Читать книгу Spur in den Schatten - Martin Schoeller, Daniel Schönwitz - Страница 6

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Kapitel 1: Donnerstag, 23. September

14.12 Uhr, Düsseldorf (Nordfriedhof)

Es nieselte, es war kalt und der Wind blies so stark, dass es keinen Sinn machte, einen Regenschirm aufzuspannen. Die alten Birken auf dem Düsseldorfer Nordfriedhof neigten sich bedrohlich, als sie von einer besonders heftigen Böe erfasst wurden. Manuel Willmann spürte, wie sich auf seiner linken Schläfe ein Wassertropfen formte und langsam die Wange herunterlief.

Was für ein Scheißtag, dachte der, während er auf den Sarg seiner Mutter starrte. Kaum vorstellbar, dass sie tatsächlich darin lag. Anfang der Woche noch quicklebendig – und jetzt kurz davor, in eine Grube herabgelassen zu werden. Für immer. Der Kloß in Manuels Hals schwoll an, als sein Blick zu dem frisch ausgehobenen Grab neben dem Sarg wanderte. Jetzt bloß nicht weinen. Er sah den Pfarrer an, der tapfer dem Wetter trotzte und seine Mutter in den höchsten Tönen lobte. Der kleine Kirchenmann mit dem gewaltigen Bauch und dem hochroten Kopf sah selbst jetzt so aus, als würde er schwitzen.

»Anna Willmann hat immer hohe moralische Ansprüche an sich und andere gestellt«, sagte er und blickte mit ernster Miene in die Runde der Trauergäste. Einige nickten zustimmend, hin und wieder war ein Schluchzen zu vernehmen. Trotz des miesen Wetters waren mehr als vierzig Leute erschienen, von denen Manuel höchstens die Hälfte kannte. Seine Mutter hatte bis auf ihn und ihren 87-jährigen Vater, der seit einigen Jahren an Alzheimer litt, keine Familie. Und Horst Willmanns Pflegerin hatte dringend davon abgeraten, ihn herbringen zu lassen: »Er würde sowieso nicht verstehen, was da vor sich geht«, hatte sie gesagt.

Die hohen moralischen Ansprüche seiner Mutter. Wie wahr, dachte Manuel. Und doch so falsch. Seine Gedanken kehrten zurück zum letzten Gespräch drei Tage zuvor, das sein Leben komplett auf den Kopf gestellt hatte. Sie hatte ihn angelogen. Jahrelang. Ein Leben lang. Und jetzt schien nichts mehr so, wie es einmal gewesen war.

Manuels Handy hatte geklingelt, als er gerade die Tür zum Vorlesungssaal öffnete. Er traf sich in den Semesterferien hier wöchentlich mit zwei Kommilitonen, um Strafrecht zu pauken. Da er spät dran war, wollte er zunächst nicht drangehen. Warum er es dennoch tat, wusste er bis heute nicht. Vielleicht eine Vorahnung?

»Ja?«, sagte er mit leicht ungeduldigem Tonfall.

»Spreche ich mit Manuel Willmann?«

»Ja, das bin ich.«

»Ich bin Schwester Lisa von der Uni-Klinik Essen. Ihre Mutter hatte einen schweren Autounfall und wird gerade operiert. Unseren Informationen zufolge sind Sie der nächste Angehörige. Es wäre gut, wenn Sie herkommen könnten. So schnell wie möglich.«

Manuel lief es eiskalt über den Rücken. Er schluckte und brauchte einige Sekunden, bis er sich gesammelt hatte und mechanisch antwortete: »Ich mache mich sofort auf den Weg.«

Erst als er über den Mainzer Universitäts-Campus Richtung Parkplatz eilte, wurde ihm bewusst, dass er nicht gefragt hatte, um welche Verletzungen es ging und ob seine Mutter in Lebensgefahr schwebte. Aber »schwerer Autounfall« und »nächster Angehöriger« - das hörte sich nicht gut an. Im Gegenteil.

Nachdem er zweieinhalb Stunden später die 250 Kilometer zwischen Mainz und Essen zurückgelegt hatte, sah Manuel seine Befürchtungen bestätigt. Die Empfangsdame der Klinik schaute ihn ernst an und schickte ihn zur Intensivstation im zweiten Stock, wo ihm eine zierliche, gehetzt wirkende Ärztin in grünem Kittel öffnete. Sie machte sich nicht die Mühe, den Mundschutz abzunehmen oder sich vorzustellen.

»Herr Willmann, der Zustand Ihrer Mutter ist äußerst kritisch«, sagte sie. »Normalerweise bräuchte sie jetzt absolute Ruhe. Aber sie hat darauf bestanden, mit Ihnen zu sprechen.« Blick und Tonfall der Ärztin verrieten eindeutig, dass sie das aufs Schärfste missbilligte. »Bitte versuchen Sie unbedingt, Themen zu vermeiden, die Ihre Mutter aufregen könnten«, mahnte sie, während sie bereits den Flur entlang eilte.

Manuel wusste in diesem Moment noch nicht, dass das unmöglich sein würde.

Er folgte der Ärztin schweigend, bis sie abrupt vor einer Tür auf der linken Seite des Ganges stehen blieb und ihm einen letzten strengen Blick zuwarf. »Sie haben zehn Minuten«, fauchte sie.

Sein Herz pochte heftig, als Manuel eintrat. In dem matt beleuchteten Raum roch es intensiv nach Desinfektionsmitteln; medizinische Geräte surrten und piepsten. Seine Mutter lag reglos in dem Krankenbett, das einen Großteil des Zimmers einnahm. Auf den ersten Blick war kein Lebenszeichen zu erkennen, doch der Bildschirm links neben ihr verriet Manuel, dass das Herz schlug. So jedenfalls interpretierte er die Linie, die regelmäßig nach oben ausschlug.

Manuel näherte sich vorsichtig und betrachtete das Gesicht seiner Mutter. Kein schöner Anblick: Die Ärzte hatten ihren Schädel bandagiert, die Wangen waren blau verfärbt und die Augen blutunterlaufen. Manuel lief es erneut eiskalt über den Rücken. Mein Gott, dachte er.

Später sollte er erfahren, dass sich seine Mutter mit ihrem VW Passat auf der A 52 zwischen Düsseldorf und Essen mehrfach überschlagen hatte – bei dem verzweifelten Versuch, eine Karambolage mit einem Mercedes zu vermeiden, dessen 79-jähriger Fahrer plötzlich auf die linke Spur gewechselt war. Ohne erkennbaren Grund und ohne in den Rückspiegel zu schauen. Ein Rentner, der auf der Straße schon lange nichts mehr zu suchen hatte.

Seine Mutter, unterwegs zu einem Gerichtstermin in Essen, hatte eine Vollbremsung hingelegt, das Lenkrad herumgerissen und dann die Kontrolle über den Wagen verloren. Eine Mitschuld traf sie nicht, da sie nach Erkenntnissen der Polizei höchstens 120 Stundenkilometer gefahren war. Schneller fuhr sie sowieso nie, wie Manuel wusste. Er hatte sich schließlich oft genug darüber lustig gemacht. Es dauerte fast zwei Stunden, bis die Feuerwehrmänner sie aus dem Wrack des Wagens schweißen konnten; neben einer Schädelprellung und einem halben Dutzend Knochenbrüchen trug seine Mutter schwere innere Verletzungen davon.

Manuel holte tief Luft und griff vorsichtig nach ihrer Hand. Seine Augen füllten sich mit Tränen. Unwillkürlich schossen ihm Bilder durch den Kopf: Seine Mutter bei seiner Abiturfeier, fröhlich lachend und unendlich stolz. Seine Mutter, wie sie seine Studentenbude renovierte, mit weißen Farbspritzern im Gesicht. Seine Mutter, wie sie herzhaft über einen seiner Sprüche lachte. Selbst, wenn er höchstens mittelprächtig war.

»Hallo, Mama«, sagte er leise.

Sie öffnete langsam die Augen und versuchte, den Kopf in seine Richtung zu drehen. Als sie aufstöhnte, setzte Manuel sich vorsichtig auf die Bettkante und beugte sich vor, damit sie ihn direkt anschauen konnte. Er glaubte, in ihren Augen Angst zu erkennen.

Seine Mutter räusperte sich. »Manuel.... Ich muss Dir …. etwas sagen«, flüsterte sie mit zittriger Stimme, um jedes Wort heftig ringend. »Es tut mir ….«

Sie konnte nicht weitersprechen, weil sie von einem heftigen Hustenanfall durchgeschüttelt wurde. Manuel fürchtete, sie würde gleich ersticken. »Soll ich die Ärztin rufen?«, fragte er hastig.

»Nein, nein«, presste seine Mutter hervor. Mit großer Anstrengung gelang es ihr, wieder ruhiger zu atmen. Nach einer gefühlten Ewigkeit versuchte sie, fortzufahren.

»Es geht um … um … um Deinen Vater.« Erneut musste sie eine Pause einlegen. Manuel bekam eine Gänsehaut. Er starrte seine Mutter wortlos an. Plötzlich konnte er es kaum erwarten, dass sie weitersprach. Die Sekunden, in denen sie neue Kraft sammelte, schienen sich endlos in die Länge zu ziehen.

Schließlich röchelte seine Mutter mit schmerzverzerrtem Gesicht: »Es war … kein... Samenspender.«

Ein neuer Hustenkrampf folgte, diesmal heftiger als der erste. Manuel saß jetzt reglos da, wie betäubt. Er konnte nicht fassen, was er gerade gehört hatte. Erst als seine Mutter nicht mehr hustete, sondern nach Luft schnappte wie eine Ertrinkende, löste sich die Starre. Aber als er den Notrufknopf drücken wollte, sah sie ihn panisch an und schüttelte kaum merklich den Kopf.

Irgendwie gelang es ihr, sich wieder zu sammeln.

»Er lebt … hier … in der Nähe .... in...«. Seine Mutter versuchte mit Gewalt, ihm noch etwas mitzuteilen. Doch sie bekam kein Wort mehr heraus, ihr Gesichtsausdruck wirkte plötzlich wie eingefroren. Im selben Moment begann eines der Geräte heftig zu piepen, und nur Sekunden später stürzten die Ärztin und eine Krankenschwester ins Zimmer. Manuel saß noch immer wie gelähmt auf der Bettkante.

»Wir verlieren sie«, rief die Ärztin. »Raus hier!«

Manuel verließ den Raum wie in Trance und schlich in den Wartebereich, wo er sich auf einen Stuhl sacken ließ. Er stützte seine Ellenbogen auf den Knien ab und vergrub das Gesicht in den Händen. Er konnte es nicht glauben. Seine Mutter hatte ihm sein Leben lang erzählt, er sei das Resultat einer anonymen Samenspende. Doch das war offensichtlich eine Lüge gewesen. Unfassbar.

Als die Ärztin im Wartebereich erschien, wusste er nicht, wie viel Zeit vergangen war. »Wir mussten Ihre Mutter ins künstliche Koma versetzen«, sagte sie und blickte ihn vorwurfsvoll an. »Ich hatte Ihnen doch gesagt, Sie sollten jede Aufregung vermeiden.«

In diesem Augenblick hätte Manuel sie am liebsten derb beschimpft. Ein unangemessenes Wort für das weibliche Geschlechtsorgan lag ihm auf den Lippen, doch er brachte keinen Ton heraus. Vermutlich besser so. Stattdessen drehte Manuel sich wortlos um, ließ die Ärztin stehen und eilte nach draußen. Er brauchte frische Luft.

Was er in den Stunden danach gemacht hatte, wusste er nicht mehr. Vermutlich war er ziellos rumgelaufen. Irgendwann, es war bereits dunkel, hatte sein Handy erneut geklingelt, und eine Krankenschwester hatte ihm lapidar mitgeteilt, dass seine Mutter es leider nicht geschafft habe. Ob er bitte wegen der Formalitäten nochmal herkommen könnte?

Jedes Jahr starben in Deutschland mehr als 4000 Menschen im Straßenverkehr, hatte Manuel kürzlich irgendwo gelesen. Doch erst jetzt, als es einen geliebten Menschen – den einzigen geliebten Menschen – getroffen hatte, wurde ihm bewusst, wie viel Trauer und Schmerz sich hinter dieser Zahl verbargen.

Der Moment, den Manuel fürchtete wie keinen zweiten, stand unmittelbar bevor. Die vier Träger hoben den Sarg seiner Mutter an und begannen, ihn in die Grube herab zu lassen. Manuel schloss die Augen. Waren es jetzt Tränen, die seine Wange herunterliefen? Oder Regentropfen? Egal. Er spürte weder Kälte noch Nässe. Nach einigen Sekunden öffnete er die Augen. Der Sarg war jetzt unten, in ungefähr zwei Metern Tiefe. Seine Mutter hatte ihre ewige Ruhestätte erreicht. Der einzige Ort, von dem es kein Zurück gab. Der Kloß in Manuels Hals schwoll wieder an.

Die Sargträger blieben noch einen Moment mit respektvoll gesenkten Köpfen stehen, bevor sie zurücktraten. Manuels Hand zitterte, während er als Erster ans Grab trat und nach der kleinen Schaufel griff, die in einem Eimer Erde steckte. Er hielt die Luft an, bevor er die Erde langsam auf den Sarg rieseln ließ.

Nach einem kurzen Blick hinterher ging er weiter, um einige Meter entfernt seine Position einzunehmen. Jetzt war nicht der Moment, um ausgiebig Abschied zu nehmen – beobachtet von so vielen Leuten und kurz davor, von der Trauer überwältigt zu werden.

Pärchenweise traten die Trauergäste ans Grab und kamen danach zu ihm, um ihr Beileid auszusprechen. Eine der ersten war Gaby Köhler, die engste Freundin seiner Mutter aus Studientagen. Ihr attraktives Gesicht war tränenüberströmt, und sie brachte kein Wort hervor, als sie Manuel so fest in den Arm nahm, dass er für einen Moment keine Luft mehr bekam. Ihr Mann Richard schüttelte Manuel die Hand und nickte ihm mit ernster Miene zu. Danach kam Heidi Winkler, die pummelige Sekretärin seiner Mutter. Die meisten anderen kannte Manuel nicht. Einige stellten sich vor und erklärten ihm, in welcher Beziehung sie zu seiner Mutter gestanden hatten. »Ich war eine Mandantin, und sie hat mir so sehr geholfen«; oder: »Ihre Mutter und ich kannten uns aus der Schule«. Manuel konnte sich nichts davon merken; er war vollauf damit beschäftigt, die Fassung zu wahren.

Am Schluss standen sein bester Freund Leon Gomez und dessen Freundin Marie vor ihm. »Danke, dass Ihr gekommen seid«, brachte Manuel mühsam hervor. Sie umarmten ihn schweigend.

Leon und Manuel waren seit dem neunten Schuljahr befreundet. Damals war Leon gerade mit seinen Eltern – die Mutter Deutsche, der Vater Spanier – aus Barcelona nach Düsseldorf gezogen. Der Klassenlehrer setzte den Neuen, der kaum Deutsch sprach, neben Manuel - und schuf auf diese Weise die Grundlage für eine lebenslange Freundschaft.

Manuel musste an den dürren Jungen denken, der damals in sein Leben getreten war. Wie sehr Leon sich seitdem verändert hatte: Inzwischen verrieten sein rundliches Gesicht und der leichte Bauchansatz, dass er großen Spaß am Essen und Trinken hatte. Und seine schwarzen gewellten Haare trug er seit einiger Zeit fast schulterlang. »Dadurch sieht mein Gesicht nicht so nach Vollmond aus«, hatte er verkündet und sein typisches ansteckendes Grinsen aufgesetzt.

Den Weg vom Friedhof ins nahegelegene Café Rosen, in dem er vier Tische für die Trauergäste reserviert hatte, legte Manuel schweigend zurück. Leon und Marie, die neben ihm gingen, sprachen ebenfalls kein Wort. Wie so oft in den vergangenen Tagen dachte Manuel an seine Kindheit zurück. Wie sehr hatte er sich einen Vater gewünscht. Einen, der ihm bei den Hausaufgaben half. Der mit ihm ins Fußballstadion ging. Der mit ihm ein Bier trank und laut rülpste. Wie sehr hatte er seine Mitschüler beneidet, wenn sie voller Stolz von ihren Vätern erzählten; von ihren tollen Jobs oder ihren coolen Sprüchen.

Und er? Den Großteil seiner Kindheit hatte er allein mit seiner Mutter verbracht. Sicher, sie hatte in dieser Zeit einige Partner gehabt, einer von ihnen – Bernd – war sogar für zwei Jahre eingezogen. Doch selbst er war nicht annähernd zur Vaterfigur aufgestiegen. Immer wieder hatte Manuel seine Mutter gefragt, ob es denn keinen Weg gebe, seinen echten Vater zu finden. Himmel, er hatte mit dreizehn oder vierzehn Jahren sogar bei der Samenbank angerufen und sich erkundigt, unter welchen Bedingungen sie den Namen eines Spenders rausrücken. Das sei völlig ausgeschlossen, lautete die knappe Antwort.

Und obwohl seine Mutter seine Sehnsucht gespürt hatte, gespürt haben musste, war sie stets bei ihrer Geschichte geblieben. Buchstäblich bis zum Tod. Gebetsmühlenartig hatte sie die Lüge wiederholt, immer und immer wieder: Sie sei als 21-Jährige nach einer gescheiterten Beziehung fürchterlich enttäuscht gewesen. Sie habe geglaubt, nie mehr einen Mann zu finden, mit dem sie eine Familie gründen will. Gleichzeitig sei ihr Kinderwunsch immer stärker geworden – wahrscheinlich, weil sie sich nach dem Tod ihrer Mutter unendlich einsam gefühlt habe. Und dann habe sie von dieser faszinierenden neuen Möglichkeit erfahren, der Befruchtung mit anonym gespendetem Sperma.

Manuel hatte in keiner Minute seines 25-jährigen Lebens an den Worten seiner Mutter gezweifelt. Sicher, nachts, wenn er nicht schlafen konnte, malte er sich immer wieder aus, wie plötzlich ein Mann vor ihm steht und sagt: »Ich bin Dein Vater. Hat Deine Mutter nie von mir erzählt?« Oder dass er einen Brief erhält, in dem sein Vater ihm mitteilt, dass er auf der Flucht sei und sich deshalb verstecken müsse. Aber dass er nicht mehr anders könne und seinen Sohn unbedingt kennenlernen wolle. »Bitte sei am Freitag um 15.30 Uhr am Delfin-Becken im Aqua Zoo und warte auf mein Zeichen...« Manuels Fantasie kannte keine Grenzen, wenn es darum ging, sich eine Begegnung mit seinem Vater auszumalen.

Selbst als Erwachsener fragte er sich beim Blick in den Spiegel regelmäßig, wie sein Vater wohl aussah. Hatte er ebenfalls dunkelblonde, kurz geschorene Haare? Verdankte Manuel ihm das schmale Gesicht, die hellblauen Augen und die Körpergröße von fast 1,90 Metern? War sein Vater dünn und schlaksig oder hatte er sich – wie Manuel – mit jahrelangem Muskeltraining eine kräftige Statur mit breiten Schultern erarbeitet?

Aber bisher hatte er sich stets nach kurzer Zeit ermahnt, dass es keinen Sinn mache, solchen Gedanken nachzuhängen. Dass seine Fragen unbeantwortet bleiben würden. Dass er nie erfahren werde, wer sein Vater ist.

Doch jetzt hatte er plötzlich eine Chance.

Aber wie sollte er ihn finden?

Wenn seine Mutter jemanden eingeweiht hatte, dann Gaby Köhler. Manuel beschloss, sie am nächsten Tag zu besuchen.

16.31 Uhr, Düsseldorf (LKA-Zentrale)

Herrschaftszeiten, sehen die wieder alle freundlich aus, dachte Elisabeth Hajek, als sie den Besprechungsraum betrat. Die sieben Mitglieder ihres Teams – allesamt Männer – saßen am anderen Ende des großen ovalen Konferenztisches und blickten sie abwartend an. Obwohl Elisabeth bereits seit gut zwei Monaten die Ermittlungsgruppe »Organisierte Kriminalität/Rauschgift« beim Landeskriminalamt Nordrhein-Westfalen leitete, fiel es den Fahndern schwer, ihre neue Chefin zu akzeptieren. Und irgendwie konnte sie das verstehen. Als ihr Vorgänger in den Ruhestand gegangen war, hatten alle erwartet, dass sein Stellvertreter Jens Böhmer den Chefposten erhält. Aber dann kam sie, die Kommissarin aus München, die nach ihrer Scheidung zurück ins Rheinland wollte. Und für die ein adäquater Posten gefunden werden musste.

Trotz des großen Fensters drang kaum Licht in den Besprechungsraum. Regentropfen prasselten gegen die Scheibe. Elisabeth knipste die Deckenlampe an und überlegte kurz, ob sie sich ans Kopfende des Tisches setzen sollte. Sie wählte dann aber einen Stuhl an der Seite, um nicht zu weit von den Kollegen entfernt zu sitzen. Manchmal fühlte sie sich wie eine unbeliebte Klassenlehrerin.

Als sie gerade anfangen wollte, ging die Tür auf. Michael Balzer, der schwergewichtige Leiter der Abteilung 1, zu der die Ermittlungsgruppe OK/Rauschgift gehörte, nickte ihr zu und nahm zwei Stühle weiter Platz. Sie merkte, wie sich die Fahnder überraschte Blicke zuwarfen.

»So«, begann Elisabeth, »wie Sie alle wissen, haben wir endlich eine vielversprechende Spur und müssen deshalb entscheiden, wie wir weiter vorgehen.« Sie blickte kurz zu Balzer herüber. Elisabeth war nicht ganz sicher, warum der Chef darauf bestanden hatte, an der Besprechung teilzunehmen. Wollte er dem Team demonstrieren, dass er hinter ihr stand? Oder wollte er sich ein Bild davon machen, wie sie die Kollegen behandelte? Weil sich jemand beschwert hatte?

Zwei Stunden zuvor war Elisabeth in Balzers Büro marschiert, um ihn von dem Durchbruch bei den Ermittlungen zu informieren. Sie war erleichtert, schließlich hatte sie mehr als sechs Wochen auf diesen Moment gewartet. In diesem Zeitraum hatten ihre Fahnder rund um die Uhr drei Drogendealer observiert, die am Düsseldorfer Hauptbahnhof, in Köln-Mülheim und in der Wuppertaler Innenstadt Heroin verkauften.

Elisabeth hatte das Ziel ausgegeben, herauszufinden, von wem die drei den Stoff erhalten. Doch lange schien es, als würde die Mission auf ganzer Linie scheitern. Trotz intensiver Beobachtung, verwanzter Wohnungen und abgehörter Telefonate fanden sie nicht den kleinsten Hinweis auf den Lieferanten. Der Druck, die aufwändige Observation abzubrechen und die Dealer festzunehmen, stieg täglich. Aber Elisabeth hielt trotz heftiger Kritik an ihrer Strategie fest.

Zum Glück mit Erfolg. Seit gestern wussten sie, wer das Heroin lieferte: Ein gebürtiger Afghane namens Mohamad Hosseini, der in Köln lebte. Der schlaksige junge Mann mit zurückgegelten schwarzen Haaren, Kinnbart und Hornbrille hatte am Mittwochabend alle drei Dealer besucht – getarnt als Pizzalieferant.

Als ihre Fahnder unabhängig voneinander von den Besuchen eines Pizza-Lieferanten berichteten, hatte Elisabeth sofort Verdacht geschöpft. Drei Dealer, die am selben Abend Lust auf Pizza haben? Ziemlich unwahrscheinlich. Am Morgen hatte dann ein Vergleich der Überwachungsfotos letzte Zweifel ausgeräumt: Der Lieferant war dieselbe Person gewesen – in Wuppertal, in Köln und in Düsseldorf. Das konnte kein Zufall sein. Elisabeth war sicher, dass Hosseini in seinen Transportkisten keineswegs Pizzen oder Pasta befördert hatte. Sondern Heroin. Zum Glück hatten sie sein Foto in der Datenbank gefunden, weil er vor zwei Jahren wegen Körperverletzung verhaftet worden war. Dadurch kannten sie jetzt bereits seinen Namen.

»Ich schlage vor, dass wir Hosseini ab sofort rund um die Uhr observieren«, fuhr Elisabeth fort. »Wir müssen wissen, mit wem er zusammenarbeitet.«

Die Fahnder blickten sich skeptisch an. Klaus Wilke, mit fast 30 Berufsjahren der Älteste in der Runde, lehnte sich mit verschränkten Armen zurück und rollte derart ausgiebig mit den Augen, dass Elisabeth ihn nicht ignorieren konnte. Statt wie geplant ihre sorgfältig zurecht gelegten Argumente vorzutragen, sah Elisabeth zu Wilke herüber und fragte: »Irgendwelche Einwände?«

»Das ist eine ganz schlechte Idee«, polterte der Fahnder, der mit seinem karierten Hemd und der ausgewaschenen Jeans wie ein alternder Cowboy wirkte. Sein struppiges graues Haar machte den Eindruck, als schneide er es selbst. Umso sorgfältiger pflegte er seinen Kinnbart, der akkurat getrimmt und im Gegensatz zum ergrauten Haupthaar tiefschwarz war.

Wilke beugte sich nach vorne und fixierte Elisabeth wütend. »Wir sollten den Afghanen und die drei Dealer festnehmen, statt hier rumzusitzen und zu konferieren. Wenn die Kisten voll waren, reden wir über zwölf bis fünfzehn Kilogramm Heroin, Fräulein Hajek.«

Elisabeth hasste die herablassende Art, mit der er sie »Fräulein« nannte. Sie hatte Wilke von Anfang an nicht leiden können. Ein kleiner Mann, der seine Komplexe hinter selbstgefälligem Gehabe verbarg. Und der definitiv ein Problem damit hatte, Anweisungen von einer Frau zu erhalten. Elisabeth spürte, wie die Wut langsam in ihr aufstieg. Ganz ruhig bleiben. Durchatmen. Sie zwang sich, mit unbewegter Miene und normaler Stimme zu antworten.

»Das ist mir durchaus bewusst, Herr Wilke. Aber Hosseini ist allem Anschein nach nur ein weiteres kleines Licht in der Organisation. Wir müssen wissen, wie er den Stoff erhält, um an die Hintermänner heranzukommen.«

Wilke lachte hämisch auf und schüttelte energisch den Kopf.

»Diese Leier kann ich wirklich nicht mehr hören, Fräulein Hajek. Polizeiarbeit besteht nicht nur aus Observieren! Wir sollten alle vier verhören, und zwar schnell. Glauben Sie mir, da kriegen wir mehr raus, als wenn wir jetzt schon wieder wochenlang auf gut Glück irgendeinem Dealer hinterherfahren.«

Der Fahnder hatte sich jetzt in Rage geredet und gab sich keine Mühe mehr, seine gefühlte Überlegenheit zu verhehlen. Als belehre er eine widerspenstige Polizeischülerin, dachte Elisabeth. Sie kochte innerlich, schaffte es aber, ruhig zu bleiben.

»Und was, wenn nicht, Herr Wilke?«, fragte sie betont gelassen. »Dann kommen wir nie an die Hintermänner ran. Und in ein paar Wochen geht’s weiter wie bisher, mit ein paar anderen kleinen Dealern, die das Zeug an den Mann bringen. Und wenn ich Sie daran erinnern darf, Herr Wilke: Hier wurden seit über fünf Jahren nur Straßenverkäufer geschnappt. Und von denen hat kein Einziger – ich wiederhole: kein Einziger – im Verhör geredet. Die haben alle Angst! Und wir haben keine Ahnung, vor wem. Oder können Sie mir sagen, wer hier das Heroingeschäft organisiert?«

Wilke hatte jetzt Mühe, sich zu beherrschen, das konnte Elisabeth sehen. Aber nach einem Blick auf Balzer, der scheinbar teilnahmslos aus dem Fenster schaute, antwortete der Fahnder seelenruhig: »Kein Grund, laut zu werden, Fräulein Hajek. Aber ich wehre mich schon dagegen, dass Sie hier aus München kommen und uns sagen, wir hätten in den letzten Jahren nichts auf die Reihe gebracht.«

»Das habe ich doch gar nicht behauptet. Ich wollte...«

Wilke schnitt ihr das Wort ab. »Hier sitzen fast 100 Jahre Berufserfahrung«, sagte er und sah Beifall heischend in die Runde. »Uns brauchen Sie bestimmt nichts zu erklären.« Einige Fahnder nickten zustimmend.

»Ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn Sie mich ausreden ließen, Herr Wilke«, entgegnete Elisabeth scharf. Sie hätte ihm am liebsten an den Kopf geworfen, dass er ein kleines Arschloch und noch dazu ein mieser Polizist sei. Aber sie spürte, dass sie die Situation nicht eskalieren lassen durfte.

»Ich weiß sehr wohl, dass hier gute Arbeit geleistet wurde«, fuhr sie fort. »Aber Tatsache ist: Wir kennen die Hintermänner nicht, und das muss sich ändern. Ich bin überzeugt, dass wir mit der Observation die besten Chancen haben.«

Elisabeth machte eine kurze Pause, aber keiner der Fahnder antwortete. Wilke hatte die Arme hinter dem Kopf verschränkt und blickte nach oben, als könne bei so viel Dummheit nur noch der Herrgott helfen. Elisabeth wusste, dass sie ihn besser ignoriert hätte, konnte sich einen Seitenhieb aber nicht verkneifen.

»Im Übrigen, Herr Wilke: Dieselben Argumente habe ich von Ihnen gehört, als wir die Dealer observiert haben. Und allen Unkenrufen zum Trotz haben wir den Lieferanten doch gefunden.«

»Na und?«, schoss Wilke zurück. »Was wollen Sie machen, wenn irgendein Lieferant bei Hosseini auftaucht? Den auch sechs Wochen lang observieren? Das ist doch eine unglaubliche Verschwendung von Ressourcen. Ich hab‘s schon oft gesagt, aber ich sag es gerne nochmal: Mit jedem Tag, den wir observieren, steigt die Gefahr, dass sie Lunte riechen. Und dann sind sie von einem Tag auf den anderen plötzlich alle verschwunden – in Afghanistan, in der Türkei oder in Berlin-Kreuzberg. Und wir müssen wieder komplett von vorne anfangen.« Wilke sah Elisabeth herausfordernd an.

»Ja, dieses Risiko besteht«, räumte sie ein. »Aber Sie alle hier haben in den vergangenen sechs Wochen bewiesen, dass Sie gute Observateure sind. Deshalb bin ich sicher, dass Hosseini keinen Verdacht schöpfen wird.«

Wilke öffnete den Mund für eine Replik, aber sein Sitznachbar Jens Böhmer legte ihm beschwichtigend die Hand auf den Arm. »Was machen wir denn mit den Dealern? Wenn wir die alle drei festnehmen, wird Hosseini sicher misstrauisch.«

Elisabeth sah ihn erleichtert an. Endlich ein konstruktiver Beitrag. Eines musste man ihrem Stellvertreter lassen: Er verhielt sich stets loyal, zumindest in den Teambesprechungen. Und soweit sie das beurteilen konnte, hatte er bisher auch nichts unternommen, um das Misstrauen zu schüren, das die Fahnder der neuen Chefin entgegen brachten.

»Nein, alle drei können wir nicht festnehmen«, stimmte sie zu. »Aber den in Köln-Mülheim sollten wir uns morgen schnappen, der verkauft am meisten Heroin. Am besten erwischen wir ihn auf frischer Tat, damit es nach einem Zufallsfund aussieht. Herr Reimer, Herr Schmidt, übernehmen Sie das?«

Die Angesprochenen nickten. Stefan Reimer war mit 26 Jahren der jüngste im Team. Ein bulliger, ruhiger Typ, der einen distanzierten Eindruck machte, aber seine Arbeit stets ohne Murren erledigte. Bert Schmidt, ein Enddreißiger mit hoher Stirn und schwarzem Johann-Lafer-Schnurrbart, sprach ebenfalls nur das Nötigste – zumindest mit ihr. Aktiver als sein Mundwerk waren allerdings seine Augen: Elisabeth hatte ihn wiederholt ertappt, wie er verstohlen auf ihre Brüste glotzte. Sie hoffte inständig, dass er bei seinen Observationen diskreter vorging. Und dass er nie den Mut aufbringen würde, sie anzubaggern.

»Machen wir direkt morgen früh«, sagte Schmidt mit breitem rheinischen Akzent.

Elisabeth wartete kurz, ob er seinen Ausführungen noch etwas hinzufügen würde, was aber nicht der Fall war. Fünf Wörter am Stück. Immerhin, dachte Elisabeth. Nicht, dass er sich noch als Plappermaul entpuppt.

»Okay«, antwortete sie. »Und bei den anderen beiden warten wir ab. Wir beobachten weiter, aber nicht mehr rund um die Uhr, sondern stichprobenartig.« Sie sah, wie einige Fahnder erleichtert aufatmeten. Das bedeutete weniger Nachtschichten.

Einwände schien es nicht zu geben. Wilke sah jetzt teilnahmslos zum Fenster raus. Elisabeth war es nur recht. Sie begann, Hosseinis Observation zu organisieren. Um kein Öl ins Feuer zu gießen, teilte sie Wilke nicht am Wochenende, sondern erst am Vormittag ein – ein Privileg, dass er als Stammesältester allerdings für selbstverständlich zu halten schien.

Nach der Besprechung fuhr Elisabeth nachhause. Sie hatte in den zurückliegenden Wochen genug Überstunden gemacht. Und in ihrer Wohnung in Benrath, einem vornehmen Stadtteil im Süden der Rheinmetropole, gab es jede Menge zu erledigen. Noch immer standen überall Umzugskartons herum. In den vergangenen Wochen hatte sie gerade noch genug Kraft gehabt, ein Brot zu schmieren und die Glotze anzuschalten, wenn sie spätabends heim kam.

Doch heute fühlte Elisabeth sich besser; der lang ersehnte Erfolg bei den Ermittlungen hatte Energiereserven freigesetzt. Sie war fest entschlossen, endlich die Kartons auszupacken und die Wohnung auf Vordermann zu bringen. Und morgen vor der Arbeit würde sie sich im Fitnessstudio anmelden, einen Termin hatte sie bereits vereinbart. Es wurde höchste Zeit, wieder ein Privatleben zu führen.

Während sich Elisabeth in ihrem Dienstwagen durch den Berufsverkehr schlängelte, dachte sie an die Teambesprechung zurück. Immerhin war die Situation nicht eskaliert, und am Ende hatten die Fahnder ihren Vorschlag akzeptiert. Ohne Begeisterungsstürme, aber die wären wohl nur zu erwarten gewesen, wenn sie drei Wochen Sonderurlaub für alle verkündet hätte. Balzer hatte ihr aufmunternd zugenickt, bevor er wortlos verschwunden war.

Nichtsdestotrotz war Elisabeth klar, dass sie möglichst schnell für einen besseren Draht zu ihren Leuten sorgen musste. Aber wie? Die Männer zum Altbier einladen und über Fußball quatschen? Das passte nicht zu ihr; und außerdem hatte sie von Fußball keine Ahnung.

Jedes Mal, wenn sie darüber nachdachte, kam sie zum selben Ergebnis: Sie brauchte einen Erfolg. Die Fahnder würden sie nur respektieren, wenn ihre Strategie aufging und zu den Hintermännern führte. Elisabeth war zwar nicht so naiv zu glauben, dass sie ihr dann plötzlich Sympathie entgegenbringen würden. Aber Respekt wäre fürs Erste völlig ausreichend.

Als sie am Benrather Schlosspark vorbeifuhr und ihren Blick über die gepflegte Anlage schweifen ließ, klingelte ihr Handy. Scheiße, dachte Elisabeth, als sie aufs Display blickte. Daniel Wessing, ihr Ex-Mann.

Sie steckte das Handy seufzend in die Freisprechanlage und nahm das Gespräch an.

»Hajek.« Sonst meldete sie sich in der Regel mit einem schlichten ‚Ja‘, aber es schadete nichts, Daniel daran zu erinnern, dass sie wieder ihren Mädchennamen trug.

»Hallo, meine Süße«, antwortete er ungerührt. »Stör ich?«

»Bin gerade unterwegs«, sagte Elisabeth kurz angebunden. »Was gibt’s denn?«

»Ich habe am Montag einen Gerichtstermin in Düsseldorf«, sagte er. »Ich verteidige einen Banker von der WestLB, der wegen Untreue angeklagt ist. Hat fast 100 Millionen mit griechischen Anleihen in den Sand gesetzt. Hast Du bestimmt in der Zeitung gelesen.«

Typisch Daniel, dachte Elisabeth. Keine Gelegenheit auslassen, um zu betonen, wie wichtig er ist. Ihr Ex arbeitete als Strafverteidiger und hatte schon etliche Top-Manager vor Gericht vertreten. Seit Ausbruch der Finanzkrise im Sommer 2007 verteidigte er in erster Linie Vorstände von Banken, die ihre Institute mit hochspekulativen Investments an den Rand einer Pleite gesteuert hatten. Elisabeth erinnerte sich noch bestens an Daniels ausschweifende Monologe am Frühstückstisch: Sicher, die Banker hätten unternehmerische Fehlentscheidungen getroffen. Aber das sei doch keineswegs strafbar. Sonst müsse ja bald die Hälfte aller Top-Manager in den Knast. Elisabeth sah das ein wenig anders, aber das interessierte Daniel nicht wirklich.

»Naja, und ich fliege schon Sonntagabend nach Düsseldorf«, fuhr er fort, als Elisabeth nicht auf die bahnbrechende Neuigkeit reagierte. »Und da habe ich mich gefragt, ob Du Lust hast, mit mir essen zu gehen.«

Elisabeth war inzwischen in die Seitenstraße abgebogen, in der ihre Wohnung lag, konnte aber keinen freien Parkplatz entdecken. Mist.

»Diesen Sonntag?«, sagte sie und suchte fieberhaft nach einer Ausrede. Da ihr nichts Besseres einfiel, entschied sie sich für einen Klassiker. »Das ist leider ganz schlecht. Da bin ich mit einer alten Schulfreundin verabredet.«

Elisabeth verspürte nicht die geringste Lust, Daniel zu treffen. Zum letzten Mal war sie ihm vor fünf oder sechs Wochen begegnet, als sie mit ihrer Freundin Julia ein Wellness-Wochenende in München verbracht hatte. Sonntags vor dem Rückflug hatte sie noch kurz bei Daniel vorbeigeschaut, um einige persönliche Sachen abzuholen. Er hatte sie in ungewöhnlich kleinlauter Manier gebeten, noch ein bisschen zu bleiben, »zum Reden«. Als sie ablehnte, hatte Daniel ernsthaft enttäuscht ausgesehen, was Julia, die glücklicherweise mitgekommen war, wenig später so kommentierte: »Der ist eindeutig wieder scharf auf Dich. Typisch Mann: Die wollen immer das, was sie nicht kriegen können.«

Elisabeth erklärte sich Daniels erwachtes Interesse eher damit, dass sie seit der Trennung wieder mehr auf ihr Äußeres achtete. Sie wusste schließlich, wie sehr ihr Ex-Mann auf Äußerlichkeiten fixiert war. Elisabeth hatte seit der Trennung immerhin sechs Kilo abgenommen – und zwar an den richtigen Stellen: Ihr Gesicht war schmaler, die Oberschenkel schlanker und der Hintern kleiner geworden. Nicht, dass sie vorher völlig außer Form gewesen wäre. Aber das eine oder andere Fettpölsterchen hatte sich über die Jahre gebildet. Außerdem sah sie dank ihrer schwarz gefärbten Haare und des neuen Pagenschnitts, der ihr attraktives Gesicht mit den tiefbraunen Augen betonte, stark verändert aus. Ein riesiger Fortschritt gegenüber ihrer vorherigen 0815-Langhaarfrisur, fand Elisabeth. Sie genoss es, dass Männer ihr jetzt wieder hinterherschauten. Für ihre 43 Jahre musste sie sich nicht verstecken. Allerdings bestand nach den letzten sportlosen Wochen die Gefahr, dass die Pfunde klammheimlich zurückkehrten.

»Und?« Daniels Stimme verriet, dass er ihr kein Wort glaubte. »Ich muss erst Dienstagmittag wieder in München sein.«

Elisabeth seufzte, während sie noch immer um den Block fuhr und nach einem Parkplatz Ausschau hielt. Na gut, dann also raus mit der Sprache.

»Daniel, ich glaube nicht, dass das eine gute Idee ist«, sagte sie. Ein Neuanfang mit dem Ex kam für Elisabeth nicht infrage. Sicher, manchmal dachte sie wehmütig an die gemeinsame Zeit zurück, besonders an die ersten drei oder vier Jahre. Doch wie damals würde es nie wieder werden, dafür war zu viel kaputt gegangen. Die erste Affäre hatte Elisabeth ihm noch verziehen, weil Daniel sie auf Knien angefleht und zerknirscht Besserung gelobt hatte. Aber nur acht Monate später ertappte sie ihn erneut. Mit einer sehr jungen und sehr blonden Referendarin in einem Münchner Hotel. Gut, dass sie ihm nach dem ersten Fehltritt nicht blind vertraut, sondern regelmäßig sein Handy überprüft hatte.

Elisabeth hatte in der Hotellobby gewartet, versteckt hinter einer Zeitung, und während die beiden als »Herr und Frau Wessing« eincheckten, war sie langsam aufgestanden. Nie würde sie Daniels Blick vergessen, als er sich mit dem Zimmerschlüssel in der Hand umdrehte und plötzlich vor seiner Frau stand. Statt eine Szene zu machen, hatte sie den beiden viel Spaß gewünscht, das Hotel verlassen und sich bei Julia einquartiert.

»Und warum ist das keine gute Idee?«, fragte Daniel nun. »Ich dachte, wir wollten Freunde bleiben.«

»Nein, wir wollten freundschaftlich auseinandergehen. Das ist was anderes.«

»Liz, ich will nicht mit Dir ins Bett. Ich will nur mit Dir essen gehen. Und reden.«

Da, endlich ein Parkplatz. Elisabeth setzte den Blinker und begann, rückwärts einzuparken.

»Liz, bist Du noch da?«

»Ja. Sorry. Ich parke gerade ein.«

»Also ?«

»Daniel...«

»Nur essen, nicht vögeln.«

Elisabeth beschloss, ihre Strategie zu ändern. Sie hatte nicht vor, sich den Abend mit einer nervigen Grundsatzdiskussion zu versauen.

»Daniel, selbst wenn ich wollte: Ich stecke mitten in einer äußerst schwierigen Ermittlung. Und ich bin Sonntag und Montag zur Observation eingeteilt.«

»Aha, die Chefin observiert selbst.« Seine Skepsis war nicht zu überhören.

»Ja, die Chefin observiert selbst«, antwortete Elisabeth gereizt. »Wir sind ziemlich dünn besetzt, da muss ich auch mitziehen...« Sie überlegte kurz, ob sie von ihren Problemen mit dem Team erzählen sollte. Nein, entschied sie. Das würde eine Vertrautheit erzeugen, die sie nicht mehr wollte. »Tut mir leid, Daniel«, schob sie hinterher, als er schwieg.

»Schon okay, ist dann eben nicht zu ändern«, erwiderte er betont gleichmütig. »Hast Du einen Neuen?«

»Das geht Dich nichts an«, fauchte sie. An Daniels Direktheit, die bisweilen die Grenze zur Unverschämtheit überschritt, hatte Elisabeth sich nie gewöhnen können.

»Also nein. Ich hab auch niemanden, falls es Dich interessiert.«

Ich muss dieses Gespräch jetzt dringend beenden, dachte Elisabeth. »Du, ich muss Schluss machen. Ich hab jetzt einen Termin mit der Vermieterin, die wartet schon«, log sie.

»Denkst Du manchmal noch an mich?«

»Daniel...«

»Ich hab heute Nacht von Dir geträumt. Willst Du wissen, was?«

Jetzt reichte es.

»Tschüss, Daniel.« Elisabeth legte auf, ohne seine Antwort abzuwarten.

Spur in den Schatten

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