geben wird.‹

14Teil von St. Petersburg nordwestlich der Newa.

15Nach der Niederschlagung der Unruhen versuchte das Zarenregime, die versprochenen Reformen wieder rückgängig zu machen.

16Siehe Kapitel ›Fredy – Unter dem Radar‹.

17In Finnland und Estland ist das Schaukeln eine Art Volkssport.

18Russisch: ›Das Wort‹ – gemeint ist mit Sicherheit ›Russkoje Slovo‹, die damals größte russischsprachige Tageszeitung, die seit 1895 in Moskau erschien und 1917 von den Bolschewiki verboten wurde.

19Der ›St. Petersburger Herold‹ war eine von zwei deutschsprachigen Tageszeitungen und erschien von 1871 bis 1914, dann wurde er verboten, weil mit Kriegsbeginn aller deutsche Einfluss aus Russland verbannt werden sollte. Der Herold war die Konkurrenz der älteren ›Petersburger Zeitung‹, vertrat politisch einen liberalen Standpunkt und legte zu dieser Zeit vor allem Wert auf eine kritische Berichterstattung gegenüber der konservativen Zarenmacht. Er brachte täglich unter dem Motto Unsere Presse eine exklusive Presseschau über die Top-Nachrichten der damals größten russischen Tageszeitungen. Weitere Inhalte waren Stadtnachrichten, Wichtiges aus dem Deutschen Reich, Wirtschaftsnachrichten, Romane sowie monatliche Beilagen zu Mode und Landwirtschaft.

20Gemeint ist die Marmorskulptur von Voltaire von Jean-Antoine Houdon, noch heute eines der vielen Glanzstücke der Eremitage.

21Danae von Tizian, 1930 von der Eremitage verkauft, seither National Gallery of Art, Washington DC.

22Gemeint ist offenbar der polnische Ringkämpfer Stanislaus Zbyszko, der um 1905 in ganz Europa und später in den USA sehr erfolgreich wurde. 1906 gastierte er für eine Saison in St. Petersburg. Eine amerikanische Website listet alle Matches auf. Sie verzeichnet: Sieg über Alexander Saikin, am 2. August, am 7. und 14. August, und nochmals am 1. September. An einem dieser Tage muss Gustav dem Kampf zugeschaut haben.

Die drei Emigrationen der Sonja Berg

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