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ОглавлениеKapitel 2
Das Gehirn – Grundlagenwissen
Entwicklung
Das Nervensystem entwickelt sich im Embryo zunächst als Ektoderm, den äußeren Zellschichten, die später die Haut bilden. Bestimmte Zellcluster dieser äußeren Zellen falten sich dann an der Rückenseite (Neuralplatte) nach innen und bilden das Neuralrohr aus, das zum Rückenmark und zum Gehirn wird. Diese Entwicklung vom Ursprung der Neuronen – der Grundzellen des Gehirns – auf der „Außenseite“ bis hin zu ihrer Reise „ins Innere“ des Körpers veranschaulicht eine philosophische Erkenntnis, nämlich die, dass das Gehirn an der Schnittstelle der inneren und der äußeren Welt unseres körperlich definierten Selbst entsteht. Für die Beschäftigung mit dem achtsamen Gehirn ist es von Nutzen, diese Schnittstelle oder Verbindung von innen und außen im Gedächtnis zu behalten.
Unser Gehirn steht an der Spitze eines ausgedehnten Nervensystems, das über den ganzen Körper verteilt ist. Wann immer wir dem Wort Gehirn begegnen, ist es wichtig, sich diese Tatsache zu vergegenwärtigen. Das Grundgerüst (oder die Kernarchitektur) des Nervensystems entsteht im Zuge seiner Entwicklung im Mutterleib. Genetische Faktoren bestimmen in entscheidendem Maße, wie viele Neuronen zu ihrem Bestimmungsort wandern und sich dann miteinander verbinden werden. De facto sind circa fünfzig Prozent unseres genetischen Materials direkt oder indirekt für die Struktur des Nervensystems zuständig, was die Gene zu einem sehr wichtigen Faktor in der neuronalen Entwicklung werden lässt. Doch bereits wenn der Fötus kurz davor steht, den Mutterleib zu verlassen, wirken Erfahrungen auf die Verbindungen zwischen den Neuronen ein.
„Erfahrung“ bedeutet für das Nervensystem im Wesentlichen die Aktivierung des neuronalen Feuerns als Reaktion auf einen Stimulus. Wenn Neuronen aktiv werden, dann wachsen ihre Verbindungen untereinander und unterstützende Zellen und Blutgefäße beginnen sich schnell zu vermehren. Auf diese Weise prägen Erfahrungen die Struktur des Nervensystems. Unter neuronalem Feuern versteht man die Aktivierung des Äquivalents eines elektrischen Stroms, eines so genannten Aktionspotenzials, das sich über die gesamte Länge der Axone (Nervenzellenfortsätze) bis zu deren Endverzweigungen fortsetzt, wo an der Synapse, dem intrazellulären Raum zweier unmittelbar angrenzender Neuronen, die durch Verbindungskanäle (gap junctions) aneinander gekoppelt sind, entweder ein aktivierender oder ein hemmender Neurotransmitter (Botenstoff) ausgeschüttet wird. Das nachgeordnete Neuron wird dann in Abhängigkeit davon gefeuert, ob die in jenem Moment ausgeschütteten Transmitter eher stimulierend oder eher hemmend sind. Im Durchschnitt sind hundert Milliarden Neuronen über 10 000 synaptische Verschaltungen miteinander verbunden, die von Genen geschaffen und durch Erfahrung geformt werden: Die Natur braucht die Umwelt. Diese beiden wichtigen Dimensionen der menschlichen Entwicklung und der Neuralfunktionen stehen nicht im Widerspruch zueinander.
Neuronen feuern, wenn wir Erfahrungen machen. Durch das Feuern der Neuronen wird das Potenzial geschaffen, bestehende Synapsen durch das Wachstum neuer Verbindungen zu verändern oder sogar das Wachstum neuer Neuronen anzuregen, die ihrerseits neue synaptische Verbindungen erzeugen. Die Neubildung und Neuvernetzung von Neuronen beruht sowohl auf genetischen Faktoren als auch auf Erfahrung. Veränderungen in den Verbindungen, die aufgrund von Erfahrung zustande kommen, sind Ausdruck der Neuroplastizität des Gehirns.
Erfahrung bedeutet neuronales Feuern, was in einigen Situationen die Aktivierung von Genen fördern kann. Die Genaktivierung führt zur Produktion von Proteinen, die ihrerseits die Bildung neuer Verschaltungen und die Verstärkung alter ermöglicht. Die Forschung hat außerdem gezeigt, dass Erfahrungen das Wachstum neuer Neuronen anregen können. Neurogenese ist der Prozess, bei dem neue Neuronen heranwachsen – sogar bei Erwachsenen. Bei den noch nicht ausdifferenzierten Zellen im Gehirn, den neuronalen Stammzellen, erfolgt eine regelmäßige Teilung. Ein Produkt dieser Teilung setzt durch Vermehrung die Stammzellenlinie fort (Proliferation), während das andere, die „Tochterzelle“, dazu angeregt werden kann, zu einer voll integrierfähigen Nervenzelle im Gehirn heranzuwachsen (Differenzierung). Wir wissen, dass sich Neurogenese bei Erwachsenen zumindest im Hippocampus vollzieht (synaptische Plastizität) und dass diese Tochterzellen über einen Zeitraum von mehreren Monaten dazu angeregt werden können, zu voll funktionsfähigen, integrierten Neuronen heranzuwachsen (Kempermann, Gast & Gage 2002).
Neuroplastizität
Erfahrungen können strukturelle Veränderungen im Gehirn bewirken. Häufig finden solche Veränderungen auf der fein abgestimmten mikrostrukturellen Ebene statt; zum Beispiel wenn wir im Gedächtnis neue Assoziationen schaffen. Mit Hilfe eines Scanners können solche Veränderungen jedoch kaum nachgewiesen werden, es sei denn, sie wären recht markant. Aufgrund von Sara Lazars veröffentlichter Arbeit (Lazar et al. 2005), die strukturelle Veränderungen aufzeigt, sollte uns bewusst sein, dass dieser Befund nur durch signifikantes Wachstum von Nervengewebe im Gehirn zustande gekommen sein kann. Sollte dies das Resultat von Erfahrung sein, dann könnte es sein, dass die Neuroplastizität im Zentrum jenes Befunds stünde: Ein wiederholtes Feuern von Neuronen in spezifischen Arealen würde zu einer deutlich erhöhten Synapsendichte in jenen Regionen führen, die durch die Achtsamkeitspraxis aktiviert werden. Das Wachstum von unterstützenden Zellen und Blutgefäßen könnte sowohl zum Funktionieren dieser Bereiche als auch zu der größeren Dicke beitragen. Das achtsame Gewahrsein ist somit eine Form der Erfahrung, welche die Neuroplastizität zu fördern scheint.
Wenn wir unsere Aufmerksamkeit in spezifischer Weise fokussieren, dann aktivieren wir die Schaltkreise im Gehirn. Diese Aktivierung kann die synaptischen Verbindungen in den betreffenden Bereichen stärken. Wenn unsere Hypothese lautet, dass Achtsamkeit als eine Form der Beziehung zu sich selbst nicht nur aufmerksamkeitsbezogene Schaltungen, sondern auch soziale Schaltkreise beinhaltet, dann bedeutet dies, dass wir neue Dimensionen unserer achtsamen Erfahrung im Gehirn erforschen oder, mit anderen Worten, nach „neuronalen Korrelaten“ derselben suchen können (für Rezensionen der sozialen Neurowissenschaft siehe Cozolino 2006 und Goleman 2006).
Bei der Untersuchung von Veränderungen im Gehirn als Reaktion auf Erfahrungen können wir auf Daten aus funktionellen Bildgebungsverfahren (wie der fMRI, der funktionellen Magnetresonanztomografie) oder elektronischen Überwachungsgeräten (wie EEGs und ähnlichen Testverfahren) zurückgreifen. Dabei sollten wir nicht nur auf die physische Struktur des Gehirns schauen, sondern auch auf das Funktionieren des Gehirns als Gesamtsystem, um aufzuzeigen, wie neuroplastische Veränderungen zu funktionalen Veränderungen führen können. Richard Davidsons Nachweis, dass es bei Stimulustests, bei denen bestimmte Emotionen provoziert wurden, zu einer linksfrontalen Funktionsverschiebung kam, zeigt, dass die Achtsamkeitspraxis Menschen hilft, ihre Emotionen auf positivere Weise zu regulieren, und zwar durch Annäherung statt durch Rückzugsverhalten (Davidson 2004). Die Tatsache, dass eine Korrelation zwischen dem Grad an Verschiebung zur linken Gehirnhälfte hin und der positiven Beeinflussung der Immunfunktion festgestellt wurde, zeigt uns, dass Achtsamkeit nicht nur dazu beiträgt, dass man sich wohl fühlt und sich schneller von negativen Gefühlen erholt, sondern dass sie tatsächlich unseren Gesundheitszustand verbessern kann.
Neuroplastische Veränderungen sind nicht auf strukturelle Veränderungen beschränkt, sondern gehen auch mit Veränderungen in der Gehirnfunktion, im psychischen Erleben (etwa von Gefühlen und emotionaler Ausgeglichenheit) und in der körperlichen Verfassung (beispielsweise bei der Reaktion auf Stress und bei den Immunfunktionen) einher.
Wie könnte unser Fokus auf Aufmerksamkeit und innere Einstimmung Veränderungen in jenen Schaltkreisen des Gehirns bewirken, die diese Funktionen durch achtsames Gewahrsein vermitteln? Die Art und Weise, wie wir Aufmerksamkeit schenken, wird das neuronale Feuern in bestimmten Bereichen anregen; diese werden aktiviert werden und ihre Verbindungen innerhalb der integrierten Schaltkreise des Gehirns umorganisieren.
Wir werden untersuchen, wie geistige Aktivitäten – beispielsweise ganz bewusst dem gegenwärtigen Moment Aufmerksamkeit zu schenken – das Gehirn tatsächlich dazu anregen können, in spezifischer Weise aktiv zu werden, was dann zu vermehrtem Wachstum in diesen Regionen führt. Hier sehen wir uns mit der Vorstellung konfrontiert, dass der Geist das Gehirn nutzt, um sich selbst zu erschaffen. Dieses Wachstum und diese neuroplastischen Veränderungen, die durch die Fokussierung auf unseren eigenen Geist bewirkt werden, helfen uns, die Verbindung zwischen der Praxis achtsamen Gewahrseins und der Herbeiführung von Wohlbefinden zu erkennen.
Das Gehirn in Ihrer Handfläche
Das Gehirn kennen zu lernen kann eine überwältigende Erfahrung sein. Neuere Entdeckungen im Bereich der Gehirnfunktionen zeigen Grundprinzipien auf, die uns dieses Organ nicht nur verständlich machen, sondern auch zugänglich. Und wenn ich noch weitergehen darf: Es kann sogar Spaß machen, das eigene Gehirn kennen zu lernen.
In diesem Buch finden Sie einfache Schaubilder des Gehirns, komplizierte Übersichtstafeln der neuronalen Schaltkreise und echte CAT-Scans. Diese bildlichen Details der Gehirnanatomie können recht nützlich sein. Für unsere Erkundungen des achtsamen Gehirns benötigen wir ein Grundgefühl dafür, wo die verschiedenen Gehirnareale lokalisiert sind: Mit Hilfe der auf die Grobstrukturen reduzierten Schaubilder in den Abbildungen 2.1 und 2.2 können Sie sich einen ersten Einblick in die Thematik verschaffen.
Ein weiteres nützliches Handwerkszeug, um das Gehirn zu betrachten, ist Ihre Hand. Wenn Sie Ihre Hand nehmen, Ihren Daumen in der Mitte platzieren und Ihre Finger darüber legen, dann haben Sie ein leicht zugängliches und ziemlich genaues Modell des Gehirns. Dieses Handmodell ist so ausgerichtet, dass Ihr Handgelenk für Ihre Wirbelsäule steht, das Gesicht befindet sich vor Ihren Fingernägeln und der Scheitelpunkt des Kopfes wird von der Oberkante Ihrer Hand repräsentiert.
Abbildung 2.1
Diagramm des menschlichen Gehirns (Median-Sagitalschnitt). Es werden einige der Hauptareale des Gehirns dargestellt, u. a. das Stammhirn, das limbische System (mit Amygdala, Hippocampus und Cingulum anterior sowie anderen medialen und ventralen Arealen) und der Großhirnrinde (mit den präfrontalen Arealen, einschließlich des orbitofrontalen Kortex, der zusammen mit dem anterioren Cingulum und anderen medialen und ventralen Arealen Teil des „mittleren Präfrontalkortex“ ist (Siegel & Hartzell, aus: Parenting from the inside out, New York: Penguin Putnam, 2003 – Gemeinsam leben, gemeinsam wachsen. Freiamt: Arbor, 2004. Nachdruck mit ausdrücklicher Genehmigung der Autoren).
Abbildung 2.2
Die beiden Gehirnhälften. Diese Abbildung zeigt auch die Lage der Areale des „mittleren Präfrontalkortex“, zu dem die mittleren und ventralen Regionen des Präfrontalkortex gehören sowie der Orbitofrontalkortex und der Kortex des Cingulum anterior. Der Balken (Corpus callosum) verbindet die beiden Gehirnhälften miteinander.
Das Stammhirn ist Ihre Handfläche, das limbische System sind Ihre Daumen (idealerweise haben Sie einen linken und einen rechten Daumen) und Ihr Kortex wird durch Ihre gekrümmten Finger symbolisiert. Lassen Sie uns die genannten Hirnareale kurz eines nach dem anderen durchgehen.
Das Stammhirn ist für wichtige elementare Prozesse zuständig, wie für die Regulierung des Herzschlags und der Atmung, für Zustände von Wachheit und Schläfrigkeit sowie für gewisse Aspekte von Kampf-, Flucht- und Einfrierreaktionen. Das Stammhirn, das bereits bei der Geburt gut entwickelt ist, ist der in evolutionärer Hinsicht älteste Gehirnanteil und wird manchmal auch als Reptilhirn bezeichnet.
Das limbische System hat sich entwickelt, als die Reptilien sich zu Säugetieren weiterentwickelten. Limbische Regionen sind am Bindungsverhalten (unseren Verbindungen zu unseren engen Bezugspersonen) beteiligt, ebenso am Gedächtnis (insbesondere der Verarbeitung von Ereignissen in faktischer und autobiografischer Form), der Wertschätzung von Sinn und Bedeutung und der Erzeugung von Affekt und unseren inneren Empfindungen von Emotion. Zum limbischen System gehört auch der Hypothalamus, der das Hauptsteuerungsorgan für die Regulierung des Hormonhaushalts ist und somit direkten Einfluss auf den Körper ausübt.
Diese endokrine Verbindung ist zusammen mit dem Einfluss, den das Gehirn über das autonome Nervensystem mit seinen bremsenden und beschleunigenden Elementen (Parasympathikus und Sympathikus) auf unser Immunsystem und unsere körperliche Verfassung hat, der direkte Weg, auf dem Gehirn und Körper eng miteinander verbunden sind. Die limbischen Bereiche, das Stammhirn und die subkortikalen Areale wirken zusammen und beeinflussen unsere Motivation und die Aktivierung unserer Grundbedürfnisse nach Überleben, Zugehörigkeit und Sinn.
Der Kortex ist der äußere Teil des Gehirns, der bei Säugetieren vergrößert ist. Er ermöglicht uns die Steuerung komplexerer Prozesse wie zum Beispiel Wahrnehmung, Planung und Aufmerksamkeit. Da er mehrere Lappen mit unterschiedlichen Funktionen umfasst, gibt es unterschiedliche Möglichkeiten, um die komplexen Fähigkeiten dieser Region zu beschreiben, die bei der Geburt noch kaum entwickelt und daher sehr offen dafür ist, durch Erfahrung geformt zu werden (Abbildung 2.3).
Abbildung 2.3
Die traditionelle Sicht auf das Gehirn – die Kortikallappen (Cozolino 2006; Nachdruck mit ausdrücklicher Genehmigung des Autors).
Der Kortex ist in erster Linie ein aus sechs Schichten bestehender gefalteter Bereich, der aus grauer und weißer Substanz besteht. Die sechs Schichten setzen sich aus vertikal angeordneten Reihen kortikaler Säulen mit verschiedenen Säulen-Clustern zusammen, die in der Regel für die Verarbeitung eines bestimmten Aktivitätsmodus zuständig sind, wie dem Sehen oder dem Hören. Diese vertikalen Säulen sind über horizontal verteilte Schaltneuronen miteinander verbunden, die Wortgefechte ebenso ermöglichen wie die Verknüpfung unterschiedlicher Sinneswahrnehmungen (Hören, Sehen) in einem „kreuzmodalen“ Feuern ganzer Neuronengruppen. Auf diese Verknüpfung getrennter Bereiche ist die wichtige Komplexität zurückzuführen, durch die sich die Glanzleistungen des menschlichen Kortex erklären lassen.
Im Allgemeinen ist die Rückseite des Kortex, der Bereich von den zweiten Fingerknöcheln nach hinten, für die Wahrnehmung der Außenwelt zuständig, mit Ausnahme des Geruchs und des Bewusstseins von der Position der Gliedmaßen. Diese hinteren Regionen ermöglichen es dem Menschen, ein Gespür für die Außenwelt in Form von Wahrnehmungen zu erlangen.
Die Vorderseite des Gehirns führt motorische, aufmerksamkeitsbezogene und auf Gedanken basierende Prozesse aus. Unsere Frontallappen haben sich entwickelt, als wir zu Primaten wurden. Studien zeigen, dass die Ausprägung der frontalen (stirnseitigen) Kortikalarchitektur bei Säugetieren umso stärker ausfällt, je höher ihr Grad an sozialen Lebensweisen ist.
Der Frontalbereich von den zweiten Knöcheln bis zu den letzten ist eine Region, in der die erste Zone motorische Handlungen ausführt und die nächste Zone nach vorn für die motorische Planung zuständig ist. Sie wird als prämotorischer Kortex bezeichnet (Abbildung 2.4). Dieses prämotorische Areal war die erste Region, bei der das Spiegelneuronensystem festzustellen war, das es uns ermöglicht, die Intentionen und Emotionen anderer Menschen aufzunehmen und jene Zustände in uns selbst als Teil eines größeren „Resonanzschaltkreises“ zu generieren (siehe Anhang III, Resonanzschaltkreise). Wir werden die Möglichkeit erforschen, dass diese Resonanzschaltkreise unseres sozialen Gehirns eine wichtige Rolle beim achtsamen Gewahrsein spielen.
Abbildung 2.4
Die traditionelle Sicht auf das Gehirn – bedeutende Regionen (Cozolino 2006; Nachdruck mit ausdrücklicher Genehmigung des Autors).
Unmittelbar vor diesen motorischen und prämotorischen Bereichen befindet sich der Präfrontalkortex. Diese Präfrontalregion, die beim Menschen am höchsten entwickelt ist, ist für viele der Funktionen verantwortlich, die wir als einzigartig für unsere Spezies ansehen. Die Präfrontalregionen können in verschiedener Weise unterteilt werden, je nach ihren unterschiedlichen Funktionen (Abbildung 2.5). Fürs Erste werden wir sie lediglich in zwei Areale einteilen – die seitlichen und die mittleren Präfrontalregionen. Die Areale des Präfrontalkortex arbeiten im Allgemeinen als Team zusammen und ihre Funktionen in dieser Weise als System zu sehen, kann recht nützlich sein.
Der Seitenbereich der Präfrontalregion, der dorsolaterale Präfrontalkortex (DLPFC) ist für das Arbeitsgedächtnis (die „Tafel des Geistes“) verantwortlich, mit Hilfe dessen wir Inhalte kurzzeitig in unserem Gedächtnis aufbewahren können. Dieser seitliche Bereich ist für die Ausführung wichtiger Exekutivfunktionen zuständig, die die Selbstregulation unseres Verhaltens ermöglichen, und er beeinflusst auch den Fluss unserer momentanen Aufmerksamkeit.
Der mittlere Bereich, von Ihren beiden mittleren Fingernägeln zu den Knöcheln hinauf, schließt mehrere miteinander verknüpfte Regionen ein, die für jene neun mittleren Präfrontalregionen zuständig sind, die wir im nächsten Absatz näher besprechen werden. Dabei handelt es sich um den orbitofrontalen Kortex (OFC), den Kortex des anterioren Cingulums (ACC) und den ventrolateralen (vlPFC) sowie den medialen präfrontalen Kortex (mPFC). In Abbildung 2.5 sind der orbitofrontale und der mediale Präfrontalkortex zusammen dargestellt und werden als orbitomedialer Präfrontalkortex bezeichnet. In Abbildung 2.6 wird ihre Nähe zu den vorderen Anteilen des zingulären Cortex deutlich.
Diese ventralen und medialen Mittellinienstrukturen erhalten direkten Input aus dem gesamten Gehirn und dem Körper, insbesondere aus der Inselrinde (Inselkortex = IC). Die Inselrinde ist der Kanal, durch den Signale an und aus dem äußeren Kortex und den inneren limbischen Regionen (Amygdala, Hippocampus und Hypothalamus) und verschiedenen Körperbereichen (durch das Stammhirn und das Rückenmark) geschickt werden. Die mittleren Präfrontalbereiche scheinen die Daten der Inselrinde in Bezug auf unsere Emotionen und unseren primären körperlichen Zustand zu nutzen, um dann Repräsentationen vom Geiste anderer Menschen zu schaffen. Die mittleren Präfrontalbereiche sind sowohl für die soziale Kommunikation als auch für die Selbstbeobachtung unerlässlich. Diese Region ist ein zentraler Knotenpunkt im sozialen Schaltkreis des Gehirns (siehe Anhang III, Die Funktionen des mittleren Präfrontals).
Abbildung 2.5
Regionen des Präfrontalkortex (Cozolino 2006; Nachdruck mit ausdrücklicher Genehmigung des Autors).
Beachten Sie, wie die mittlere Präfrontalregion den Körper, das Stammhirn sowie die limbischen, kortikalen und sozialen Prozesse zu einem funktionalen Ganzen verbindet. Wenn Sie Ihre Finger heben und wieder senken, dann nehmen Sie vielleicht wahr, dass die mittleren Präfrontalbereiche (repräsentiert durch die Enden der beiden Mittelfinger) in anatomischer Hinsicht tatsächlich alles im Gehirn berühren. Genau das kennzeichnet die neuronale Integration: über den gesamten Körper verteilte synaptische Verbindungen, über die wir sogar mit anderen Menschen verbunden sind.
Ein interpersoneller neurobiologischer Ansatz dazu, wie unser soziales Leben uns hilft, unser Wohlbefinden zu fördern, sieht die neuronale Integration als Resultat eingestimmter Beziehungen an. Die neuronale Integration, die Koordination und Balance des Gehirns sind als getrennte Bereiche miteinander verbunden, um ein funktionales Ganzes zu bilden, und dies scheint durch den Einklang, der in sicheren Bindungen besteht, gefördert zu werden. Ich schlage vor, hier einige vorläufige Daten zu sammeln, um die Hypothese zu verifizieren, dass achtsames Gewahrsein eine solche neuronale Integration fördern könnte, und zwar durch eine Form der intrapersonalen Einstimmung.
Abbildung 2.6
Strukturen des sozialen Gehirns. Die hier gezeigten Strukturen sind unter der Oberfläche des Gehirns verborgen (Cozolino 2006; Nachdruck mit ausdrücklicher Genehmigung des Autors).
Das Gewahrsein der eigenen Erfahrung von Moment zu Moment schafft die Möglichkeit, die eigenen psychischen Erfahrungen unmittelbar zu spüren und anzunehmen. Dieser Bewusstseinszustand könnte sich verschiedener Gehirnregionen bedienen, unter anderem der wichtigen stirnseitigen Bereiche des Kortex, der subkortikalen limbischen Bereiche und des Stammhirns, um einen integrierten, kohärenten Zustand herzustellen. Die neuronale Integration, die teilweise durch diese Frontalregionen herbeigeführt wird, könnte wesentlich dafür sein, ein selbstregulierendes Gleichgewicht herzustellen. Wir sollten die genannten Präfrontalbereiche im Auge behalten, wenn wir erforschen, auf welche Weise diese integrativen Bahnen eine entscheidende Rolle auf dem Weg zum Wohlbefinden spielen.
Neuronale Integration, Achtsamkeit und Selbstregulation
Das Konzept der neuronalen Integration ist eine sehr weit gefasste systemische Sichtweise der verschiedenen Funktionsweisen des Gehirns. In der Neurowissenschaft ist es möglich, sich stärker auf die Mikroanalyse zu konzentrieren und etwa die Membranen von Neuronen zu untersuchen, Neurotransmitter und ihre Rezeptoren zu studieren oder Neuronencluster und die unmittelbar mit ihnen verbundenen Nachbarzellen unter die Lupe zu nehmen. Diese tief gehende und fein abgestimmte Forschungsarbeit ist bedeutsam und faszinierend. Über diese äußerst wichtige mikroskopische Sichtweise hinaus können wir uns jedoch auch stärker nach außen orientieren und das Gehirn als Gesamtsystem untersuchen. Diese Makroansicht ermöglicht es uns nicht nur, das gesamte Gehirn und den Körper als ein funktionales Ganzes zu sehen, sondern darüber hinaus zu untersuchen, wie Signale eines Gehirn-Körpers mit anderen in Beziehungen, Familien und Gesellschaften interagieren. Das ist der Fokus unserer Arbeit im Center for Culture, Brain, and Development an der UCLA (siehe Anhang I).
Bei dem Versuch, sowohl auf der Mikro- als auch auf der Makroanalyseebene zu sprechen, wird man unweigerlich mit der Frage der Übersetzung konfrontiert. In unserem Zentrum müssen wir die Realität dieses Wissensspektrums einbeziehen, um die Puzzleteile zusammenzubringen, die nur dann zusammengesetzt werden können, wenn man in aller Bescheidenheit und mit allem Respekt den Wert dieser voneinander abweichenden Standpunkte anerkennt. Mein Empfinden angesichts der systemischen Sicht, wie sich der Geist zweier Menschen durch gegenseitige Einstimmung verbinden kann, ist, dass diese Verbindungsfähigkeit des Gesamtsystems (die neuronale Integration) einen ganz wesentlichen Stellenwert für das Wohlbefinden in Beziehungen hat. Wenn wir uns diese neuronale Perspektive der gegenseitigen Einstimmung zu Eigen machen und die Achtsamkeit als intrapersonale Form derselben ansehen, dann ist es nur natürlich, das Gefühl zu haben, dass die neuronale Integration eine entscheidende Rolle bei Achtsamkeitszuständen spielen könnte. Die neuronale Integration ist das Verbindungsglied zwischen Neuralregionen, die in anatomischer oder funktionaler Hinsicht unterschiedlich sind, und sie bewirkt eine Zusammenschaltung von weit verzweigten Bereichen des Gehirns und des Körpers. Diese Zusammenschaltungen nehmen in struktureller Hinsicht die Form von synaptischen Verbindungen an und erzeugen in funktioneller Hinsicht eine Form von Koordination und Ausgeglichenheit.
Die neuronale Integration bewirkt über diese Koordination und Ausgeglichenheit der Nervenaktivierung wahrscheinlich ein optimales Funktionieren. Koordination bedeutet, dass wir das Feuerverhalten voneinander getrennter Regionen überwachen und dann so beeinflussen, dass es zu einem gut funktionierenden Ganzen wird. Ausgeglichenheit impliziert die Aktivierung, Deaktivierung und Reaktivierung von miteinander gekoppelten Bereichen.
Ein anschauliches Beispiel dafür wäre die Ausgeglichenheit solcher Funktionen wie des bremsenden und des beschleunigenden Zweiges des vegetativen Nervensystems. Hier sehen wir, dass die mittleren Präfrontalregionen die Aktivität dieser beiden Inputs – diejenige des Sympathikus einerseits und die des Parasympathikus andererseits – überwachen und dann in der Lage sein müssen, sie zu verändern (sie herunterzufahren oder sie hochzufahren).
Das ist der Mechanismus der „Körperregulation“, der ersten unserer neun Funktionen des mittleren Präfrontals. Erinnern Sie sich daran, dass diese Liste zum einen die Ergebnisse einer sicheren, eingestimmten Bindung aufzählt (die ersten sieben) und zum anderen eine Liste für die Resultate und den Prozess des achtsamen Gewahrseins ist, das wir als eine Form der inneren Abstimmung bezeichnet haben. Ich habe diese Liste generiert, während ich mich um eine Familie kümmerte, in der die Mutter bei einem Autounfall eine Verletzung an dem Teil des Gehirns erlitten hatte, der sich hinter der Stirn befindet. Die Familie quälte sich mit den tief greifenden Veränderungen in ihrer Persönlichkeit ab, und ich hoffte, den anderen Familienmitgliedern helfen zu können, diese Erfahrung irgendwie zu verstehen und sich an ihr neues Leben zu gewöhnen. Ich las einige grundlegende Werke zu diesem Themenkomplex und fragte mich: Welche Funktionen entsprechen der Aktivität der mittleren Bereiche des Präfrontalkortex? (Siehe Anhang III, Die Funktionen des mittleren Präfrontals.)
1. Wie oben beschrieben, erfolgt die Körperregulation dadurch, dass Brems- und Beschleunigungsfunktionen koordiniert und ausgeglichen werden.
2. Abgestimmte Kommunikation beinhaltet die Koordination des eigenen geistigen Inputs mit dem eines anderen Menschen. Dieser Resonanzprozess findet unter Einbeziehung der mittleren Präfrontalbereiche statt.
3. Emotionale Ausgeglichenheit impliziert, dass die affekterzeugenden limbischen Bereiche genügend Aktivierung erfahren, um dem Leben Vitalität und Sinn zu verleihen, diese aber nicht so stark ist, dass das Leben chaotisch wird. Die mittleren Präfrontalregionen haben die Fähigkeit, das limbische Feuerverhalten durch den starken bidirektionalen Fluss zwischen der subkortikalen limbischen Region und der mittleren Präfrontalregion zu überwachen und zu hemmen.
4. Reaktionsflexibilität ist die Fähigkeit, vor dem Handeln innezuhalten. Ein solcher Prozess erfordert die Bewertung der aktuellen Stimuli, die Verzögerung der Reaktion, die Auswahl aus einer Vielzahl möglicher Optionen und die Initiation einer Handlung. Zur Ausführung dieser Funktion arbeiten die mittleren Präfrontalregionen mit den Seitenbereichen zusammen.
5. Empathie scheint auf den inneren Verschiebungen zu beruhen, die durch die Resonanzschaltkreise zustande kommen, bei denen limbische und körperliche Veränderungen dann initiiert werden, wenn wir die Signale einer anderen Person wahrnehmen. Als Nächstes scheinen die mittleren Präfrontalregionen die Interozeption (Wahrnehmung von Innenreizen) zu nutzen, also den Input dieser subkortikalen und körperlichen Gegebenheiten in die mittlere Präfrontalregion über die Inselrinde. Die Daten werden dann einer Interpretation unterzogen, und diese Bewertung wird einem anderen als Form empathischer Vorstellungskraft dessen zugeschrieben, was sich möglicherweise in seinem Innern abspielt.
6. Einsicht oder sich selbst kennendes Gewahrsein verbindet Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft miteinander. Der mittlere Präfrontalkortex hat Input- und Outputfasern, die in viele Bereiche hineinreichen. In diesem Fall betreffen sie die kortikalen Repräsentationen des autobiografischen Gedächtnisspeichers und das limbische Feuerverhalten, das den Themen unseres gegenwärtigen Bewusstseins, unserer Lebensgeschichte und unseren Bildern von der Zukunft eine emotionale Struktur verleiht.
7. Angstmodulation könnte durch die Ausschüttung des hemmenden Neurotransmitters Gammaaminobuttersäure (GABA) in die unteren, für Angst zuständigen limbischen Bereiche, wie die zahlreichen Kerne der Amygdala, erfolgen. Auf diese Weise könnte Angst limbisch erlernt werden, doch das Ablegen der Angst könnte durch das Wachstum der mittleren Präfrontalfasern erfolgen, die jene Angst zu modulieren vermögen (Abbildung 2.7).
8. Intuition scheint das Registrieren des Inputs aus den informationsverarbeitenden neuronalen Netzwerken zu beinhalten, die unsere inneren Organe umgeben, zum Beispiel Herz, Lungen und Darm. Die Weisheit unseres Körpers ist also mehr als eine poetische Metapher. – Sie ist ein neuronaler Mechanismus, durch den wir über die PDP (parallel distributed processing), die um diese Hohlorgane herum stattfindet, einen tiefen Zugang zum Wissen unseres Körpers erlangen. Der entsprechende Input wird im mittleren Präfrontalkortex registriert und beeinflusst dann unsere Schlussfolgerungen und Reaktionen.
9. In Studien hat sich herausgestellt, dass Moral (im Sinne von moralischem Empfinden und Verhalten) ebenfalls durch den mittleren Präfrontalkortex vermittelt wird. Moral lässt sich wohl dadurch charakterisieren, dass man das größere Bild in Betracht zieht, dass man sich vorstellt, was das Beste für das Ganze ist, und nicht nur für einen selbst (selbst wenn man allein ist). Es hat sich gezeigt, dass Schädigungen der mittleren Präfrontalregion zu Beeinträchtigungen im Moralempfinden und damit zu amoralischen Verhaltensweisen führen.
Abbildung 2.7
Der orbitomediale Präfrontalkortex: das Amygdala-Netzwerk (Cozolino 2006; Nachdruck mit ausdrücklicher Genehmigung des Autors).
Links und rechts
In Abbildung 2.2 konnten wir sehen, dass das Gehirn in eine linke und eine rechte Seite unterteilt ist. Bei der Betrachtung der Unterschiede zwischen linker und rechter Hemisphäre ist es wichtig, eine „Dichotomisierung“ zu vermeiden.
Im Laufe unserer Evolution als Wirbeltiere hatten die linke und die rechte Seite unseres Nervensystems unterschiedliche Funktionen inne (Halpern, Güntürkün, Hopkins & Rogers 2005). Der Vorteil dieser Asymmetrie, den wir Menschen mit Fischen und Fröschen, Eidechsen und Vögeln ebenso wie mit Ratten teilen, könnte darin liegen, dass wir durch stärkere Differenzierung eine größere funktionale Komplexität erreichen können. Warum sollten links und rechts oder oben und unten dasselbe sein? Wie an früherer Stelle bemerkt, entwickeln sich das Stammhirn und die limbischen Bereiche früher als der Kortex. Ihre Asymmetrien verweisen auf einen Unterschied in der Verbindungsfähigkeit der kortikalen Strukturen beider Hemisphären. Die sich herausbildenden strukturellen Unterschiede führen zu einigen relevanten und recht stabilen Funktionsunterschieden zwischen rechts und links. Die rechte Hemisphäre ist in den ersten zwei oder drei Lebensjahren aktiver und weiter entwickelt. Die linke tritt erst um den zweiten Geburtstag herum auf den Plan, dann kommt es in den folgenden Jahren zu periodisch unterschiedlich starken Entwicklungsschüben von links und rechts. Das verbindende Gewebe, der Corpus callosum, bekommt zu dieser Zeit ebenfalls seinen ersten Entwicklungsschub. Er dauert bis weit nach dem zwanzigsten Lebensjahr an.
Generell gesagt, kann man sich den Unterschied zwischen den Hemisphären so vorstellen, dass die kortikalen Säulen der rechten Hemisphäre mehr horizontale Verbindungen untereinander aufweisen, was die Repräsentationsprozesse stärker „kreuzmodal“ werden lässt in dem Sinne, dass die differenzierten Prozesse des einen Bereichs mit denen anderer Bereiche kommunizieren. Dies mag uns helfen zu verstehen, warum die rechte Gehirnhälfte leichter den Kontext und das Gesamtbild zu sehen vermag als die stärker detailorientierte linke Gehirnhälfte. In der linken Hemisphäre scheinen die Kortikalsäulen stärker eigenständig zu arbeiten, was die tiefer gehenden, analytischen, problemfokussierten, detailorientierten und Fakten akkumulierenden Prozesse dieser Hemisphäre ermöglicht.
Die Inputströme aus den subkortikalen Regionen speisen diese beiden Regionen mit verschiedenen Quellen sensorischer Daten, was uns ebenfalls zu verstehen hilft, warum solche Unterschiede auftauchen. Immer wieder wird nach Unterschieden zwischen den Geschlechtern gefragt, und so finden Sie hier eine allgemeine Aussage, die beide Geschlechter favorisiert. Die Entwicklung des weiblichen Gehirns scheint mehr Integration zu beinhalten, was auf eine größere Dicke des Balkens als Verbindung zwischen linker und rechter Hemisphäre zurückzuführen ist. Über das männliche Gehirn kann gesagt werden, dass es differenzierter und spezialisierter ist, so dass die getrennten Regionen intensiver eigenständig arbeiten können. Diese groben Verallgemeinerungen machen mich nervös, aber das ist meist die Art von Erkenntnis, die die Wissenschaft offenbart. In der klinischen Arbeit ist es wichtig, die Menschen so zu nehmen, wie sie sind, und nicht, wie sie der Statistik zufolge sein könnten.
Die Funktionen der linken Gehirnhälfte kann man sehr leicht im Gedächtnis behalten, weil die meisten von ihnen mit „L“ beginnen: Die linke Seite ist spezialisiert auf Linguistik, Linearität, Logik und literales (wörtliches) Denken.
Im Gegensatz dazu zeichnet sich die rechte Hemisphäre durch folgende Eigenschaften aus: Sie ist nonverbal, ganzheitlich, visuell-räumlich und weist schließlich noch eine ganze Reihe nicht zusammenhängender Besonderheiten auf wie das autobiografische Gedächtnis, eine ganzheitliche Landkarte des Körpers (Körperschema), rohe und spontane Emotionen, eine anfänglich empathische, nonverbale Reaktion, Stressmodulation und eine Dominanz des alarmierenden Aspekts der Aufmerksamkeit. Man geht davon aus, dass die rechte Seite bei Leid und unangenehmen Emotionen vermittelnd wirkt und dass sie mit dem Rückzugsverhalten gegenüber Neuem korreliert. Die linke wird stärker mit positiveren affektiven Zuständen und mit Annäherungsverhalten assoziiert. Die Koordination zwischen rechts und links könnte bei der Ausprägung unserer emotionalen Gesamtstruktur eine wichtige Rolle dabei spielen, wie das achtsame Gewahrsein unseren affektiven Stil verändert (Davidson 2000). Wie wir gesehen haben, scheint Achtsamkeit zu einem Annäherungszustand zu führen, der mit einer linksseitigen Verschiebung in der frontalen elektrischen Aktivität einhergeht.
Wenn Funktionen getrennt sind, dann kann das Gehirn sie zu einem Zustand der Verbundenheit zusammenbringen, um komplexere und besser angepasste Funktionen zu ermöglichen. Das ist der Sinn der neuronalen Integration und der Weg, auf dem die komplexen Systeme des Gehirns und des Geistes Flexibilität erlangen und neue Funktionskombinationen schaffen können. Mit einer linken und einer rechten Hemisphäre, die physisch voneinander getrennt und in funktionaler Hinsicht differenziert sind, haben wir die Möglichkeit, ein anpassungsfähigeres Funktionieren zu erreichen, wenn es uns gelingt, sie zu einem Ganzen zu integrieren. So entsteht meiner Überzeugung nach Kreativität nicht aus der einen oder anderen Hemisphäre, sondern aus ihrer Integration.
Wie wir sehen werden, könnte die linke Hemisphäre eine „Erzählerfunktion“ haben, bei der diese Region dazu dient, die fortlaufende Lebensgeschichte einer Person sprachlich zu artikulieren. Doch die Inhalte unserer autobiografischen Erinnerungen sind hauptsächlich in der rechten Hemisphäre angesiedelt, und so könnte die Schaffung einer kohärenten Erzählung des eigenen Lebens als Minimum diese bilaterale Form von Integration bedingen. Die Integration von linker und rechter Hemisphäre trägt dazu bei, dass wir einen Sinn in unserem Leben sehen (Weiterführendes hierzu in Anhang III, Lateralität).
Das Bewusstsein von der Gesamtheit der Erfahrungen unseres Körpers könnte es erfordern, dass wir die integrierte Ganzkörperlandkarte der rechten Hemisphäre mit der Aktivierung des seitlichen Präfrontalkortex verbinden. Beim achtsamen Gewahrsein konzentrieren wir uns häufig auf Aspekte unserer Körperfunktionen. Diese würden dann nicht nur die Interozeption der Inselrinde und des mittleren Präfrontalkortex, sondern die gesamte, auf der rechten Seite des Gehirns repräsentierte Körperlandkarte umfassen. Wenn unser Geist in der Achtsamkeitspraxis mit dem auf Worten basierenden linksseitigen Geplapper des Moments angefüllt ist, dann könnten wir sagen, dass es einen elementaren neuronalen Wettbewerb zwischen rechts (Körperempfinden) und links (Wort-Gedanken) um die begrenzten Ressourcen des Aufmerksamkeitsfokus jenes Moments gibt. Im achtsamen Gewahrsein den Fokus auf den Körper zu verlagern, könnte eine funktionale Verschiebung weg von sprachlichen und gedanklichen Fakten und hin zu nonverbalen Bildern und somatischen Empfindungen der rechten Hemisphäre bedeuten. Das könnte uns helfen, das Untersuchungsergebnis von Sara Lazar zu verstehen, die eine Verdickung in den Strukturen des mittleren Präfrontals und der rechten Inselrinde festgestellt hat (Lazar et al. 2005).
Wenn aber die fortlaufende Erzählung, vielleicht sogar ohne Worte, in Form eines bezeugenden Gewahrseins oder eines inneren Beobachters wirklich eine Funktion der linken Hemisphäre ist, dann würde es hierbei zu einer Aktivierung des Präfrontals auf der linken Seite kommen (exekutive Aufmerksamkeit mit aktiver narrativer Beobachtung), und vielleicht zusätzlich zu einer Aktivierung des rechten mittleren Präfrontals (nonverbale Selbstreflektion und Metabewusstsein im medialen Präfrontal) sowie einer Aktivität der rechten Inselrinde mit viszeraler Repräsentation. Das könnte uns helfen, die Ergebnisse der linksseitigen Annäherungsverlagerung zu verstehen, die Davidson und seine Kollegen festgestellt haben (Davidson et al. 2003), ebenso wie Lazars Untersuchungsergebnisse zum mittleren Präfrontal und der rechtsseitigen Inselrinde (Lazar et al. 2005). Die Implikationen dieser Argumentation müssen empirisch erforscht werden, um ihre Stichhaltigkeit zu bekräftigen. Doch dies ist ein Beispiel dafür, wie wir auf bestehendes Wissen über die Gehirnfunktionen (Lateralität) zurückgreifen können, um geeignete Fragen über Phänomene (achtsames Gewahrsein) und allgemeine Prinzipien (neuronale Integration und Wohlbefinden) zu stellen, mit deren Hilfe wir das Verständnis unseres subjektiven und neuronalen Lebens vertiefen können.
„Gehirn“ und „Geist“
Wenn in diesem Buch der Begriff Gehirn verwendet wird, dann bezieht er sich immer auf das Gehirn als einen integrierten Teil des gesamten Körpers. Diese Realität verändert die Art und Weise, wie wir über die Beziehung zwischen Gehirn und Geist nachdenken. Da der Geist selbst als gleichzeitig verkörpert und beziehungsbezogen angesehen werden kann, kann unser Gehirn im Grunde genommen als das soziale Organ des Körpers betrachtet werden: Der Geist verschiedener Menschen verbindet sich über einen neuronalen Schaltkreis in unseren Körpern miteinander, der fest verdrahtet ist, um Signale anderer aufzunehmen.
Um die Beziehung des Geistes (des Fließens von Energie und Informationen) zum Gehirn (neuronale Verbindungen und ihr komplexes Feuerverhalten) zu untersuchen, müssen wir uns vor bestimmten vorgefassten Ideen hüten, die unser Verstehen beeinträchtigen und unser Denken beeinflussen könnten. Wir müssen kognitive Achtsamkeit walten lassen – offen für Kontexte sein, neue Wege der Wahrnehmung akzeptieren, subtile Unterschiede zwischen verschiedenen Ideen klar erkennen und neue Kategorien des Denkens in unserem Gewahrsein der Konzepte im jeweiligen Moment schaffen. Hier sehen wir, dass die Vorstellung einer kognitiven Achtsamkeitsdimension uns dabei helfen kann, wie wir denken und wie wir das Lernen angehen, sogar in Bezug auf die reflektive Achtsamkeit.
Die zeitliche Abfolge und der Schauplatz der neuronalen Aktivierung entsprechen der zeitlichen Abfolge und den Eigenschaften geistiger Aktivität. Wenn sich jemand eine Fotografie ansieht, dann kann seine Gehirnaktivität dabei mit einem Kernspintomografen überwacht werden. Es wird eine Aktivierung im hinteren Teil des Gehirns sichtbar sein (normalerweise erhöht sich der Blutfluss während der Aktivierung und ist auf fMRI-Aufnahmen sichtbar oder als elektrische Aktivität auf einem EEG). Das Genaueste, was wir dann sagen können, ist, dass das Feuern von Neuronen am Okzipitallappen mit visueller oder räumlicher Wahrnehmung korreliert.
Warum kann man nicht sagen, dass die neuronale Aktivität die visuelle Wahrnehmung erzeugt habe? Wenn wir solche Kausalzusammenhänge herstellen, dann wird die irrige Idee verstärkt, dass der Geist nur durch das Gehirn erschaffen werde. Wenn wir an dieser Stelle kognitiv achtsam sind, dann müssen wir offen für die Wahrheit sein, nämlich, dass das neuronale Feuern erst durch das Sehen des Bildes ausgelöst worden ist. Der Richtungspfeil weist in beide Richtungen: Der Geist kann tatsächlich das Gehirn nutzen, um sich selbst zu erschaffen.
Ohne kognitive Achtsamkeit würden wir diese birektionale Ausrichtung übersehen. Wenn wir uns zum Beispiel unsere Weiterentwicklung als Spezies ansehen, stellen wir fest, dass unsere Spezies sich in den letzten vierzigtausend Jahren durch kulturelle Evolution verändert hat. Kultur ist der Weg, auf dem Bedeutung zwischen Individuen und über Generationen hinweg in Menschengruppen übertragen wird. Die Veränderungen, die sich in den Mustern dieses Energie- und Informationsflusses im Laufe der Zeit vollziehen, bestimmen den Verlauf der kulturellen Evolution. Wie wir uns als Spezies verändert haben, wird nicht nur von der genetisch vorangetriebenen Evolution unseres Gehirns bestimmt, sondern auch von der mentalen Evolution, die darin besteht, wie wir Energie und Informationen über Generationen kollektiv untereinander weitergeben. Dies ist die Evolution des Geistes und nicht die des Gehirns. Unserer Ansicht nach muss sich der Geist (Energie- und Informationsfluss) die Aktivität des Gehirns zunutze machen, um existieren zu können. Auf diese Weise benutzt der Geist das Gehirn, um sich selbst zu erschaffen.
Diese Perspektive entspricht dem wissenschaftlichen Kenntnisstand darüber, wie Geist und Gehirn miteinander verbunden sind. Es ist nicht nötig, den Versuch zu unternehmen, die Dimension der einen Realität so zu vereinfachen, dass sie mit der anderen zusammenfällt. Der Geist ist keine „bloße“ Gehirnaktivität, denn ein Energie- und Informationsfluss findet in einem Gehirn innerhalb des Körpers statt, und er geschieht auch innerhalb von Beziehungen. Um uns diese Sichtweise bildlich vorzustellen, können wir sagen, dass der Geist bei dem neuronalen Feuerverhalten im Gehirn „mitfährt“ und dass dieses „Mitfahren“ bidirektionalen, kausalen Einflüssen entspricht. Begriffe wie Mechanismen oder neuronal vermittelt sollen in dem vorliegenden Werk keine Kausalität in eine Richtung implizieren. Neuronale Vorgänge „korrelieren“ vielmehr mit mentalen Aktivitäten oder sind mit ihnen „verbunden“, wobei die eine Komponente die jeweils andere beeinflusst.
Beziehungen unter Menschen beinhalten ebenfalls den Fluss von Energie und Informationen und nutzen so auch dieselben Mechanismen. Diese gegenseitigen Verbindungen zwischen Gehirn, Geist und Beziehungen bilden ein Realitätsdreieck, auf das wir immer wieder zurückkommen werden. So können wir einen in drei Richtungen wirksamen Einfluss dieser drei nicht weiter reduzierbaren Dimensionen spüren.
Beziehungen prägen den Energie- und Informationsfluss – so wie es jetzt gerade durch diese Worte in Ihrem Geist geschieht. Doch die Aktivität des Gehirns prägt auch unmittelbar die Art und Weise, wie der Energie- und Informationsfluss reguliert wird. Jetzt im Moment aktiviert Ihr Gehirn möglicherweise bestimmte Feuergewohnheiten, die Sie davon ablenken, dem Text Aufmerksamkeit zu schenken. Das würde Ihre Fähigkeit beeinträchtigen, dieses besonderen Moments achtsam gewahr zu sein. Es könnte eine Ablenkung geben, und diese wird die Art und Weise prägen, wie sich der Energie- und Informationsfluss – der Fokus Ihrer Aufmerksamkeit – in diesem besonderen Moment vollzieht.
Die Aufmerksamkeit gegenüber dem gegenwärtigen Moment, die ein Aspekt des achtsamen Gewahrseins ist, kann durch unsere ständige Kommunikation mit anderen ganz unmittelbar geprägt werden, ebenso wie durch die Aktivitäten in unserem eigenen Gehirn. Einige der größten Herausforderungen beim Präsentsein stellen die hierarchischen Aktivierungsmuster in unserem Gehirn dar, die uns ständig mit ihrem neuronalen Feuern und mentalen Geplapper bombardieren.
Im nächsten Abschnitt werden wir in das Wesen der unmittelbaren Erfahrung und des achtsamen Gewahrseins eintauchen. Wir können alle Vorstellungen über Gehirn, Geist und Beziehungen im Hinterkopf behalten, rücken sie aber erst einmal beiseite, wenn wir uns in die subjektive Realität des Innenlebens vertiefen.