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Wie die Geschichte begann

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Ich lernte Sonja und Heinz Berg im Frühjahr 1987 kennen. Damals ging ich in die 12. Klasse, im Geschichts-Leistungskurs behandelten wir die Oktoberrevolution. Davon war ich fasziniert, ich wollte genau wissen, was sich abgespielt hatte. Aus den Zahlen und Ereignissen, die in meinem Geschichtsbuch standen, ergab sich für mich kein schlüssiges Bild. Wie hatte die mächtige Sowjetunion aus chaotischen Anfängen entstehen können? Wie fühlt sich eine Revolution aus Sicht der Menschen an?

Es war nicht nur historisches Interesse. Ich wollte hinter den Eisernen Vorhang schauen, den es damals noch gab und der noch lange bleiben würde, wie alle dachten. Allerdings hatte Gorbatschow ihn ein kleines Stückchen zurückgezogen. Das machte mich neugierig. Perestroika und Glasnost, seine Begriffe für den Wandel, waren in aller Munde. Reformen in den sozialistischen Staaten – jetzt schienen sie erreichbar zu werden. Nicht nur ich glaubte das. Aber was musste man reparieren, was abschaffen? Was war überhaupt gut gewesen, was schlecht? War die Revolution einfach irgendwo falsch abgebogen, und wenn ja, wann? Wie sollte man das herausfinden, Dinge besser machen? Solche aus heutiger Sicht naiven Fragen stellte ich mir.

Die öffentliche Meinung der damaligen Bundesrepublik war geprägt durch die ›Westbindung‹. In erster Linie war das eine deutliche Gut-Böse-Einteilung der Welt, in zweiter brachte sie ein totales Desinteresse am Leben der Menschen jenseits des Eisernen Vorhangs mit sich. Die Sowjetunion war abgeschottet, Informationen aus erster Hand so gut wie nicht zu bekommen – im Vergleich mit heutigen Kommunikations- und Reisemöglichkeiten unvorstellbar. In der damaligen Bundesrepublik lebten nur wenige Russen. Reisen in die Sowjetunion waren ausschließlich in Gruppen mit offiziellem Reiseführer möglich und auf wenige vorgegebene Ziele beschränkt. Wenn man etwas darüber zu lesen bekam, hatte es meist eine ideologische Färbung: im Westen antikommunistische Schreckensberichte oder von jenseits des Vorhangs östliche Propaganda, begleitet von seltsam blassen Farbfotos. Was lag zwischen diesen Extremen?

Ich lieh mir Bücher aus der Bibliothek, versuchte die Russische Revolution und die daraus hervorgegangene Gesellschaft zu begreifen. Doch in den Texten, die ich damals vorfand, enttäuschte mich die schematische, theorielastige Darstellungsweise. Erlebnisse von Menschen aus der Revolutionszeit kamen nicht vor, waren verschüttet unter einem riesigen Trümmerhaufen aus – je nach Perspektive – Revolutionstheorie, nachträglicher Deutung, Propaganda.

Was war also – seinerzeit – vor 70 Jahren geschehen? Die Sowjetunion erschien so unverrückbar, dass alles, was vor ihr gewesen war, der grauen Vorzeit angehörte. Dass Leningrad einmal St. Petersburg geheißen hatte, schien doppelt so lange her zu sein.

Anfang 1987 sah ich im Fernsehen eine Dokumentation über Leningrad und seine Vergangenheit unter dem Namen St. Petersburg. So etwas hatte Seltenheitswert. Noch kurz zuvor wäre wohl in der Sowjetunion ein westliches Filmprojekt über die einstige Hauptstadt als ›revisionistisch‹ eingestuft worden und damit tabu gewesen. Glasnost machte es jetzt möglich! Der Film zeichnete anhand historischer Orte auch den Verlauf der Revolution nach. Endlich hatte ich wenigstens ein paar Bilder vor Augen.

Ich erzählte meinem Vater von der Sendung. Zu meinem Erstaunen erwiderte er trocken, er kenne jemanden, der in St. Petersburg geboren sei und die Revolution dort miterlebt habe. Ich könne da sicher mal anrufen, wenn ich mehr erfahren wolle …

Das war im ersten Moment kaum vorstellbar. Das konnte keiner mehr erlebt haben. – Doch, doch, und die Dame sei noch sehr rüstig. Ich hätte jemanden so Interessantes in London oder New York vermutet und nicht im verschlafenen Bad Godesberg. Aber so war’s!

Ich war fasziniert von dieser unerwarteten Möglichkeit, fasste mir ein Herz und rief bei den für mich wildfremden Leuten an. Es meldete sich eine freundliche, alte Stimme: »Berg« – diesen kurzen Namen sprach sie so aus, dass jeder Buchstabe sorgsam einzeln zur Geltung kam, darunter das R auf die russische Art weich gerollt. Ich stellte mich vor und holte dazu aus, den Grund für meinen Anruf zu erklären, ob ich vielleicht mal ein paar Fragen stellen dürfe …

Bevor ich lange geredet hatte, sagte die Stimme ganz aufgeschlossen, ich solle doch am besten vorbeikommen, und wann es mir denn passen würde. Wir einigten uns auf einen Abend im März, ›nach acht‹ – eine Zeitangabe, die auch für alle nachfolgenden Verabredungen immer üblich blieb. Ein Detail dieses ersten Telefonats ist mir besonders in Erinnerung geblieben, weil die Reaktion so gar nicht dem entsprach, was ich von einer 83-jährigen Frau erwartet hatte. Natürlich siezte sie mich, was mir allerdings damals nicht geheuer war, und ich bat sie, mich zu duzen – worauf sie lachend sagte »Na dann – ich auch!«, ich solle sie bitte Sonja nennen.

Die drei Emigrationen der Sonja Berg

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