Читать книгу Spur in den Schatten - Martin Schoeller, Daniel Schönwitz - Страница 7

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Kapitel 2: Freitag, 24. September

Du hattest heute einen Termin bei Deinem Vermögensverwalter. Er hat Dir stolz erzählt, dass es für Dich gerade bestens läuft. Nachdem Du fast verlustfrei durch die Finanzkrise gekommen bist, hast Du Dein Vermögen dieses Jahr wieder kräftig gemehrt. Natürlich nicht Du, sondern er. Aber er ist zu gut erzogen, um das auszusprechen.

Besonders Dein Aktiendepot hat kräftig an Wert gewonnen. Es liegt seit Jahresbeginn rund fünfzehn Prozent im Plus. Aber auch mit Immobilien hattest Du ein glückliches Händchen. Kein Pfusch am Bau, kein Ärger mit zahlungsunwilligen Mietern. Die richtigen Partner auszuwählen, sei bei Immobilienprojekten das A und O, hat Dein Vermögensverwalter gesagt.

Er war irritiert, als Du keinerlei Anzeichen von Freude gezeigt hast. Er hat mehrfach betont, dass das ein sehr gutes Ergebnis ist. Gerade angesichts des aktuellen Marktumfeldes.

Aber Du hast nur genickt, ihm kurz gedankt und bist wieder verschwunden. Du wolltest nur noch raus.

Du konntest Dich nicht freuen.

Du weißt, wie Du zu Deinem Vermögen gekommen bist.

Du weißt, dass es Blutgeld ist.

9.03 Uhr, Südfrankreich (in der Nähe von Montpellier)

Am Horizont verschmolz das Mittelmeer mit dem tiefblauen Himmel, und die nahezu unbewegte Wasseroberfläche reflektierte das Licht der Morgensonne. Eine sanfte Brise streichelte das Gras am Ufer der Lagune, die durch eine schmale Landzunge vom offenen Meer getrennt war.

Der Mann auf der Veranda des Hauses, das auf einem kleinen Hügel stand, ließ seinen Blick über den Salzwasser-See schweifen. Ein Panorama ganz nach seinem Geschmack: Sonne, Natur und vor allem – keine Menschen. Genau deshalb hatte er den alten Bauernhof gekauft und restauriert: Trotz der wunderschönen Lage mit freiem Blick auf Lagune und Meer störten ihn hier weder neugierige Nachbarn noch ausgelassene Badegäste. Der nächste Ort, das Fischerdorf Palavas, lag auf der anderen Seite der Bucht, so dass der Mann nichts von den Touristen mitbekam, die im Sommer einfielen wie ein Hornissenschwarm.

Abgeschiedene Orte wie diesen gab es an der französischen Mittelmeerküste kaum noch – schon gar nicht an der mondänen Côte d‘Azur, aber auch hier, in der Region Languedoc-Roussillon rund um die Metropole Montpellier, war ihre Zahl in den vergangenen Jahren rapide gesunken.

Die Zeiten, in denen auf dem Grundstück Hühner und Schweine gelebt hatten, lagen ebenfalls lange zurück. Der Mann hatte den Stall abreißen lassen, nachdem er das Anwesen fünf Jahre zuvor gekauft hatte. Das schlichte zweistöckige Haupthaus aus gelbem Sandstein war kernsaniert worden, sodass es jetzt gepflegt, aber keineswegs luxuriös aussah – genau, wie er es mochte. Auch im Inneren lautete die Devise: Schlicht und elegant, aber nicht aufsehenerregend. Parkettboden, ein paar unscheinbare, aber hochwertige Möbel und ein kleines Fitnessstudio mit Hantelbank und Laufband – das war‘s. Und natürlich die Veranda, auf der der Mann das atemberaubende Panorama genießen konnte.

Auf dem massiven dunkelbraunen Holztisch vor ihm standen ein Glas Mineralwasser und eine Schale Müsli, die er noch nicht angerührt hatte. Der Mann war vor drei Stunden aufgestanden, um sein tägliches Sportprogramm zu absolvieren: eine Stunde Strandlauf, eine Stunde Schwimmen. Allerdings schwamm er nicht im Meer oder in der Lagune, sondern im Swimmingpool hinterm Haus. Der Mann bevorzugte sauberes, chloriertes Wasser. Und er mochte keine Strömung, weil sie bremste oder beschleunigte und somit eine exakte Bewertung seiner Leistung unmöglich machte.

Nach dem Sport hatte er sich geduscht, rasiert und eine schwarze Stoffhose sowie ein weißes Hemd angezogen. Dass er viel Sport trieb, war dem 46-Jährigen deutlich anzusehen. Kein einziges Gramm Fett polsterte seinen mittelgroßen Körper. Das hagere, kantige Gesicht mit dem dunkelblonden Bürstenschnitt verriet die disziplinierte Lebensweise. Hinter der etwas zu lang geratenen Nase lugten wachsame Augen hervor, denen wenig zu entgehen schien. Er hätte wie ein Elitesoldat oder Kampfsportler gewirkt – wäre da nicht die elegante Kleidung gewesen, die eher an einen Yachtbesitzer erinnerte.

Der Mann saß reglos da und ließ nur seine Augen wandern. Er fand es wichtig, sich Zeit für die schönen Dinge des Lebens zu nehmen. Anders als sein Vater, mit dem er als Kind manchen Urlaub in Luxushotels vor ähnlich imposanter Kulisse verbracht hatte. Aber sein Erzeuger hatte nie Augen für die Schönheit gehabt, sondern im Hotelzimmer gesessen und akribisch den Finanzteil der Tageszeitung studiert. Mit Geschäftspartnern telefoniert. Faxe verschickt und nervös auf Antwort gewartet. Sein Vater, ein Investmentbanker, war ein Workaholic gewesen, der nichts anderes kannte als die Arbeit - und der nur deshalb Urlaub mit seinem Sohn machte, weil er sich dazu verpflichtet fühlte.

Nach einigen Minuten nahm der Mann einen Schluck Wasser und griff nach seinem iPad. In spätestens einer Stunde würde seine Lebensgefährtin, eine notorische Langschläferin, auftauchen und der Ruhe ein Ende bereiten. Von den drei Begleitern des Mannes war dagegen keine Störung zu erwarten. Sie hielten sich zwar auf dem Grundstück auf, wussten aber, dass sie diskret im Hintergrund zu bleiben hatten.

Während der Mann das Müsli aß – 100 Gramm Haferflocken mit Früchten und 200 Milliliter Milch, wie jeden Morgen – rief er auf dem iPad die aktuelle Ausgabe des »Handelsblatt« auf. Der Artikel auf der ersten Seite beschäftigte sich mit dem Streit in der schwarz-gelben Koalition. Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble wehrte sich gegen Steuersenkungen, sehr zum Ärger der FDP. Der Mann schüttelte mit dem Kopf. Gelangweilt wechselte er zur nächsten Seite – und war plötzlich elektrisiert.

Steuer-Deal steht kurz bevor

Liefert die Schweiz auch die Namen deutscher Schwarzgeldbesitzer?

Die Verhandlungen zwischen Deutschland und der Schweiz über ein neues bilaterales Abkommen stehen kurz vor dem Abschluss. Das erfuhr das »Handelsblatt« aus Regierungskreisen. In der Vereinbarung will sich die Schweiz verpflichten, Schwarzgeld deutscher Anleger zu identifizieren und mit einer pauschalen, einmaligen Strafsteuer zu belegen. Im Gespräch ist ein Satz zwischen 20 und 30 Prozent. Das Geld sollen die betroffenen Banken dann an den deutschen Fiskus auszahlen. Ob sie dabei den Namen des Schwarzgeldbesitzers nennen müssen oder nicht, ist offenbar noch nicht geklärt. Die deutschen Unterhändler drängen weiter darauf, dass die Eidgenossen auch Namen liefern. »An die USA hat die Schweiz schließlich auch Namen geliefert«, sagte eine mit den Verhandlungen vertraute Person.

Schon jetzt ist klar, dass das traditionsreiche Schweizer Bankgeheimnis mit dem Abkommen endgültig abgeschafft wird. Damit geht eine Ära zu Ende (…)

Der Mann hätte sein iPad am liebsten in die Ecke gefeuert, riss sich aber in letzter Sekunde zusammen. Er stand auf und begann, auf der Veranda hin- und herzulaufen. Als er das Gefühl hatte, sich wieder halbwegs im Griff zu haben, zückte er sein Handy und drückte auf Wahlwiederholung. Es klingelte nur einmal, bevor sein Gesprächspartner abhob.

»Bestell den Anwalt am Sonntag um zehn in die Bar«, sagte der Mann.

»Probleme?«

»Ja. Ich erzähl‘s Dir am Sonntag.«

Der Mann legte ohne ein weiteres Wort auf und griff wieder nach dem iPad. Ärgerlicherweise enthielt der Artikel keine weiteren Informationen. Kein Wort darüber, wann genau das Abkommen unterzeichnet werden soll.

Während der Mann darüber nachdachte, was er unternehmen musste, kam seine Lebensgefährtin auf die Veranda – etwas früher als gewöhnlich. Eine zierliche Frau mit kurzgeschnittenen, rötlich-braunen Haaren. Als sie die mühsam unterdrückte Wut in seiner unbewegten Miene sah, gefror ihr fröhliches Lächeln. Sie blieb abrupt stehen und blickte ihn unsicher an. Nach kurzem Zögern sagte sie mit leichtem russischen Akzent: »Ich lasse mich zum Frühstücken nach Montpellier fahren, ja?«

Als der Mann nicht antwortete, sondern sie weiter anstarrte, drehte sie sich hastig um und eilte zurück ins Haus.

Erst eine halbe Minute später wandte der Mann seinen Blick von der Stelle ab, an der die Frau gestanden hatte.

12.15 Uhr, Düsseldorf (Innenstadt)

Die Schlange an der Theke des thailändischen Schnell-Restaurants in den Schadow-Arkaden, einem Einkaufszentrum in der Innenstadt, bestand aus vier Personen. Allerdings waren darunter mindestens zwei Kandidaten, die vermutlich länger brauchen würden, argwöhnte Manuel Willmann, dessen Magen kräftig knurrte. Er entschied, sich trotzdem einzureihen. Ungeduldig beobachtete er, wie ein älteres Ehepaar orderte, das offenkundig wenig Erfahrung mit thailändischer Küche hatte.

Manuel trat nervös von einem Bein aufs andere. Wenn er Hunger hatte, konnte er ungenießbar sein. Ein Wesenszug, den er definitiv nicht von seiner Mutter geerbt hatte. Denn die war die Geduld in Person gewesen. Und aus Essen hatte sie sich sowieso nichts gemacht. Morgens und abends ein Käsebrot, viel mehr brauchte sie nicht. Mahlzeiten dienten dem Überleben; waren eher notwendiges Übel als Genuss.

Das ältere Ehepaar war endlich fertig, und der nächste Kunde erwies sich als souveräner Besteller. Tagesgericht und Apfelschorle. Trotz seines geschniegelten Auftretens – zurückgekämmte Haare, teurer Anzug, überheblicher Blick – fand der hungrige Manuel ihn plötzlich fast sympathisch. Naja, fast.

Er war bereits um fünf Uhr morgens aufgewacht, in seinem alten Kinderzimmer - wie üblich, wenn er in Düsseldorf war. Schnell wusste er, dass er nicht wieder einschlafen würde. Zu viele Gedanken schwirrten ihm durch den Kopf. Manuel beschloss, trotz der unchristlichen Uhrzeit aufzustehen und mit der Suche nach seinem Vater zu beginnen.

Die moderne, helle Wohnung seiner Mutter am Rande des Hofgartens, einem weitläufigen Park im Zentrum Düsseldorfs, bestand aus vier Zimmern, einer Küche und dem Bad. Die Räume in wenigen Stunden systematisch zu durchsuchen, hätte also eine lösbare Aufgabe sein können – wenn seine Mutter ein ordentlicher Mensch gewesen wäre. Und keine hoffnungslose Chaotin mit dem Wahlspruch »Wer Ordnung hält, ist zu faul zum Suchen«.

Ein Blick auf ihren Schreibtisch im Arbeitszimmer führte dem gähnenden Manuel vor Augen, was das bedeutete: Postkarten, Rechnungen und Werbeprospekte lagen kreuz und quer verteilt und hatten sich auch auf die angrenzende Fensterbank ausgebreitet. Manuel - der sich für Archäologie interessierte - schätzte, dass es sich um circa fünf Schichten mit Dokumenten aus verschiedenen Epochen (oder besser: Monaten) handelte. Vermutlich hatte seine Mutter hier seit dem traditionellen Frühjahrsputz nicht mehr aufgeräumt.

Er beschloss, den Schreibtisch vorerst zu ignorieren und im Wohnzimmer anzufangen. Dort herrschte ebenfalls Unordnung, aber wenigstens kein Chaos. Drei Zeitschriftenstapel auf dem gläsernen Couchtisch; ein Paar Socken und zwei Pullis auf dem dunkelbraunen Sofa – für Anna Willmanns Verhältnisse wirkte das Zimmer geradezu aufgeräumt.

Als Manuel begann, die Fotoalben aus dem Regal zu holen und durchzublättern, erlebte er die erste Überraschung: Sie waren chronologisch geordnet. So viel Systematik hätte er seiner Mutter gar nicht zugetraut. Erst kamen Bilder von ihm als Baby. »April 1985 – April 1986«, stand auf dem Album. Klein-Manuel im Krankenhaus. Im Kinderwagen. Im Laufstall. Und so weiter. Manche Fotos zeigten seine Mutter, wie sie ihn im Arm hielt und glücklich lächelte. Wie sie ihm die Brust gab. Wie sie ihn wickelte.

Auch ein Bild von Gaby Köhler war dabei, wie sie mit ihm laufen übte. Manuel fiel auf, dass Gaby in jungen Jahren ein heißer Feger gewesen war. Lange blonde Haare, fröhliche Augen und ein sinnlicher Mund mit vollen Lippen.

Leider war kein Bild dabei, das Klein-Manuel mit einem Mann zeigte. Nirgendwo ein potenzieller Vater. Nicht auf den Babyfotos, nicht in den übrigen Alben. Statt dessen Gruppenbilder aus dem Kindergarten. Mein Gott, hatte seine Mutter ihn tatsächlich mit dieser unsäglichen Pilzfrisur und bunten Aufnähern auf der Jeans rumlaufen lassen? Ein Foto vom ersten Schultag. Immerhin: Kürzere Haare und keine Aufnäher mehr; allerdings ein grünes T-Shirt mit einem Reh vorne drauf. Es folgten Bilder von Kindergeburtstagen, Urlaubsreisen nach Holland, Tennisturnieren. Und schließlich zahlreiche Fotos von seiner Abi-Feier, auf die ihn seine Mutter voller Stolz begleitet hatte.

Schöne Erinnerungen, die Manuel jedoch nicht weiterbrachten. Enttäuscht klappte er das letzte Album zu. Wäre ja auch zu einfach gewesen.

Er durchforstete die restlichen Etagen des Regals sowie den Wohnzimmerschrank nach weiteren Alben, aber ohne Erfolg. Jede Menge Bücher, alte Zeitschriften und Krimskrams, den nur Frauen aufheben konnten. Aber keine Alben oder sonstige Erinnerungen aus der Zeit vor 1985. Keine Bilder von seiner Mutter während des Studiums. Keine Bilder von der Schwangerschaft.

Es schien, als habe ihr Leben erst mit seiner Geburt begonnen.

Endlich war Manuel dran. »Einmal Ente süß-sauer, bitte«, sagte er und lächelte die hübsche Bedienung an. »Und eine große Cola.«

Die junge Frau blickte freundlich zurück, aber leider mit einem professionellen »Ich-bin-zu-allen-Kunden-nett-und-zuvorkommend«-Lächeln. Keine Anzeichen eines Flirts. Naja, momentan hatte er sowieso andere Sorgen. Manuel zahlte und ging mit seinem Tablett zu einem der Stehtische, wo er die Ente mit großem Appetit in sich hereinschaufelte. Kein Knaller, aber für den Preis völlig in Ordnung, fand er. Als er das letzte Stück Fleisch in den Mund geschoben hatte, blickte er auf die Uhr. Perfekt, erst viertel vor eins. Genug Zeit, um nach Köln zu Gaby Köhler zu fahren. Beim Gedanken an das bevorstehende Treffen schlug sein Herz höher.

Bevor Manuel am Mittag in die Innenstadt aufgebrochen war, hatte er Gaby auf dem Handy angerufen.

»Hi Gaby, hier ist Manuel.«

»Oh, Manuel. Wie fühlst Du Dich?«, fragte sie besorgt.

»Passt schon«, antwortete er. Was sollte er auch sagen? »Du, ich muss dringend was mit Dir besprechen«, fuhr er eilig fort. »Es geht um meine Mutter. Hast Du heute Nachmittag Zeit? Dann würde ich kurz vorbeikommen.«

Gaby zögerte eine Sekunde, antwortete dann aber hastig, um ihre Überraschung zu überspielen: »Klar, gerne. Ich bin noch eine Stunde in der Kanzlei. Ab zwei bin ich also auf jeden Fall zuhause.« Gaby arbeitete halbtags in der Kanzlei ihres Mannes Richard.

»Drei Uhr könnte ich schaffen«, sagte Manuel.

»Prima. Worum geht’s denn eigentlich?«

»Tja... Oh, Gaby, der Typ von Mamas Bank ruft gerade auf der anderen Leitung an, da muss ich rangehen. Also, bis um drei dann, ja?«

Die Ausrede hatte Manuel sich vorher zurechtgelegt. Er wollte Gaby ins Gesicht sehen, wenn er ihr von dem Last-Minute-Geständnis seiner Mutter erzählte. Denn Gaby war unfähig, sich zu verstellen – was in ihrem Freundeskreis ein häufiger Anlass für Frotzeleien war.

»Gaby ist wie ein offenes Buch«, hatte seine Mutter gerne gesagt. Und deshalb war Gaby eine verdammt schlechte Lügnerin. Manuel war sicher: Wenn sie ihm etwas verheimlichen wollte, würde er das merken.

Zudem hatte er eine weitere wichtige Information, mit der er Gaby konfrontieren wollte. Nach der erfolglosen Suche im Wohnzimmer hatte er widerstrebend im Schlafzimmer weitergemacht. Es gab Schöneres, als in den Slips und BHs der eigenen Mutter herumzuwühlen, aber was blieb ihm übrig? Wenigstens entdeckte er keine String-Tangas oder Strapse. Stattdessen fand er in der untersten Schublade des Nachtschränkchens – ganz hinten, unter einer Packung Kondome – eine Mappe mit der Aufschrift »Schwangerschaft«. Sie enthielt zahlreiche Papiere, zum Beispiel einen Merkzettel zur »Ernährung für angehende Mütter« und eine Liste mit den Terminen der Schwangerschaftsgymnastik. Nichts, was mich weiterbringt, dachte Manuel nach dem ersten Durchblättern. Doch dann entdeckte er einen Untersuchungsbefund des Frauenarztes von Anfang September 1984. Neben dem errechneten Geburtstermin stand auf dem gelben DIN-A4-Blatt ein weiteres wichtiges Datum: »Mutmaßliche Zeugung 15. Juli 1984, +/- 3 Tage«.

Damit wusste Manuel zumindest, wann es passiert war.

Vielleicht konnte Gaby sich erinnern, was seine Mutter in jenen Tagen gemacht hatte – wenn sie nicht sowieso wusste, wer sein Vater war.

16.35 Uhr, Düsseldorf (Königsallee)

Elisabeth Hajek warf einen letzten Kontrollblick in den Spind, als ihr Handy vibrierte. Sie schaute entschuldigend zu den beiden anderen Frauen in der Umkleidekabine des Fitnessstudios und nahm das Gespräch an: »Ich ruf‘ Sie ihn zwei Minuten zurück, okay?«, flüsterte sie. »Bis gleich.«

Sie fühlte sich so gut wie lange nicht mehr. Fast hatte sie das wohlig-entspannte Gefühl vergessen, dass nach einer Stunde Schwitzen auf dem Laufband und einer frischen Dusche einsetzte. Allerdings würde sie morgen mit einem heftigen Muskelkater dafür bezahlen, so viel war klar. Selbst schuld, wenn man wochenlang keinen Sport triebt. Aber morgen hatte sie sowieso nicht viel vor – kurz ins Büro und dann die Beine hochlegen. Vielleicht mit Julia telefonieren. Und mit ihrer Schwester, das war auch mal wieder fällig.

Als Elisabeth das Fitnessstudio verließ und auf die Königsallee, kurz Kö, trat, rief sie Jens Böhmer zurück. Das Studio lag an dem Abschnitt der Einkaufsmeile, den die Düsseldorfer »Schmuddel-Kö« nannten. Statt an Modeboutiquen, Juwelieren und teuren Straßen-Cafés lief sie auf dem Weg zu ihrem Auto, das sie zwei Blöcke entfernt abgestellt hatte, an einem Parkhaus und einem tristen Verwaltungsgebäude vorbei.

»Sorry, eben war es ungünstig«, sagte sie, als Jens Böhmer sich meldete.

»Kein Problem«, antwortete er, wie immer höflich und korrekt. »Ich wollte nur kurz durchgeben, dass ich den Dealer aus Köln-Mülheim wie besprochen verhört habe. Er hat nichts über seine Hintermänner gesagt. War ja zu erwarten. Wir lassen ihn jetzt erst mal das Wochenende in U-Haft schmoren, dann sehen wir weiter.«

»Okay«, sagte Elisabeth. »Gibt‘s schon was vom Observationsteam?«

»Nicht wirklich. Hosseini hat bis mittags zuhause in Köln rumgelungert und ist danach einkaufen gegangen. Aber vor zehn Minuten ist er losgefahren, auf die A 57 Richtung Norden. Mal sehen, wo er hin will.«

»Gut. Ich komme heute nicht mehr rein. Ich habe noch was Wichtiges zu erledigen.«

Elisabeth beendete das Gespräch und dachte an ihre Verabredung in einer Stunde. Sie ging unwillkürlich schneller.

16.48 Uhr, Köln-Marienburg.

Als Manuel aufstehen wollte, um sich nach einem nervenaufreibenden Gespräch von Gaby zu verabschieden, hörte er plötzlich die Stimme einer jungen Frau.

»Hallo Mama, bist Du da?«

»Ja, wir sind im Wohnzimmer«, rief Gaby. »Meine Tochter Katharina«, sagte sie zu Manuel. »Die kennst Du ja noch von früher.«

Kurz darauf erschien Katharina in der Tür.

»Ah, Du hast Besuch«, sagte sie und küsste ihre Mutter auf die Wange.

»Ja, Manuel ist vorbeigekommen. Wie lang habt Ihr beide Euch jetzt nicht mehr gesehen? Ist bestimmt sieben, acht Jahre her, oder?«

»Kann gut sein«, sagte Manuel, der aufstand und Katharina die Hand gab. Früher hatte Gaby ihre Tochter oft mitgebracht, wenn sie seine Mutter besuchte. Inzwischen war aus dem kleinen Mädchen mit Zahnspange, das den älteren Manuel anhimmelte, eine hübsche junge Frau geworden. Wie alt mochte Katharina jetzt sein? Um die 20, schätzte Manuel. Und sie hatte das gute Aussehen ihrer Mutter geerbt: dieselben vollen Lippen und große, blaue Augen. Die brünetten, schulterlangen Haare waren zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, der beim Gehen auf- und abfederte.

»Mein herzliches Beileid«, sagte Katharina und blickte ihn ernst an. »Mama hat mir erzählt, was passiert ist. Echt schlimm.«

»Danke Dir«, antwortete Manuel. Er wusste nicht recht, was er noch sagen sollte, und eine unbehagliche Stille entstand.

»Katharina studiert übrigens auch Jura«, hakte Gaby ein. »In Düsseldorf, nicht hier in Köln.«

»Ach ja?« Manuel war froh, dass sie das Gespräch in eine andere Richtung gelenkt hatte. »Und, hast Du da eine Wohnung oder pendelst Du?«, fragte er.

»Seit August wohne ich in Düsseldorf«, sagte Katharina. »Ein Jahr Pendeln hat mir gereicht, das kostet auf Dauer doch ziemlich viel Zeit. Wo studierst Du nochmal?«

»In Mainz«, antwortete Manuel und fügte nach einer kurzen Pause hinzu: »Ich fand es damals ganz gut, ein bisschen Abstand zu haben.«

Manuel war trotz seiner 25 Jahre erst im vierten Semester. Nach Abitur und Zivildienst hatte er zunächst Geschichte und Literatur in Düsseldorf studiert, zwei Fächer, die ihn sehr interessierten. Aber nach einem Jahr brach er das Studium ab. Zu viel Gelaber, zu wenig Handfestes, fand er. Außerdem hatte er keine Ahnung, was er mit dem erworbenen Wissen anfangen sollte.

Um den Kopf freizubekommen, hatte Manuel zwei Semester ausgesetzt und die Welt bereist. Kalifornien, Chile, Australien, Thailand, Südafrika – alles mit dem Rucksack und mit wenig Geld. Danach wusste er, dass er es mit Jura probieren wollte. Die Details mochten trocken sein, aber es faszinierte ihn, das deutsche Rechtssystem zu studieren und mit den moralischen Prinzipien abzugleichen, auf denen es fußte. Inzwischen hatte er endlich das Gefühl, das Richtige gefunden zu haben.

»Und, gefällt es Dir da?«, fragte Katharina.

»Ja, doch. Mainz ist ein schönes Städtchen, und die Uni ist klasse«, sagte Manuel. »Aber jetzt bleibe ich erst mal eine Weile in Düsseldorf. Sind ja viele Formalitäten und Bürokram zu erledigen.«

Katharina nickte verständnisvoll. »Das kann ich mir vorstellen.«

Als wieder eine Pause entstand, sagte Manuel: »So, ich wollte sowieso gerade gehen. War schön, Dich wieder zu treffen.«

»Fand ich auch«, antwortete Katharina und ergriff die ausgestreckte Hand. »Mach‘s gut.«

»Ich bring Dich noch zur Tür.« Gaby stand ebenfalls auf und begleitete Manuel durch den Flur. »Ich ruf Dich an. Wie besprochen«, sagte sie zum Abschied und nahm ihn in den Arm. Manuel nickte schweigend. Er brachte kein Wort hervor. Nach der schönen Ablenkung namens Katharina fiel ihm wieder ein, was er von Gaby erfahren hatte.

Manuel war eine dreiviertel Stunde zuvor eingetroffen und hatte seinen Micra an der Straße geparkt, direkt vor dem Grundstück der Köhlers. Unwillkürlich musste er daran denken, wie unterschiedlich sich seine Mutter und Gaby entwickelt hatten – und wie erstaunlich es war, dass sie trotzdem beste Freundinnen geblieben waren. Aus Gaby, die sich früher bei den Grünen engagiert und zahllose Friedens- und Anti-Atomkraft-Demos besucht hatte, war eine klassische Familienmutter geworden. Sie führte ein Leben, das sie früher zweifellos als spießig bezeichnet hätte: Verheiratet, Haus mit Garten, Tennis am Wochenende. Himmel, sie fuhr sogar Mercedes. Allerdings weigerte sie sich beharrlich, in den Golfclub einzutreten, obwohl ihr Mann Richard begeisterter Golfer war.

Manuel fragte sich, ob seine Mutter ebenfalls ein solches Leben geführt hätte, wenn sie den richtigen Mann dafür getroffen hätte. Sicher, auch sie war in den letzten zehn Jahren immer seltener zu Demos gegangen. Aber sie hatte doch ein Leben gelebt, das ziemlich weit vom bürgerlichen Ideal entfernt blieb: Wechselnde Partnerschaften statt stabile Ehe, Stadtwohnung statt Haus mit Garten, Frauenabende statt Tennisclub. Hätte es auch ganz anders kommen können?

Als Manuel den schmalen gepflasterten Weg entlang ging, der durch den gepflegten Vorgarten der Köhlers führte, schlug sein Herz schneller. Würde er gleich erfahren, wer sein Vater ist? Manuel glaubte es nicht, aber er neigte sowieso zu Zweckpessimismus. Lieber die Hoffnungen runterschrauben und nicht enttäuscht werden.

Es dauerte nur wenige Sekunden, bis Gaby die Tür öffnete. »Manuel, schön dass Du da bist!« Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und nahm ihn in den Arm. »Hi, Gaby«, sagte er. Er spürte, wie seine Anspannung wuchs.

»Ich bin immer noch ganz durcheinander«, sagte sie. »Konnte mich heute kaum auf die Arbeit konzentrieren. Aber irgendwie muss man sich ja ablenken. Komm rein, wir gehen ins Wohnzimmer.«

Nachdem sie ihm ein Glas Wasser geholt und sich neben ihn aufs Sofa gesetzt hatte, atmete Manuel tief durch. Er beschloss, direkt zur Sache zu kommen.

»Gaby, kurz bevor Mama gestorben ist, hat sie mir noch etwas gesagt. Etwas sehr Wichtiges.« Manuel stockte. Die Erinnerung an die Momente am Sterbebett kehrte mit voller Wucht zurück, und plötzlich war er wieder da, der Kloß in seinem Hals. Er schluckte und zwang sich, mit fester Stimme weiterzureden: »Sie hat gesagt, dass mein Vater gar kein anonymer Samenspender war.«

Manuel sah, wie Gabys Miene erstarrte. Er ließ ihr keine Zeit, nachzudenken. »Wusstest Du das?«, fragte er.

Gaby sah zum Fenster raus. Manuels Strategie war aufgegangen: Er hatte sie überrumpelt. Sie zögerte einige Sekunden, antwortete dann aber mit leiser Stimme: »Ja, sie hat es mir erzählt.«

Manuels Herz schlug schneller. »Weißt Du«, fuhr Gaby fort, »es war ihr einfach ungeheuer peinlich. Deshalb hat sie sich das mit dem Samenspender überlegt.«

»Was war ihr peinlich?«

Gaby öffnete den Mund – und zögerte. Sie blickte Manuel wachsam an.

»Was genau hat Anna Dir gesagt?«

Manuel erzählte es ihr. Wort für Wort. Als er die den letzten Satz wiederholte – den, den seine Mutter nicht mehr zu Ende gebracht hatte – sah Gaby überrascht auf. »‚Er lebt hier in der Nähe‘. Hat sie wirklich ‚in der Nähe‘ gesagt?«

»Ja, hundertprozentig. Ich weiß aber nicht, ob ihr überhaupt klar war, dass sie in Essen im Krankenhaus lag. Ich könnte mir gut vorstellen, dass sie Düsseldorf meinte.«

Gaby runzelte die Stirn und schwieg. Manuel zwang sich, sie vorerst nicht zu drängen. Er fürchtete, dass Gaby dicht machen würde, wenn er jetzt zu sehr insistierte.

Nach einigen endlos scheinenden Sekunden redete sie weiter. »Weißt Du, Manuel, ich weiß nicht, was genau Anna Dir sagen wollte. Und sie hat mir damals das Versprechen abgenommen, niemanden etwas zu erzählen. Niemals. Und...«

»Sie wollte mir die Wahrheit sagen, Gaby«, fuhr Manuel dazwischen. »Die volle Wahrheit. Warum sonst sollte sie einen Aufstand machen, um gegen den Willen der Ärzte mit mir zu reden? Um mir eine weitere Lüge aufzutischen?« Manuel merkte, dass er sich in Rage redete. »Das glaube ich einfach nicht. Auch wenn sie mich mein Leben lang angelogen hat...« Manuel stockte. Seine Stimme war bei den letzten Worten brüchig geworden.

Gaby sah jetzt geschockt aus - ganz so, als sei ihr die gesamte Tragweite des Themas gerade erst bewusst geworden. Sie begann, ihre beste Freundin zu verteidigen.

»Du musst Deine Mutter verstehen, Manuel. Sie war überzeugt, dass es so besser ist. Und es war ihr einfach ungeheuer peinlich, diese Sache im Westerwald...« Gaby verstummte und fixierte jetzt einen Punkt links von Manuel. Sie schien mit sich zu ringen.

»Gaby, glaubst Du nicht, dass ich ein Recht darauf habe, es zu erfahren?« Manuel hatte jetzt Mühe, nicht laut zu werden.

Doch Gaby schwieg. Sie sah unschlüssig aus. Manuel konnte seine Ungeduld kaum noch zügeln, beherrschte sich aber irgendwie.

Kurz darauf fuhr Gaby endlich fort. »Ja, Du hast Recht«, sagte sie und holte tief Luft. »Also: Mir hat sie damals erzählt, es sei in den Semesterferien passiert, in Hackenberg.«

Hackenberg war der Ort im Westerwald, in dem seine Mutter aufgewachsen war. Eine idyllisch gelegene Kleinstadt, in der Manuel als Kind manches Wochenende verbracht hatte. »Sie war damals auf der Kirmes und hatte jede Menge Alkohol getrunken. Und dann ist es passiert...«

»Mit jemandem aus Hackenberg?«, fragte Manuel, als Gaby nicht weitersprach. Er wagte kaum, zu atmen.

»Wahrscheinlich. Aber sie konnte sich hinterher an nichts erinnern. Sie ist auf einer Wiese neben dem Kirmesplatz zu sich gekommen und hat dann zugesehen, dass sie nachhause kam. Ein paar Wochen später war klar, dass sie schwanger ist.«

Enttäuschung kroch in Manuel empor. »Und sie hat nichts unternommen, um meinen Vater zu finden?«, fragte er entgeistert.

»Nein. Die Sache war ihr äußerst peinlich, und du weißt ja, wie auf dem Land getratscht wird. Das Ganze hätte sich mit Sicherheit rumgesprochen. Und das wollte sie um alles in der Welt verhindern. Vor allem wegen ihres Vaters.«

»Aber wenn sie ihn tatsächlich nicht kannte, hätte sie mir im Krankenhaus doch gar nicht mitteilen können, wer es ist«, sagte Manuel. »Das ergibt doch keinen Sinn.«

Gaby sah ihn ratlos an und zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. Das ist alles, was ich weiß, ehrlich. Vielleicht wollte sie Dir mitteilen, dass er höchstwahrscheinlich in Hackenberg lebt. Damit Du selber nach ihm suchen kannst. Sonst fällt mir jedenfalls kein Grund ein...«

Manuel schwieg. Er brauchte ein paar Sekunden, um das Gehörte sacken zu lassen. Plötzlich stutzte er. Irgendwas passte hier nicht zusammen. »Moment mal, die Hackenberger Kirmes ist doch immer im August, oder?« Als Kind und Jugendlicher war er mehrfach da gewesen, deshalb kannte er den Termin.

»Ja, das kommt hin«, sagte Gaby nach kurzem Nachdenken. »Im Juli waren meist noch Vorlesungen oder Repetitorien an der Uni, und oft ist Anna danach für ein paar Wochen nachhause gefahren.«

»Aber ich bin am 15. Juli gezeugt worden«, rief Manuel. »Ich hab zuhause Unterlagen aus der Schwangerschaft gefunden. Zeugungstermin 15. Juli 1984. Plus minus drei Tage. Kann ich Dir zeigen.«

Gaby sah ihn ungläubig an. Die Runzeln auf ihrer Stirn wurden tiefer.

»15. Juli, echt?« Sie überlegte fieberhaft. »Vielleicht war die Kirmes 1984 ja an einem früheren Termin?«

»Das kann man sicher im Internet nachschauen«, sagte Manuel.

Gaby schüttelte mit dem Kopf. »Aber es ergibt sowieso keinen Sinn. Ich bin mir ziemlich sicher, dass Anna und ich den Juli in Köln verbracht haben. Die Vorlesungen liefen in der Regel mindestens bis Mitte Juli, und danach waren eigentlich immer Repetitorien. Aber meine Hand kann ich dafür natürlich nicht ins Feuer legen. Ist ja schon ewig her...«.

»Hast Du vielleicht noch irgendwelche Unterlagen aus der Zeit? Vorlesungsverzeichnisse oder so was?«, fragte Manuel.

Gabys Augen begannen zu leuchten. »Ich glaube, ich hab was Besseres. Dauert ein paar Minuten, ich muss in den Keller«, sagte sie und stürmte aus dem Wohnzimmer.

Nach einigen Minuten, in denen Manuel vor Nervosität kaum stillsitzen konnte, kehrte sie mit einem Stapel kleiner schwarzer Bücher zurück. »Manchmal ist es doch ganz gut, wenn man nichts wegschmeißen kann«, sagte sie und lächelte unsicher. »Das sind meine Terminkalender aus dem Studium. Gab damals ja noch kein Outlook.« Sie stellte den Stapel auf den Couchtisch und suchte das Jahr 1984 heraus. »So, lass mal sehen. Juli. Hier haben wir es. Der 15. war ein Sonntag... Oh...« Gaby runzelte die Stirn.

»Was ist?« fragte Manuel, dessen Herz wieder höher schlug.

»Am 14. Juli war abends die Semester-Abschlussparty an der Uni«, sagte Gaby. »Die haben wir uns nie entgehen lassen. Und am 15. steht bei mir: Lernen mit Anna. Und am 16.: Rep Arbeitsrecht. Also hatten wir da ein Repetitorium.«

Sie verstummte und brauchte ein paar Sekunden, um zu begreifen, was das bedeutete. Manuel kam ihr zuvor. »Also war meine Mutter am 15. Juli definitiv nicht im Westerwald, oder?«

Gaby überlegte. »Vielleicht ist später auf der Kirmes ja tatsächlich was passiert«, sagte sie. »Und dann hat Anna eben fälschlicherweise angenommen, dass das Du dort gezeugt wurdest.« Doch ihre Miene verriet, dass sie das selbst nicht glaubte.

»Kann nicht sein«, sagte Manuel. »Sie kannte den Zeugungstermin vom Frauenarzt.«

Gaby nickte nachdenklich.

»Ist auf der Semester-Abschlussparty irgendwas passiert?«, fragte Manuel. »Würde doch vom Termin her genau passen!«

»Ich weiß es nicht«, sagte Gaby. »Es ist ja schon so lange her... Ich bin mir ziemlich sicher, dass wir gemeinsam auf die Party gegangen sind. Das haben wir immer gemacht. Aber wer sonst noch da war und wie der Abend verlaufen ist.... Das weiß ich nicht mehr.«

Manuel blickte Gaby enttäuscht an. Aber er sah, dass sie die Wahrheit sagte. 25 Jahre waren ja wirklich eine lange Zeit.

»Weißt Du was?«, sagte Gaby, die ihm die Enttäuschung angesehen haben musste. »Ich gehe heute Abend nochmal den Kalender durch. Da kommen bestimmt ein paar Erinnerungen hoch. Und morgen rufe ich ein paar Studienfreunde an, zu denen ich noch Kontakt habe. Vielleicht fällt denen was ein.«

Manuel nickte und versuchte, nicht allzu niedergeschlagen dreinzuschauen. Vermutlich war er das Ergebnis eines Quickies nach einer Studentenparty, deren Ablauf sich nach einem Vierteljahrhundert schwerlich rekonstruieren lassen dürfte. Er hatte also eine tote Mutter und einen Vater, den er vermutlich nie finden würde.

Was für ein Trauerspiel.

Spur in den Schatten

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