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Strugi Bjelaja Spurensuche, Berlin 2017

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Warum entschloss sich Sonjas Vater gerade im Oktober 1918 zur Flucht? Was geschah in diesen Tagen genau in St. Petersburg? Wie verlief die Fluchtroute? Wo fuhr der Zug ab, wo war der Umsteigepunkt, an dem Sonja ihre Eltern verlor, und wo der Endbahnhof, an dem sie sie wieder traf?

Zunächst scheint es, als sei niemand mehr da, der mir diese Fragen beantworten könnte. Ich sende Stephanie meine Aufzeichnungen, aber weitere Details dazu kennt sie auch nicht. Aber sie schickt mir einen Scan des Propusk. Es handelt sich um ein winziges vergilbtes Zettelchen. Ich erinnere mich: Sonja bewahrte es in einem kleinen Pergamenttütchen in ihrem Fotoalbum auf. Es ist eine aus einem Notizbuch herausgetrennte Seite, fast quadratisch, mit vielleicht 3 x 3 cm Seitenlänge. Jemand hat mit Tinte nur ein paar Worte darauf geschrieben – übersetzt heißt es:

»Ich bitte das Mitfahren mit dem Güterzug zu erlauben, da deren Tochter 14 J. alleine nach Toroschino weggefahren ist.

8/10-18 Stempel: Strugi-Bjelaja. Kommissar [unleserliche Unterschrift]«

Das genaue Datum der Ausreise kenne ich damit auch – der 8. Oktober 1918. Toroschino muss eine Bahnstation sein. Aber wo im Umkreis von St. Petersburg und in welcher Entfernung könnte sich ein solcher Ort befinden? Auf der Landkarte finde ich nichts Passendes – er ist wahrscheinlich zu klein. Heißt er überhaupt noch so, nach den Ortsumbenennungen der Revolution und der Sowjetzeit? Auch die richtige Umschrift aus dem Kyrillischen erschwert die Suche. Ich nehme mir den Propusk wieder vor. Auf dem kleinen Stempelabdruck steht ›Strugi Bjelaja‹. Bjelaja heißt weiß – was bedeutet Strugi? Meine paar Brocken Russisch reichen dafür nicht. In der Hoffnung auf eine Übersetzung gebe ich ›Strugi Bjelaja‹ in die Suchfunktion des Browsers ein. Zu meiner Überraschung erscheint eine Website mit einem estnischen Text. Dazu fehlt mir nun jeder sprachliche Zugang … Aber so viel erkenne ich: er handelt von einer für Estland bedeutsamen Persönlichkeit – es steht ein Geburtsdatum da, dahinter ›Strugi Bjelaja‹. Also auch ein Ortsname – offenbar an der damaligen Grenze. Außerdem steht auf der Website etwas über das Jahr 1919, und danach ›Strugi Krasnyje‹. Krasnyj bedeutet rot. Ohne Estnisch zu können, verstehe ich: Strugi Bjelaja wurde 1919 in Strugi Krasnyje umbenannt, von weiß zu rot, unter dem Eindruck der neuen Machtverhältnisse. Die Zaristen, die Weißen, waren von den Roten besiegt worden. Ich suche weiter, gebe Strugi Krasnyje ein. Zu meiner Überraschung öffnet sich die Homepage der Deutschen Bahn. Ein Auslandsfahrplan erscheint:

St. Petersburg Vitebski 18:44, …, Strugi Krasnyje 22:14, Toroshino 23:06, Pskow Pass 23:43.

Da habe ich den Zug! Er endet – nach etwa 90 Kilometern – am Zielbahnhof Pskow (Pleskau). Dort muss Sonja auf die Eltern gewartet haben. Ich schaue mir die Karte an. Von Pskow geht eine Bahnlinie nach Westen, mit Endpunkt Riga. Von dort kann man nach Libau weiterfahren. Mit Hilfe der Deutschen Bahn habe ich die Fluchtroute rekonstruiert. Die Fahrt ist wahrscheinlich auch damals am Witebsker Bahnhof in St. Petersburg losgegangen. Die Hauptstrecke nach Pskow verläuft heute anders, aber auf alten Karten sehe ich, dass die Züge damals alle die Strecke benutzten, an der Strugi Bjelaja liegt.

Beim Betrachten der Landkarte stellt sich mir die nächste Frage: Wieso war hier, nördlich von Pskow, eine Grenze? Welche Länder grenzten hier aneinander? Die baltischen Staaten existierten damals noch nicht, sie entstanden erst durch den Versailler Vertrag 1919. Ich schaue historische Karten mit damaligen Grenzverläufen an. 1918 galt der Friedensvertrag von Brest-Litowsk. Die darin festgelegte Grenze verläuft etwa 200 km weiter westlich, bei Riga, nicht bei Pskow.

Erst nach einigem Suchen finde ich den fehlenden BausteinXII: Etwa seit Mitte 1917 war die russische Armee faktisch kampfunfähig. Es kam zum Waffenstillstand mit Deutschland, dem es nicht ungelegen kam, keinen Zweifrontenkrieg mehr führen zu müssen. Die deutsche Regierung versuchte daraufhin, einen Separatfrieden mit Russland auszuhandeln – angesichts der schlechten Lage an der Westfront so schnell wie möglich. Die russische Regierung zögerte, denn die darin gestellten Konditionen waren denkbar schlecht. Um Russland zum Vertragsabschluss zu zwingen, rückten deutsche Truppen im Februar 1918 über die Waffenstillstandslinie vor. Die russische Seite war nicht in der Lage, Widerstand zu leisten. Um einen Vormarsch der Deutschen bis St. Petersburg zu verhindern, unterzeichnete die Sowjetregierung am 3. März 1918 hastig den Friedensvertrag von Brest-Litowsk. Die deutschen Truppen befanden sich zu diesem Zeitpunkt schon gut 200 km östlich der Vertragsgrenze von Brest-Litowsk, Pskow war bereits besetzt. Nach dem Friedensschluss zog sich das deutsche Militär nicht etwa hinter die Waffenstillstandslinie zurück, sondern eine sogenannte ›Deutsche Polizeimacht‹ blieb in den besetzten russischen Gebieten. Die deutsche Regierung plante, sich diese Gebiete entweder nach Kriegsende einzuverleiben oder als Faustpfand gegen andere Forderungen einzusetzen.

Aus diesen in vielen Geschichtsbüchern nicht erwähnten Umständen des Friedens von Brest-Litowsk ergab sich die eigentümliche Demarkationslinie nördlich von Pskow, mit Strugi Bjelaja als Grenzbahnhof. Pskow, wohin der Zug weiterfuhr, war noch im Oktober 1918 von deutschen Truppen besetzt. Andererseits war zu dieser Zeit die totale Niederlage Deutschlands bereits absehbar, sodass es eine Frage der Zeit war, bis die sogenannte deutsche Polizeimacht abgezogen würde. Ich finde eine weitere wichtige Information: Am 27. August 1918 wurde im sogenannten Deutsch-Russischen Ergänzungsvertrag (zum Vertrag von Brest-Litowsk) die Räumung der von Deutschland besetzten Gebiete festgelegt. Die Ratifizierungsurkunden wurden am 6. September 1918 ausgetauscht, darin war ein sofortiges Inkrafttreten festgelegt. Die Bekanntmachung darüber erfolgte am 1. Oktober 1918. Tatsächlich wurden Pskow und die Gebiete östlich der Linie von Brest-Litowsk im November 1918 mit der deutschen Kapitulation geräumt.

Vielleicht hatten Sonjas Eltern von diesen Vorgängen Kenntnis erhalten. Vielleicht packten sie die Koffer aus der Überlegung heraus, dass es umso schwieriger würde, Russland zu verlassen, wenn diese Demarkationslinie zurückwich. Verbreitete sich diese Nachricht mündlich unter den verbliebenen deutschsprachigen Petersburgern, las Gustav möglicherweise in der Zeitung davon? Hätte eine solche Information damals noch in einem in der Stadt erhältlichen Blatt gestanden? Wohl eher nicht. Es lässt sich nicht mehr rekonstruieren, über welche Informationskanäle die Hackels verfügten, aber in irgendeiner Weise werden diese Vorgänge den Ausschlag zur Flucht gegeben haben.

Um mehr Hintergründe zu bekommen, wie sich die Lage für die Hackels zwischen der Oktoberrevolution 1917 und ihrer Flucht im Oktober 1918 darstellte, suche ich nach großen und kleinen Ereignissen, die schrittweise das Leben der Menschen in Russland veränderten. Ich lese über die Schüsse des Panzerkreuzers ›Aurora‹, die Besetzung der Bahnhöfe und Telegrafenstationen durch die Bolschewiki usw. – die großen politischen Linien. Aber wie erlebten die Menschen in ihrem Alltag die bolschewistische Machtübernahme? Es mag sein, dass sie die heute als Meilensteine der Revolution betrachteten Ereignisse in ihrem Kriegsalltag zunächst kaum zur Kenntnis nahmen.

Die Dekrete der Sowjetregierung entfalteten nur langsam eine Wirkung auf den Alltag der Menschen. Die Kommunalisierung des Wohnraums wurde im März 1918 begonnen. Zunächst geschah dies aber vereinzelt und unsystematisch in Form willkürlicher Einquartierungen. Wer kein Haus besaß, merkte vielleicht zunächst nichts von der grundlegenden Änderung der politischen Ordnung.

Anfang 1918 dürfte das Geschehen in Petrograd mehr von der Endphase des Ersten Weltkrieges (und damit auch dem Verlauf der baltischen Front) als von der noch ungefestigten bolschewistischen Herrschaft bestimmt worden sein. Der deutsche Vormarsch, mit dem die Unterzeichnung des Friedensvertrages erzwungen werden sollte, löste bei der Regierung Panik aus. Sie fürchtete, im Falle der Einnahme Petrograds von den Deutschen entmachtet zu werden. Noch vor der Unterzeichnung des Friedens von Brest-Litowsk wurden in einer Nacht-und-Nebel-Aktion alle Regierungsfunktionen nach Moskau verlagert.XIII Vor der Bevölkerung wurde die faktische Flucht der Regierung zunächst geheim gehalten, aber sie wurde bald spürbar, weil sie zur weiteren Verschärfung der wirtschaftlich katastrophalen Lage beitrug. Die Eisenbahnlinien nach Süden waren durch die deutsche Besatzung unterbrochen, damit gab es keine Möglichkeit mehr, Getreide aus der Ukraine in die Stadt zu bringen. Auf den noch befahrbaren Eisenbahnlinien in Richtung Osten waren alle Transportkapazitäten wochenlang blockiert durch den Umzug der Regierung nach Moskau. Die Industrie erhielt keine Lieferungen mehr, sodass reihenweise Fabriken schließen mussten. Zwischen Januar und April 1918 wurde fast die Hälfte aller Petrograder Fabrikarbeiter entlassen.XIV Die Stadt entvölkerte sich zusehends – wer konnte, floh aufs Land, um sich irgendwie versorgen zu können. Die städtische Verwaltung funktionierte nicht mehr, Müll und Tierkadaver bleiben auf den Straßen liegen, es kam zur schlimmsten Choleraepidemie in der Geschichte der Stadt. In einer zeitgenössischen Quelle beschrieb ein Epidemiologe die Situation so: »Ich habe China, Persien und ganz Asien bereist, aber Zustände wie jetzt in Petrograd habe ich noch nirgendwo erlebt.«XV

Seit April 1918 kam es zu Hungerrevolten der Arbeiter, im Mai ging die Stadtregierung dazu über, diese gewaltsam niederzuschlagen. Damit begann die Phase des sogenannten ›Roten Terrors‹. Zunächst waren dies einzelne Maßnahmen wie Streikverbot, Einschränkung der Pressefreiheit, Razzien der Geheimpolizei, Erschießungen. Während des Sommers wurde die Situation immer chaotischer, und Ende August 1918 gingen die Bolschewiki zu einer strategischen Großoffensive über, um sich durch brutale Gewalt und Einschüchterung an der Macht zu halten. Es begann eine regelrechte Hatz auf sogenannte ›Feinde der Revolution‹, begleitet durch eine Pressekampagne, in der die Arbeiter in allen Zeitungen zum Hass auf die Bourgeoisie angestachelt wurden. Am 31. August erschien in der ›Krasnaja Gaseta‹ ein Leitartikel unter dem Titel ›Blut gegen Blut‹, der mit den Worten endete: »Soll das Blut der Bourgeoisie und ihrer Diener fließen – mehr Blut!«.XVI

Die ›Krasnaja Gaseta‹ war ganz sicher keine Zeitung nach Gustav Hackels Geschmack. Vielleicht wird er sie aber trotzdem gelesen haben, nachdem seine beiden bevorzugten Blätter, ›Slowo‹ und der ›St. Petersburger Herold‹, verboten worden waren. Las er die Leitartikel, in denen zur Lynchjustiz am Bürgertum aufgerufen wurde? Tat er das – wie früher – morgens auf der Toilette, oder war ihm die Freude an diesem Ritual inzwischen verleidet?

So oder so muss er die politische Radikalisierung der Revolution wahrgenommen haben – wahrscheinlich wurde auch das Textilimportgeschäft, für das er arbeitete, in dieser Zeit geschlossen und enteignet.

Sinowjew, Chef des Petrograder Stadtsowjets und enger Weggefährte Lenins, sagte im September 1918 in einer öffentlichen Rede: »Die Arbeiterklasse muss endgültig eine stahlharte Diktatur errichten und mit all ihren Feinden schonungslos abrechnen!«XVII

Jeder, der als ›Bourgeois‹ oder sonstiger Feind der Revolution ausgemacht wurde – zum Beispiel durch Denunziation der Nachbarn –, war nach neuer Rechtslage praktisch vogelfrei und konnte jederzeit abgeführt und erschossen werden. Tausende wurden nach diesem Prinzip im Sommer 1918 verhaftet. Der deutsche Konsul setzte sich im September für die Freilassung derjenigen ein, die aus Polen oder dem Baltikum stammten, und organisierte Ausreisemöglichkeiten in das deutsch besetzte Gebiet. Auch dies geschah vor dem Hintergrund, dass Deutschland beabsichtigte, in Friedensverhandlungen Ansprüche auf das Baltikum zu erheben. Diesem Schritt sah man sich näher, wenn man sich als eine Art Schutzmacht der dortigen Bevölkerung präsentierte. Eventuell bekam Gustav Hackel die Zugfahrkarten im Rahmen dieser Intervention des Konsuls. Soweit ich mich an Sonjas Erzählung erinnere, war ihr Vater nicht verhaftet worden. Er gehörte aber eindeutig zu einer Gruppe, der dies jederzeit widerfahren konnte. Er war im Baltikum geboren, seine Frau war Deutsche, das ließ die Hackels möglicherweise auf die Liste derjenigen rücken, denen die Deutsche Botschaft zu helfen bereit war.

Auch wenn sich all dies nicht mehr im Einzelnen klären lässt: den Entschluss zur Flucht trafen Hackels sowohl aus der Einschätzung ihrer faktischen Gefährdung als auch der präzisen Beobachtung der innen- und außenpolitischen Lage.

Die drei Emigrationen der Sonja Berg

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