Читать книгу Die drei Emigrationen der Sonja Berg - Daniel Levin Becker - Страница 9
Kindheit in St. Petersburg Nach acht, Bonn 1987
ОглавлениеSonja schaut mich über den Brillenrand hinweg an, holt tief Luft und beginnt:
»Ich bin, wie auch meine drei Brüder, in St. Petersburg geboren. Für mich wird die Stadt immer so heißen. In Leningrad bin ich nie gewesen, daher weiß ich nicht, ob es meine Stadt ist. Das Petersburg unserer Kindheit, das meine Brüder und ich sehr liebten, mussten wir verlassen, aber unser ganzes Leben hindurch ist es uns eine Heimat der gemeinsamen Erinnerung geblieben.
Es war schon etwas Besonderes mit dieser Stadt. Wunderschön war es, wenn sich die vielen goldenen Kuppeln in den Kanälen spiegelten. Alles schien auf dem Wasser zu schwimmen. Es war herrlich, dort aufzuwachsen. Wir hatten eine glückliche und behütete Kindheit.
Mein Vater liebte die Stadt vielleicht mehr als wir alle zusammen. Er fühlte sich mit Leib und Seele als Petersburger und hat den Verlust nie verwunden. Meine Mutter lebte auch gern dort, sie hatte ein angenehmes Leben, aber sie war manchen Dingen gegenüber kritisch eingestellt.
Ursprünglich kam unsere Familie nicht aus Petersburg, meine Eltern waren erst kurz vor ihrer Heirat auf verschiedenen Wegen, von denen ich noch erzählen werde, dort hingekommen. Streng genommen sind wir auch keine russische Familie, die Muttersprache meiner Mutter war Deutsch, die meines Vaters Jiddisch – eine jüdische Familie eben, mit allem, was das so mit sich bringt. Aber wir Kinder wuchsen in einem russischen Umfeld auf, hatten die russische Staatsbürgerschaft und fühlten uns ganz und gar als Russen. Wahrscheinlich wurden wir darin von unserem Vater beeinflusst, der ein glühender russischer Patriot war.
Mein Vater, 1861 geboren, stammte aus Kurland – da weiß heute keiner mehr, wo es liegt. Geboren wurde er in Mitau, der Provinzhauptstadt. Heute heißt sie auf Lettisch Jelgava, den Namen Mitau benutzt niemand mehr. Das damalige Kurland war eine baltische Provinz, die erst um 1800 ins russische Reich eingegliedert worden war. Die dort ansässigen Juden waren kulturell deutsch geprägt – entsprechend trug mein Vater den Namen Gustav Hackel. Nach dem Ersten Weltkrieg kam Kurland zu Lettland, nach dem Zweiten Weltkrieg wurde es Teil der Sowjetunion.
Das Elternhaus meines Vaters war jüdisch-religiös. In früheren Generationen hatte die Familie viele Rabbiner hervorgebracht. Seine Mutter Leah, geborene Lewiss bzw. früher Levy, stammte aus einer frommen Familie. Mein Vater hatte drei Brüder und eine Schwester. Als ältester Sohn war er von seinen Eltern dazu bestimmt worden, Kaufmann zu werden. Das geht zurück auf eine alte Tradition. Früher musste immer mindestens ein Sohn Rabbiner werden, zur Ehre der Familie. Weil das aber Geld kostete und meist wenig einbrachte, musste ein anderer für dessen Ausbildung sorgen, ob er wollte oder nicht. Mein Vater war also dazu ausersehen, Kaufmann zu werden, damit sein Bruder studieren konnte. Nicht etwa, dass der Bruder Rabbiner geworden wäre – er studierte Medizin und wurde später Arzt in Petersburg. Ob seine Eltern ihn für den Begabteren hielten oder was sonst den Ausschlag gab, weiß ich nicht, aber mein Vater sollte für seine Ausbildung mit aufkommen und basta. Wenn er gekonnt hätte, wäre er sicher lieber etwas anderes geworden. Doch die Verhältnisse waren nicht danach, und er lernte Textilkaufmann.
Nun darf man nicht vergessen, in welchem Land und zu welcher Zeit sich all dies abspielte. Im zaristischen Russland gab es bis zum Ende der Zarenherrschaft noch eine offene Diskriminierung von Juden. Sie durften sich nur in bestimmten Gegenden ansiedeln (die sog. ›Ansiedlungsrayons‹) und waren bei der Berufswahl stark eingeschränkt. Für alles und jedes brauchten sie eine Sondergenehmigung der Behörden, die sie nur gegen hohe Gebühren und Steuern bekamen.
Vater und Großvater meines Vaters waren beide Schneider. Sie müssen ziemlich arm gewesen sein. Viel weiter zurückverfolgen lässt sich dieser Teil meiner Familie nicht. Von meinem Urgroßvater weiß ich nur, dass er Moses Gittelsohn hieß, Schneider in Mitau war und einen älteren Bruder hatte, der Rabbiner wurde. Sein Sohn – also mein Großvater – hieß Jacob Moses Gittelsohn und wurde um 1821 in Mitau geboren. Der jiddische Familienname Gittelsohn hieß auf Russisch Chatzkelson. Daraus wurde schließlich unser Familienname: Hackel. Das kam so: Mein Großvater konnte als Schneider in Mitau nicht genug verdienen, um seine wachsende Familie zu ernähren. Er beschloss, anderswo Arbeit zu suchen. Aber die Judengesetze verboten ihm das Reisen und Arbeiten in Russland jenseits der ›Ansiedlungsrayons‹! Deshalb änderte er seinen Namen so, dass er nicht mehr jüdisch klingen sollte, und nannte sich: Hackel. Na, warum ausgerechnet Hackel, mag man sich fragen! Die Änderung war obendrein etwas komisch, da es im Russischen den Buchstaben H nicht gibt und man ihn damals immer durch ein G ersetzte. Der Name wurde auf Russisch zu Gakkel, was ja wiederum im Deutschen nicht sehr vorteilhaft klingt. Aber der Name war von ihm absichtlich so gewählt, damit er möglichst deutsch klang, das ursprüngliche Chatzkel für Eingeweihte darin jedoch noch erkennbar sein sollte. Das war eine Methode vieler Juden: sich einerseits äußerlich dem Druck der Verhältnisse zu beugen, aber andererseits den Kontakt zu den eigenen kulturellen und auch religiösen Wurzeln nicht zu verlieren.
Mein Großvater lebte, um seine Familie ernähren zu können, fast zehn Jahre lang getrennt von Frau und Kindern. Er war bis nach Tiflis in Georgien gewandert, weil es ihm dort möglich war zu arbeiten, als Schneider und jüdischer Bestatter. Für seine Frau – mit fünf Kindern daheim – dürfte seine dauernde Abwesenheit kein angenehmer Zustand gewesen sein, aber er war mit ihrer Zustimmung fortgegangen. Mein Großvater bat sie einmal in einem Brief, sie möge ihm mit den Kindern nach Tiflis folgen. Sie soll geantwortet haben, sie werde dies nur tun, wenn er nicht nur für sie sorgen, sondern auch eine gute Erziehung der Kinder sicherstellen könne. Das schien er sich finanziell nicht zuzutrauen, und so blieben sie in Mitau.
Die Familie meiner Großmutter Leah war nicht nur fromm, sondern auch angesehen und wohlhabend. Es gab zwei Brüder, die ihr und ihren Kindern immer wieder halfen. Der eine lebte in Brüssel, der andere in Riga. Besonders er war meinem Vater und seinen Geschwistern in guter Erinnerung.
Die drei jüngeren Brüder meines Vaters (Jeannot, Arthur und Ludwig) konnten die Schule beenden und teilweise sogar studieren, aber für meinen Vater, den ältesten, war das nicht vorgesehen. Ich vermute, sein Vater schickte nicht genug Geld nach Hause. Bald nachdem er aus Tiflis zurückgekehrt war, starb er. So musste mein Vater als Ältester schon in sehr jungen Jahren Verantwortung übernehmen und zum Unterhalt der Familie beitragen.
Um beruflich Erfolg haben zu können, entschied er sich, in der Stadt sein Glück zu versuchen. Das klingt leichter als es war. Es bot sich ihm die Gelegenheit, zu einem von ihm sehr verehrten Onkel zu ziehen, der ihm bei den ersten Schritten half. Ich weiß nicht, wie und wo er seine berufliche Laufbahn begann, aber er handelte auch da schon mit Textilien, meist Wollstoffen. Ich nehme an, Tuchhändler war insofern vorbestimmt, als seine Vorfahren Schneider gewesen waren.
Nun war es im Zarenreich nur Christen erlaubt, sich in großen Städten anzusiedeln. Manche Juden taten es trotzdem, riskierten aber viel. In den 1880er-Jahren nahm der Antisemitismus in Russland immer wildere Züge an. Es kam in verschiedenen Gegenden zu fanatischen Pogromen, und es begann der große Exodus der russischen Juden nach Amerika.
Um nach Petersburg ziehen zu können, trat mein Vater im Jahr 1885 zum lutherischen Glauben über, denn die orthodoxe Kirche nahm keine Juden auf. Seine fromme Mutter war nicht begeistert, akzeptierte aber diesen Schritt, weil er so seinen Lebensunterhalt verdienen konnte.
An meine Großmutter Leah habe ich noch eigene Erinnerungen. Sie war eine stille, freundliche Person, ziemlich schüchtern. Ich glaube, sie sprach nur jiddisch. Sie war ziemlich religiös – sie trug noch den ›Scheitel‹, die traditionelle Perücke der jüdischen Ehefrauen.
Sie kam einmal zu uns auf Besuch. Sie war so entsetzt darüber, dass wir die jüdischen Speiseregeln nicht einhielten – zum Beispiel sollten Milch und Fleisch streng getrennt voneinander aufbewahrt und gegessen werden –, dass sie sich weigerte, bei uns etwas zu essen und über Nacht zu bleiben.
Meine Eltern haben nicht religiös gelebt, aber die jüdische Herkunft war ihnen bewusst. Mein Vater war trotz geringer Schulbildung ein durch und durch weltläufiger Mann. Obwohl er nicht freiwillig konvertiert war, kann ich mir vorstellen, dass es für ihn eine Befreiung darstellte, dem provinziellen jüdischen Milieu in Richtung Petersburg entkommen zu sein. Auch seine drei Brüder lebten später dort und waren erfolgreich. Jeannot wurde Arzt, Arthur und Ludwig führten gemeinsam eine Apotheke. Nur seine Schwester blieb in Mitau. Es hieß, sie habe einen Taugenichts geheiratet.
Nun aber zu meiner Mutter. Sie stammte aus einem ganz anderen Milieu – auch jüdisch, aber schon lange assimiliert. Meine Mutter wurde – wie mein Vater – 1861 geboren, und zwar in Berlin. Das prägte unser Schicksal insofern, als es nach unserer Flucht aus Russland nahelag, dort neu zu beginnen, wo es noch Verwandte und Freunde gab. Die meisten Berliner sind ja gar nicht aus Berlin, so sagt man sicher zu Recht. Aber meine Mutter war von ihrem Naturell her eine Ur-Berlinerin – und obendrein wirklich dort geboren – ausgestattet mit dem dazugehörigen Witz für jede Lebenslage. Das blieb so ihr ganzes Leben lang. Sie war absolut unverwüstlich, egal was auch passierte!
Meine Mutter hieß Flora, vor ihrer Heirat war ihr Nachname Blumenthal – sehr hübsch ist das, nicht wahr? Flora Blumenthal! Ihre Eltern suchten den Vornamen aber nicht passend zum Nachnamen aus, was man vielleicht meinen könnte, sondern sie wurde nach ihrer Mutter genannt, zur Erinnerung, denn die starb im Kindbett. Meine Mutter hatte eine zwei Jahre ältere Schwester, Sophie, nach der ich benannt bin. Sonja ist eine russische Kurzform des Namens. Die beiden Mädchen wuchsen bei einer Halbschwester der Mutter – Tante Bertha – auf. Denn der Vater, Isidor Blumenthal – er muss sehr jähzornig gewesen sein – hatte sich mit der gesamten Verwandtschaft verkracht und brannte durch. Das klingt nach schlimmen Verhältnissen, aber meine Mutter hatte dennoch eine unbeschwerte Kindheit, die für die damalige Zeit ziemlich frei und unkonventionell verlief.
Meine Mutter hat herrliche Kindheitserinnerungen verfasst. Darin schildert sie das Alt-Berliner Milieu, in dem sie aufwuchs, in den Jahren vor der industriellen Revolution, als die Stadt verglichen mit heute noch recht beschaulich war.
Tante Bertha besaß ein Mietshaus in der Holzmarktstraße 61, in dem sie mit den beiden Mädchen in einer kleinen Erdgeschosswohnung lebte. Im Hinterhof hatten Handwerker ihre Werkstätten. Nichts davon steht mehr, es war in etwa dort, wo heute die S-Bahnstation Jannowitzbrücke liegt.
Tante Bertha muss eine gutmütige und nicht sehr durchsetzungsstarke Frau gewesen sein, die zwar auf gute Bildung achtete, den Kindern aber viel Freiheit ließ. Meine Mutter beschrieb anschaulich die wilden Spiele mit den Nachbarskindern im Hof und auf der Straße. Gleich gegenüber lag die Spree, dort lernte meine Mutter in einer ›Fluss-Badeanstalt‹ schwimmen. Unter den beiden Schwestern war Sophiechen die wagemutige, die ihre kleine Schwester wie eine Löwin beschützte. Sophie hatte sich durch allerhand Streiche den Spitznamen ›Emil‹ erworben. Einmal hatte sie beschlossen, ihre Schularbeiten hoch oben in der Astgabel eines Baums im Hinterhof zu erledigen. Ihr französischer ›Ploetz‹, aus dem sie lernen sollte, fiel herunter, und bei dem Versuch, ihn aufzufangen, landeten beide, Buch und Kind, kopfüber in einem großen Wasserfass, das gleich darunter stand. Gerettet wurde sie von ›Mutter Mielitz‹, der Frau eines Glasers, dessen Werkstatt im Hof lag. Sie hatte ein Auge auf alles, was dort geschah. Meine Mutter konnte viele solcher Geschichten erzählen, die sich heute ausnehmen wie Straßenszenen von Heinrich Zille.
Meine Mutter bewunderte Sophiechen für ihren Mut und wollte immer so sein wie sie. Daraus erklärt sich das enge Verhältnis zu ihrer Schwester. Das ist insofern hier von Bedeutung, weil es sie später nach Petersburg führte. Das trug sich so zu: Als Sophiechen gerade 18 Jahre alt war, verliebte sie sich unsterblich in einen gewissen Benno Becker. Sie war jung und hübsch und hatte viele Verehrer. Benno sah weder gut aus noch hatte er Manieren, aber Sophie sagte: ›Diesen oder keinen!‹ und heiratete ihn, zur grenzenlosen Enttäuschung der gesamten Verwandtschaft. Mit geliehenem Kapital eröffnete Benno ein Textilgeschäft an der Landsberger Straße (heute Landsberger Allee). Die lag in den östlichen Randbezirken Berlins und galt weiß Gott nicht als gute Gegend. Damit nicht genug: Sophiechen stand den ganzen Tag mit Benno im Laden – das gehörte sich nach damaligen Ansichten gar nicht für eine Frau aus ihrer Gesellschaftsschicht, und nach Feierabend ging sie mit ihm und seinen Geschäftsfreunden zu Kegelabenden und zum Bier …
Nachdem das etwa zwei Jahre so gegangen war, waren eines Tages Benno und Sophie plötzlich verschwunden. Es stellte sich heraus, dass Benno Bankrott gemacht hatte und, um die Schande noch zu vergrößern, ins Ausland ›getürmt‹ war. Die Begleichung der Schulden überließ er großzügig seinem Bruder. Du kannst dir ungefähr vorstellen, was da in der Verwandtschaft los war!
Nach ein paar Monaten erhielt Flora einen Brief von Sophiechen – aus St. Petersburg. Dort versuchten sie, mit nichts in der Tasche neu anzufangen. Das Ganze war ein ziemliches Husarenstück. Beide sprachen kein Wort Russisch und kannten niemanden. Als sie, so gut wie mittellos, dort umherliefen, trafen sie durch Zufall einen alten Schulfreund von Benno, der gerade am Newski-Prospekt ein Krawattengeschäft eröffnet hatte – damals waren Krawatten dort neueste Mode. Sophiechen konnte gut schneidern, und so wurden sie schnell einig, dass Sophiechen für sein Geschäft Krawatten nähen sollte. Benno würde beim Verkauf helfen. In den ersten Jahren klappte das mehr schlecht als recht. Benno versuchte, ein eigenes Geschäft zu eröffnen und machte mehrmals Pleite. Das Geld reichte hinten und vorne nicht, vier Kinder wurden geboren, Sophie nähte und stand den ganzen Tag im Laden.
Nachdem ein paar Briefe mit solchen Nachrichten gekommen waren, entschloss sich meine Mutter, zu ihr zu fahren und sie zu unterstützen. Ab 1883 verbrachte sie jedes Jahr ein paar Wochen, manchmal sogar Monate, bei den Beckers in Petersburg. Mit der Zeit kamen sie besser zurecht, Benno wurde schließlich doch ein erfolgreicher Geschäftsmann mit eigenem Unternehmen, und später, als ich schon auf der Welt war, waren Beckers unsere reichen Verwandten.
Aber zurück zu meiner Mutter – ich war noch bei den Jahren, als sie in Berlin lebte. Die Berliner Verwandten erwarteten, dass meine Mutter demnächst heiraten und eine ›gute Partie‹ machen werde – hoffentlich eine bessere als Benno! Durch das Erbe ihrer Mutter, von einem Onkel treuhänderisch verwaltet, war sie materiell abgesichert. Sie hatte durchaus viele Verehrer, aber sie konnte und konnte sich nicht für den richtigen Mann entscheiden. Die sorgsam arrangierte Verlobung mit einem gut situierten Fabrikanten von Möbelstoffen (›Gardinenfransen‹, sagte meine Mutter) löste sie nach einigen Wochen wieder, weil er ihr viel zu langweilig war, sehr zum Verdruss der Verwandtschaft. So vergingen mehrere Jahre. Mit Ende zwanzig galt man damals als alte Jungfer. Auch Sophie und Benno setzten alles daran, sie bei ihren Besuchen in Petersburg mit geeigneten Kandidaten in Verbindung zu bringen. Opern- und Konzertbesuche mit Bennos Geschäftsfreunden wurden arrangiert, aber immer hatte meine Mutter etwas auszusetzen und sagte Nein. Schließlich setzte Benno ihr die Pistole auf die Brust: ›Jetzt stelle ich dir noch einen vor. Im Ernst: wenn du den nicht nimmst, schmeiß’ ich dich raus!‹
Na, was soll ich sagen. Zum Glück sagte Flora Ja zu ihm. Dieser eine war der Textilkaufmann Gustav Hackel, der ›kleine Hackel‹, wie Beckers ihn nannten. Meine Mutter pflegte zu diesem Thema zu sagen: ›Wenn er auch nur ein bisschen größer gewesen wäre, hätt’ ich ihn nicht genommen. Denn dann hätte er einfach zu gut ausgesehen!‹
Flora durfte also weiterhin zu den Beckers kommen – und meine späteren Eltern hielten im Jahr 1890 in St. Petersburg Hochzeit. (Was für ein Glück, dass sie Ja gesagt hat! Sonst säßen wir jetzt wohl nicht hier.)
So kam es, dass meine Eltern dort ansässig wurden und wir Kinder alle in Petersburg zur Welt kamen.
Ja, wie war das Leben zur damaligen Zeit? Ich kann aus eigenem Erleben nur über die Jahre vor dem Ersten Weltkrieg erzählen. Ich war ein Nachzügler, 1903 geboren. Meine Brüder waren alle deutlich älter. Sie und auch meine Mutter haben mir oft von den Jahren davor erzählt. Und dann gibt es unzählige alte Briefe – die sind etwas besonders Schönes, weil die Art ihrer Überlieferung so ungewöhnlich ist. Als wir 1918 aus Russland fortmussten, blieb fast alles, was wir besaßen, in unserer Petersburger Wohnung zurück. Besonders schmerzlich war der Verlust der persönlichen Dinge und der damit verbundenen Erinnerungen. Meine Mutter war zeitlebens – und sie wurde 94 – eine unermüdliche Briefschreiberin, und bewahrte ihre Korrespondenz sorgfältig auf. Ihre beste Freundin, noch aus Berliner Jugendtagen, war Jenny Aron. Sie schrieben sich zum Teil mehrmals pro Woche, sodass im Laufe der Jahre Hunderte von Briefen zusammenkamen. Jenny hatte nach Elbing in Westpreußen geheiratet. Ihr Mann, Paul Aron, war dort Rechtsanwalt. Nach unserer Flucht nahmen sie meine Mutter und mich eine Weile lang bei sich auf. Wir hatten nur ein paar Koffer dabei, in denen lediglich Platz für das Notwendigste gewesen war. Jenny spürte, wie traurig meine Mutter über den Verlust ihrer gesammelten Briefe war und machte ihr deshalb ein ganz besonderes Geschenk. Sie schrieb per Hand jede einzelne Zeile ab, die sie von meiner Mutter seit dem Jahr 1890 erhalten hatte und band die Blätter zu einer Art Tagebuch zusammen, damit sie wenigstens etwas von den verlorenen persönlichen Erinnerungen zurückbekäme. Dieses Buch hütete meine Mutter fortan wie einen Schatz. Es hieß bei uns das ›Kindertagebuch‹, weil man darin alles nachlesen kann, was uns Kinder und unser Familienleben in Petersburg betrifft, fast 25 Jahre lang, bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges, als der zivile Briefverkehr zwischen Deutschland und Russland unterbrochen wurde.
Meine drei Brüder wurden kurz nacheinander geboren: Paul 1891, Alfred – genannt Fredy – 1892 und Robert – genannt Bobby – 1894. Das war für meine Eltern eine große Freude, aber besonders meine Mutter hatte die nächsten Jahre alle Hände voll zu tun. Eine Schar von drei Jungen mit so kurzem Altersabstand war nicht einfach zu bändigen. Als sie dachte, mit den Jungs aus dem Gröbsten raus zu sein, sie selbst war schon 42, kündigte auf einmal ich mich an. Davon war sie nicht begeistert. Aber dann wurde ich das Nesthäkchen der Familie und sowohl von meinen Eltern als auch meinen drei großen Brüdern sehr geliebt und verwöhnt. Mein Vater nannte mich – bis zu seinem Lebensende – ›mein Herzzipfel‹.
Meine Mutter genoss es, Kinder zu haben. Sie beschäftigte sich viel mit meinen Brüdern und später mit mir. Sie gab uns viel Freiheit – was nicht selbstverständlich war in dieser Zeit. Viele Mütter überließen die Erziehung komplett irgendwelchen Kindermädchen oder Gouvernanten und widmeten sich ganz der Repräsentation nach außen. Aber so etwas lag meiner Mutter nicht.
Natürlich hatte sie, wie damals üblich, Unterstützung durch eine Köchin und ein Kindermädchen, die ihr im Alltag Arbeit abnahmen, einkauften und mit uns spazieren gingen. Aber um alle wesentlichen Aspekte der Erziehung und Bildung kümmerte sie sich selbst. Meine Brüder unterrichtete sie in den ersten Jahren zu Hause. Paul ging erst im Alter von neun Jahren zur Schule, gemeinsam mit dem ein Jahr jüngeren Fredy. Das hatte unter anderem damit zu tun, dass man wegen der in St. Petersburg immer wieder grassierenden Seuchen sich davor scheute, die Kinder zu früh in die öffentlichen Schulen zu schicken.
Meine Mutter war eine erstaunlich gebildete Frau. Sie wäre gern Lehrerin geworden, was aber in ihrer Jugend als unschicklich galt – da werde sie keinen Mann bekommen. Während unserer gesamten Schulzeit überwachte sie unsere Hausaufgaben mit Strenge und Humor. Eines ihrer Lieblingswortspiele – sie liebte Wortspiele – war: ›Früh krümmt sich, was ein Häckelchen werden will‹, in Anspielung auf unseren Familiennamen. Sie hatte ihre eigene Meinung über Sinn und Unsinn dessen, was in der Schule gelehrt wurde, und sie diskutierte mit uns viel über philosophische und sogar politische Fragen.
Wir wuchsen zweisprachig auf, Russisch und Deutsch. In den ersten Jahren konnten wir besser Russisch, das lernten wir von den Kindermädchen und im Umgang mit anderen Kindern. Aber meine Eltern sprachen zu Hause meist Deutsch mit uns, und meine Mutter führte uns, sobald wir lesen konnten, an Literatur heran. Kinderbücher gab es damals nicht, sodass sie mit uns deutsche Klassiker las, Schiller, Goethe oder Heine, die sie alle sehr schätzte. Oft konnten wir ganze Passagen auswendig, lange bevor wir den Sinn der Worte verstanden. Ein besonderes Faible hatte sie für den niederdeutschen Mundartdichter Fritz Reuter, den wir später im Familienkreis oft auf gemeinsamen Leseabenden rezitierten. Viele Literaturzitate wurden zum festen Repertoire unserer Familie. Wenn wir uns an bestimmte Situationen unserer Petersburger Kindheit erinnerten, kamen sie in unseren Briefen und Gesprächen zum Einsatz.
Auch die russische Literatur und das Theater lernten wir früh kennen und lieben. Russisches Theater war eine besondere Leidenschaft meines Vaters, und er nahm meine Brüder und später mich von klein auf mit in die Aufführungen. Das damals sehr populäre Stück ›Der Revisor‹ von Nikolai Gogol, eine Satire auf die in Russland allgegenwärtige Korruption und den Schlendrian der Obrigkeit, konnte mein Bruder Bobby bereits mit sieben fast komplett auswendig. Was politisch im Zarenreich nicht gesagt werden konnte, ließ sich auf der Bühne in mancher Hinsicht doch ausdrücken. St. Petersburg war damals eine der bedeutendsten europäischen Theaterstädte. Russische Regisseure und Schauspieler waren weltberühmt. Ich erinnere mich lebhaft, wie es war, wenn mein Vater mit meinen Brüdern spätabends aus der Vorstellung nach Hause kam. Meine Mutter lag gewöhnlich schon im Bett, aber alle vier stürmten geradewegs ins Schlafzimmer, um ihr von der Inszenierung bis ins kleinste Detail zu berichten.
Ebenfalls die Sache meines Vaters war es, mit uns in die berühmten Museen und Bildergalerien zu gehen, hauptsächlich in die Eremitage. Das war unser sonntägliches Ritual nach dem Frühstück. Mein Vater kannte sich mit Malerei und Bildhauerei erstaunlich gut aus und konnte wunderbar von den Kunstwerken erzählen. Ich könnte heute noch sagen, wo seine Lieblingsbilder hingen. Wenn er nicht Kaufmann hätte werden müssen, wäre er vermutlich gern Kunsthistoriker geworden. Er gab uns Kindern immer den Rat: ›Geh sooft du kannst ins Museum, aber nie länger als zwei Stunden. Sonst verdirbst du dir den Spaß!‹ Ich beherzige das noch heute.
Zum damaligen Bildungsanspruch gehörte auch, dass wir Klavierunterricht bekamen. Paul und Bobby waren sehr musikalisch, sie lernten gut Klavier spielen. Bei Fredy und mir hat es nicht viel genützt.
Als wir größer waren, erhielten wir zusätzlich zur Schule Fremdsprachenunterricht: Englisch, Französisch und ein bisschen Italienisch. Wir mussten auch in den Ferien regelmäßig üben. Die Kindermädchen wurden, als wir älter waren, durch junge Damen aus Frankreich oder Italien ersetzt, die für ein Jahr zu uns kamen und uns – wie heute vielleicht Au-pair-Mädchen – die entsprechenden Sprachen und daneben gute Manieren beibringen sollten, mal mehr und mal weniger erfolgreich. Je nachdem, wie hübsch sie waren, fanden meine Brüder es mitunter interessanter, mit ihnen anzubandeln. Aber meine Mutter kriegte es raus und sorgte für manch schmerzhafte Trennung.
Wir gehörten einer Schicht an, die man die ›Intelligenzija‹ nannte – der Begriff stammt daher, dass in Russland die große Masse der Bevölkerung nicht lesen und schreiben konnte. Wer zum Bürgertum gehörte, hatte Zugang zu Bildung. Materiell gab es innerhalb der Intelligenzija eine große Spannweite. Unsere Familie war nicht reich – wie etwa Beckers in späteren Jahren –, aber wir hatten ein sorgloses Leben. Unseren Verhältnissen entsprechend wohnten wir im ›Admiralitätsviertel‹ in einer geräumigen Mietwohnung. Mein Vater arbeitete viel, und uns Kindern wurde von klein auf beigebracht, dass man sich anstrengen muss, wenn man im Leben Erfolg haben will. Mein Vater stammte aus bescheidenen Verhältnissen in der Provinz und hatte sich hochgearbeitet. Er war sehr stolz auf das, was er erreicht hatte. Wenn meine Brüder schlechte Noten nach Hause brachten, machte er aus seiner Missbilligung keinen Hehl. Er hielt ihnen vor, sie könnten bald nur noch ›dworniki‹, d. h. Straßenkehrer werden. Bildung, Fleiß und Bescheidenheit waren für ihn die höchsten Tugenden. Es galt meinen Eltern als selbstverständlich, dass meine Brüder, sobald sie mit der Schule fertig waren, sich zum Studium selbst Geld hinzuverdienten, durch Nachhilfestunden oder in den Ferien als Hauslehrer bei reichen Familien.
Mein Vater verbrachte die meiste Zeit der Woche in seinem Kontor, das mit importierten Textilien – vor allem Wollstoffen – handelte. Es lag nicht allzu weit von unserer Wohnung entfernt, er ging zu Fuß, den Weg am Kanal entlang liebte er sehr, und manchmal besuchten wir ihn dort. Ab und zu fuhr er zu Messen im Ausland, nach London oder Paris, um neue Ware zu kaufen. Von dort brachte er feine Stoffe mit, aus denen meine Mutter für uns etwas schneiderte – sie hatte sich das Nähen in ihrer Jugend selbst beigebracht und nähte ihre und unsere Kleider alle selbst.
Meine Mutter, die gern und viel gereist war, musste davon Abstand nehmen, mit kleinen Kindern war es zu beschwerlich. Eine Bahnfahrt nach Deutschland dauerte mehrere Tage. Gelegentlich trafen sich meine Eltern mit Jenny und Paul Aron auf ein, zwei Wochen Urlaub in Cranz, einem beliebten Ostseebad bei Königsberg. Eine größere Deutschlandreise mit Station bei den Verwandten in Berlin unternahmen sie erst 1898, als meine Brüder im Vorschulalter waren. Meine erste Deutschlandreise war im Sommer 1908, als ich vier Jahre alt war. Alle zusammen fuhren wir über Elbing nach Berlin und von dort weiter nach Süddeutschland.
Gelegentlich verreisten meine Eltern zu zweit. Dann ließen sie uns für zwei, drei Wochen in der Obhut von Tante Jenny und Onkel Paul in Elbing zurück. Meine Eltern fuhren zusammen nach Venedig, Tirol oder in die bayerischen Alpen zum Wandern. Meinem Vater tat Bergluft sehr gut. Vor meiner Geburt war er längere Zeit ernsthaft krank gewesen. Als starker Raucher hatte er sich eine chronische Halskrankheit zugezogen, Verdacht auf Krebs, aber damals gab es dazu keine präzisen Diagnosen. Im Jahr 1901 musste er in ein Sanatorium nach Davos in der Schweiz. Der Arzt riet ihm, möglichst wenig zu sprechen. Das hielt er drei Monate lang so eisern durch, dass die anderen Patienten ihn nur ›den verrückten Russen‹ nannten, weil er kein Wort sagte – denn den Russen wurde immer nachgesagt, ein sehr lautstarkes Auftreten zu haben. Und tatsächlich konnte mein Vater geheilt werden.
Meine Mutter litt unter den endlos langen Wintern in Petersburg. Oft fiel schon im September Schnee, und er verschwand meist erst im April. Dazu die Dunkelheit – im Dezember und Januar wurde es gar nicht richtig hell. Ich selbst habe an den dortigen Winter schöne Erinnerungen: Die Iswostschiks, von Pferdchen gezogene Mietdroschken wurden, sobald der Schnee kam, zu Schlitten umgebaut. Das war herrlich, der Kutscher saß mit schwerem Pelzmantel und Pelzmütze vor einem, man selbst wurde in dicke Felldecken eingepackt, und dann ging es für 10 Kopeken mit klingelnden Glöckchen durch die verschneite Stadt.
Nach den langen Wintermonaten nutzte man die kurzen Sommer umso intensiver. Als wir Kinder klein waren, mieteten meine Eltern meist auf dem Land eine Datscha, ein einfaches Holzhaus, wo wir drei Monate wohnten, von Mitte Mai bis Mitte August. Diese nordischen Sommer sind unbeschreiblich, noch heute habe ich danach Sehnsucht.
Der Umzug aufs Land war immer eine größere Unternehmung, da der ganze Hausrat mitmusste. Er wurde auf einen Pferdewagen verladen. Wir reisten per Eisenbahn. In der Umgebung von Petersburg gab es viele Ferienorte für die Städter, weitläufige Siedlungen schlichter Holzhäuser mit schön geschnitzten Veranden, die auf großen Wald- oder Wiesengrundstücken standen. Als wir Kinder klein waren, suchten meine Eltern Datschen aus, die schnell mit dem Zug erreichbar waren, Pargolowo, Schuwalowo oder Lewaschowo. Als wir größer waren, fuhren wir weiter weg an die finnische Küste.
Besonders an den Ort Terijoki2 habe ich wunderschöne Erinnerungen. Er liegt etwa 50 km nordwestlich der Stadt, in Karelien, das damals zu Finnland gehörte. Dort verbrachten wir mehrere Sommer. Terijoki war ein Fischerdorf. Wir wohnten in einem zweistöckigen möblierten Holzhaus. Drum herum lagen blühende Wiesen. Der Strand war nicht weit, wir konnten baden gehen und ließen im flachen Wasser Schiffchen schwimmen. Wir spielten den ganzen Tag draußen oder saßen zusammen auf dem Balkon, wo meine Brüder mit meinem Vater stundenlang Schach spielten.
Oft mieteten wir eine Datscha gemeinsam mit Beckers oder den Brüdern meines Vaters. So hatten wir Gesellschaft. Die Kinder von Beckers waren etwa gleich alt mit meinen Brüdern. Meine Cousinen väterlicherseits, Nora und Eva Hackel, waren ungefähr in meinem Alter.
Wir suchten zusammen Blaubeeren und Pilze. In Terijoki brachten uns die finnischen Fischer jeden Tag frischen Fisch ins Haus. Für unsere Lebensmittel wurde in einem Hügel neben dem Haus eine seitliche Vertiefung ausgegraben. Die wurde mit Eisbarren ausgelegt, die man hin und wieder erneuern musste. Das war der sogenannte Lednik, unser Kühlschrank.
Während unsere Familie die Sommermonate auf der Datscha verlebte, musste mein Vater meist arbeiten, dennoch versuchte er, so viel Zeit wie möglich bei uns zu verbringen. Oft fuhr er von der Datscha aus täglich in die Stadt. Das muss ziemlich anstrengend für ihn gewesen sein. Nach Terijoki dauerte es pro Strecke über zwei Stunden. Während der Zeit der ›weißen Nächte‹ gingen wir Kinder abends oft zur Bahnstation und holten ihn ab.
So unbeschwert die Sommer in Finnland und unser Familienleben im Alltag auch waren – die Zeiten, in denen wir lebten, waren politisch unruhig. Meine Eltern nahmen das aufmerksam wahr. Mein Vater war ein leidenschaftlicher Zeitungsleser und über russische und internationale Politik immer bestens informiert. Mit Sicherheit war ihm klar, wie desolat das Zarenregime war. Aber er war auch ein glühender russischer Patriot. Meine Mutter erzählte mir später, dass er in Tränen ausgebrochen sei, als er von der schweren Niederlage im Russisch-Japanischen Krieg 1904 erfuhr. Meine Mutter hatte zu den Verhältnissen in Russland eine wesentlich distanziertere Haltung. In ihren Briefen an Jenny äußerte sie oft, sie hätte es lieber gesehen, wenn ihre Kinder in Deutschland aufgewachsen wären. Sie fürchtete um unsere Zukunft in diesem instabilen und zutiefst rückständigen Land. St. Petersburg mit all seiner Pracht war zwar eine europäisch geprägte Stadt, die sich in mancher Hinsicht mit London oder Paris messen konnte. Aber Regierung und Verwaltung waren korrupt und unfähig. Alle paar Jahre brachen Epidemien aus, Cholera oder Ruhr. Das muss man sich in so einer Großstadt mal vorstellen. Dann waren die Schulen und die meisten öffentlichen Einrichtungen wochen- oder monatelang geschlossen, jeder Kontakt mit Menschen konnte lebensgefährlich sein. Wir mussten zu Hause alles Wasser abkochen, manchmal auch das über Monate hinweg. Meine Mutter erzählte besonders von einer der Cholera-Epidemien. Sie konnte von Sommer 1908 bis März 1909 nicht unter Kontrolle gebracht werden. Mir ist davon im Gedächtnis geblieben – ich aß zum Frühstück immer am liebsten Obst –, dass dies plötzlich zu meinem großen Verdruss streng verboten war wegen der Keime, was ich nicht begreifen wollte.
Trotz solcher Misslichkeiten ging es uns im Grunde sehr gut. Die starken Gegensätze, die Russland seit jeher prägten, zeigten sich auch in Petersburg. Die Stadt war erst 1703 gegründet worden. Peter der Große hatte Tausende von Leibeigenen gezwungen, ihm diese neue Hauptstadt zu bauen. Mitten in einem Sumpf, hoch im Norden, unter unvorstellbar harten Bedingungen. Zustände ähnlich der Sklaverei! Die Leibeigenschaft wurde erst 1861 abgeschafft. Und auch zu unserer Zeit noch war die soziale Lage der ärmeren Bevölkerungsschichten katastrophal. Die Menschen wohnten in unbeschreiblichen Elendsquartieren, viele hatten nicht einmal ein eigenes Bett. Die berüchtigten Kellerwohnungen wurden regelmäßig vom Hochwasser überschwemmt. Man hätte schon lange an bestimmten Stellen Dämme gegen das Wasser bauen müssen, aber die Regierung verschleppte es immer wieder.
Am 9. Januar 1905 kam es zu einer Massendemonstration für Reformen – Verfassung, Wahlrecht, Achtstundentag. Auslöser waren die sozialen Missstände im Land, die sich nach dem verlorenen Russisch-Japanischen Krieg verschärft hatten. Vor dem Winterpalais, dem Wohnsitz des Zaren, eröffnete die Armee ohne Ankündigung das Feuer auf die friedlichen, eigentlich zarentreuen Demonstranten, weit über 100 Menschen starben. Meine Mutter hätte in diesem Moment am liebsten die Koffer gepackt und wäre mit uns nach Deutschland gefahren. Nach diesem als ›Blutsonntag‹ in die Geschichte eingegangenen Datum kam es zu revolutionsartigen Unruhen, die das ganze Jahr über anhielten. Die Regierung konnte Pressezensur und Versammlungsverbote nicht mehr durchsetzen, sodass große Demonstrationen und Protestversammlungen stattfanden. Erstmals gab es in Russland eine ›kritische Öffentlichkeit‹. Die Schulen wurden geschlossen und das öffentliche Leben durch einen Generalstreik der Arbeiterbewegung lahmgelegt.
Gegen Ende des Jahres wurde der Volksaufstand gewaltsam beendet. Meine Eltern waren einerseits erleichtert, dass die damit verbundene Gefahr vorüber war. Andererseits waren sie, was die politische Zukunft Russlands betraf, sehr unzufrieden. Die dringend nötigen Reformen schienen in weite Ferne gerückt und spätere Wiederholungen revolutionärer Unruhen wohl unvermeidlich.
Auch der Antisemitismus flackerte in diesen Jahren wieder auf, es kam in vielen russischen Städten zu mörderischen Judenpogromen, angeheizt von der Geheimpolizei. Meine Eltern wollten um jeden Preis, dass uns Nachteile im Zusammenhang mit der jüdischen Herkunft unserer Familie erspart blieben.
Meine Mutter war bereits kurz nach ihrer Geburt in Berlin evangelisch getauft worden, mein Vater war bei seiner Übersiedelung nach Petersburg konvertiert. Mit der jüdischen Familienherkunft identifizierten sich meine Eltern in kultureller Hinsicht, und dieses Bewusstsein gaben sie auch an uns weiter. Aber religiös hatten sie mit dem Judentum keine Berührungspunkte mehr. Wir Kinder wurden alle gleich nach der Geburt getauft, allerdings auch das ohne rechte Begeisterung meiner Eltern. Die Umstände waren reichlich kurios, denn es musste jedes Mal in der französisch-reformierten Gemeinde geschehen. Der dortige Pfarrer war der Einzige, der bereit war, konvertierte Juden und deren Angehörige zu taufen – auf Französisch, sodass kaum jemand ein Wort verstand.
Ob die Taufe, unser nicht jüdisch klingender Familienname und unser so gar nicht jüdisch-religiöser Lebensstil ausreichend sein würden, uns vor dem Antisemitismus zu schützen, daran kamen meiner Mutter angesichts der Ereignisse immer neue Zweifel. Sie machte sich Sorgen, dass wir ›zu jüdisch‹ aussehen könnten und freute sich, dass ich als kleines Mädchen blond und blauäugig war – na ja, das gab sich dann später.
Trotz aller düsteren Vorahnungen und politischen Unruhen war unsere Kindheit in St. Petersburg eine herrliche Zeit, die meine Brüder und mich für unser ganzes Leben geprägt hat. Die Erinnerung daran, an die Stimmung in dieser herrlichen Stadt und unser behütetes und inspirierendes Elternhaus hat uns später über vieles getröstet.«