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Kapitel 4

Leiden und die Ströme des Gewahrseins

Einhundertfünfzig Spezialisten, die meisten von ihnen Kliniker, hatten sich im Mount Madonna Center in den Bergen versammelt, von denen man einen Blick auf die Bucht von Monterey in Nordkalifornien hatte, um von Jon Kabat-Zinn und Saki Santorelli den Ansatz der „Stressbewältigung durch Achtsamkeit“ (MBSR) zu erlernen, den diese seit mehr als fünfundzwanzig Jahren praktizierten (Kabat-Zinn 1990; Santorelli 1999). Durch eine Reihe von Studien sind die positiven Ergebnisse belegt, über die wir an früherer Stelle berichtet haben: verbesserte Immunfunktion, ein verbessertes Funktionieren des Herzens sowie verbesserte Funktionen im psychischen und zwischenmenschlichen Bereich – all das wird mit Achtsamkeitspraktiken in Verbindung gebracht (Davidson et al. 2003; Kabat-Zinn 2003). Dies ist mein intensives Eintauchen in die Achtsamkeit: zwei einwöchige Retreats in einem Monat. Der Retreat der schweigenden Wissenschaftler war ein Eintauchen in eine klassische Einsichtsmeditationserfahrung. Früh aufwachen, sitzen, gehen, sitzen, gehen – all das wurde schweigend getan, ohne mit anderen auf irgendeine Weise in Kontakt zu treten.

Diese Woche ist eher ein Studienpraktikum, wo wir meistenteils mit anderen sprechen dürfen – mit Ausnahme der sechsunddreißig Stunden, die morgen früh beginnen. Diese Worte, die Sie jetzt lesen, gehen aus meiner linken Gehirnhälfte hervor, die weiß, dass sie kurz davor steht, die nächsten eineinhalb Tage zur Untätigkeit gezwungen zu sein. Außer dass wir nicht sprechen dürfen, hat man uns auch davon abgeraten, zu schreiben und zu lesen und – auch das! – miteinander während dieser Zeit irgendwie in Kontakt zu treten.

Rumis Gedicht „Das Gasthaus“ hängt an der Wand als wunderschöne Formulierung des Gefühls, das für mich den Kern der Achtsamkeit bildet, während sich diese Tage entfalten. Das Gedicht beginnt mit dem Satz: „Dieses Menschsein ist ein Gasthaus“, und legt uns nahe, alle unverhofften Besucher in unser Haus einzuladen und sie alle willkommen zu heißen und zu bewirten. Jeden Morgen lese ich seine Worte und gehe den Weg zum Versammlungssaal, vorbei an Rehen und Kiefern. Wir begegnen auf dieser Reise, die wir das Leben nennen, vielen Gästen, drinnen wie draußen.

In Zusammenhang mit dem Schweigeretreat haben wir über die Vision von YODAs SOCKe gesprochen, die Vorstellung, dass „man beobachtet, um sich von den Automatismen abzukoppeln“; dass das Beobachten einen befähigt, sich weit genug zu entfernen, um jedem mentalen Prozess an der Tür seines Geistes „lachend“ begegnen zu können. Die „Socke“ steht für die Ausgeglichenheit von Empfindung, Beobachtung und Konzeptualisierung, die zu einem achtsamen Empfinden des nichtbegrifflichen Wissens führt (Abbildung 4.1).

Wenn wir das Aufsteigen mentaler Prozesse bekämpfen, dann können wir in einen massiven inneren Kampf geraten, der mentales Leiden erzeugt. Darin liegt die Paradoxie des achtsamen Gewahrseins: In seinem Kern ist es voller Akzeptanz. Ohne uns aktiv zu bemühen, ein Ergebnis zu erreichen, befreit es uns vom Leiden. Im Folgenden finden Sie einige Beispiele, die diese grundlegende Idee veranschaulichen.


Abbildung 4.1

Die vier Ströme des Gewahrseins.

Auf einem Fuß balancieren

Wir machten eine Reihe von Übungen, die zeigten, wie wichtig das achtsame Gewahrsein sein kann. Ich stand bei den Yogaübungen nahezu in der Mitte des Raumes. Unser Lehrer gab uns die Anweisung, auf einem Fuß zu balancieren. Da ich genau neben ihm stand, versuchte ich, sein Tun zu spiegeln, fand es jedoch sehr schwierig, mein Gleichgewicht zu halten. Ich fühlte mich seltsam und war überrascht, denn am Tag zuvor hatte ich dieselbe Übung während eines Vortrags, als ich mich recken und strecken musste, aus eigenem Antrieb gemacht und das Asana über lange Zeit gehalten. Worin bestand also der Unterschied?

Bei der Spiegelübung war ich darauf konzentriert, seine Bewegungen nachzuahmen, den Winkel seines Arms, die Höhe seines angehobenen Beins, sogar die Richtung seines Kopfes. Während das für ihn funktionierte, war es für mich ein sekundärer Prozess „von oben herab“, bei dem ich nicht auf mein eigenes, primäres Bedürfnis nach Balance eingestimmt war. Am Tag zuvor konnte ich die Einstimmung auf mich selbst unmittelbarer erreichen, denn es gab niemand anderen, der mir denselben Balanceakt vormachte, so dass ich ihn imitieren konnte. Heute war ich nicht auf mich eingestimmt, weil ich seine Körperbewegungen aufnahm. Der Versuch, ihm zu entsprechen, dominierte über die Fähigkeit, mein eigenes Gleichgewicht wahrzunehmen. Hier sehen wir, dass sogar eine Wahrnehmung als hierarchisches Hindernis angesehen werden kann, uns auf uns selbst einzustimmen.

Dieses Ungleichgewicht scheint uns immer wieder von uns selbst zu entfremden, uns von unserem eigenen Geist zu distanzieren. Einflüsse, die sich von oben nach unten auf unsere Wahrnehmungskanäle auswirken, verzerren unsere Fähigkeit, unsere eigenen Fingerzeige zu lesen. In diesem Fall musste mein Gewahrsein in die Empfindung „hineinfallen“, damit ich innere Einstimmung erreichen konnte. Alle vier Ströme scheinen unsere Fähigkeit zu beeinflussen, vollständig im Moment gegenwärtig zu sein. Manchmal müssen wir uns daran erinnern, uns selbst zur Gänze in das Gasthaus unseres eigenen Geistes einzuladen.

Ströme des Gewahrseins

Als ich den Kieselweg hinunterging, fühlte ich die Steine unter meinen nackten Füßen. Ich nahm die Steine wahr, den Druck auf meinen Fußsohlen, das Heben meines Beins, seine Bewegung und dann das erneute Platzieren meines Fußes auf den Kieselsteinen. Hier nahm mein rezeptives Gewahrsein die Domäne des sechsten Sinns meiner Körperempfindungen und der fünf Sinne der mich umgebenden Geräusche, Anblicke, Gerüche und Berührungen auf.

Während ich meinen Fuß hob und ihn sich durch den Raum bewegen spürte, war ich mir auch des bevorstehenden Gefühls meines Fußes bewusst, der „kurz davor war, wieder abgesetzt zu werden“. Ich trat wieder einen Schritt nach vorn, und diese Empfindung wurde noch deutlicher. Ich konnte die Kiesel fast fühlen, bevor ich meinen Fuß abstellte. Ich hatte das Konzept von Spiegelneuronen im Kopf. Ich hörte den Gedanken: „Oh, diese Empfindung der Kiesel, bevor du den Schritt machst, ist irgendein Gewahrsein einer Erinnerung für die Zukunft, dein Geist, der sich auf den nächsten Schritt vorbereitet, die Wahrnehmung dieses vorsätzlichen Aktes.“ So spürte ich gleichzeitig die Intention und das begriffliche Denken der Intention. Ich beobachtete mich auch dabei, wie ich ein Konzept mit einer Empfindung abglich und den Prozess durch diesen beobachtenden Zeugen „zur Kenntnis nahm“ – ich beobachtete also auch die Intention. Während all das vor sich ging, war ein Gefühl dieses Gewahrseins eine Empfindung von Wissen, ein vages Gefühl, geerdet zu sein. Doch die Empfindung fühlte sich klar an. Die Beobachtung fühlte sich eindeutig an. Die Konzeptualisierung hatte ihre eigene Struktur und ihre eigene Griffigkeit. Sogar das Wissen fühlte sich wie ein auftauchender Prozess an, der aus der Verflechtung der drei Ströme entstand und vielleicht zu einem eigenen Strom wurde. Ich spürte, ich beobachtete, ich erfasste es geistig – alles innerhalb des Gewahrseins.

Hier spürte ich deutlich, dass die Achtsamkeit eine unverfälschte oder unmittelbare Qualität hatte, die nicht auf die physischen Empfindungen der ersten sechs Sinne beschränkt war. Dieses rezeptive Gewahrsein hatte die weite Qualität von „dankbar sein für das, was immer auch kommt“, und lud sie mit Offenheit und einem Lachen ein. Ich hatte das Empfinden, dass der Beobachterstrom das rezeptive Gewahrsein manchmal verdrängte und sich das Leben dadurch abgehoben und irreal, ja ungelebt anfühlte. Zu anderen Zeiten machte die Konzeptualisierung das Wassertrinken vielleicht zu einer Idee und ich fühlte nie wirklich die kühle Flüssigkeit über meine Lippen und meine Zunge fließen, obwohl ich tatsächlich trank. Ich denke mir, dass es Menschen gibt, bei denen auch ein Übermaß an Empfindungen herrscht und die die Beobachtung und die Konzepte ausblenden – aber das ist einfach nie mein Schicksal gewesen, obwohl es von außen so scheint, als ob dieses Ungleichgewicht, das mich plagt, zumindest manchmal lohnend ist.

Und das ist der Haken an der Sache: Gleichgewicht ist nicht dasselbe wie Gleichzeitigkeit. Nicht jeder unverhoffte Besucher muss zur selben Zeit im Gasthaus wohnen. Neuankömmlinge kommen jeden Morgen, und es bildet sich sogar eine Menschenmenge. Doch um jeden Gast ehrenvoll zu behandeln, müssen wir dieses rezeptive Gewahrsein – die Weite unseres Geistes – kultivieren, die sie alle in ihrer eigenen Zeit willkommen heißt.

Die unmittelbare Erfahrung verleiht ein Gefühl von Erkennen und Vertrautheit. Dieses „unmittelbare Erleben“ kann die vier Domänen von Empfindung, Beobachtung, Konzeptualisierung und Wissen umfassen. Das mag Ihnen seltsam erscheinen, so wie mir auch, sogar während ich es schreibe. Aber wir können jeden dieser Ströme so anwenden, dass er der anderen gewahr ist: Ich kann wissend spüren und ich kann spürend wissen. Vielleicht ist das Wissen das Ergebnis der Balance der ersten drei, und wir werden diese Möglichkeit im weiteren Verlauf erforschen.

In diesem Moment erinnere ich mich daran, was für ein Kampf es war, zu versuchen, sich „einfach nur“ auf einen Strom oder einen anderen zu konzentrieren, damals, bei dem Schweigeretreat zu Anfang des Monats. Ist das noch derselbe Monat? Vor so vielen Momenten, einem Monat, dennoch ist genau dieser eine Moment jetzt, und jetzt ist genau dieser Moment. Der Geist verändert sich. Ich konnte nicht nur spüren oder nur beobachten: Sie kämpften um irgendeine Art von Aufmerksamkeit, wie kleine Kinder, die Sie zu Hause begrüßen und auf Ihren Schoß springen, um Ihnen zu erzählen, wie ihr Tag verlaufen ist. Diese Ströme des Gewahrseins schienen voll und frei zusammenzulaufen, als ich in jenen rezeptiven Zustand eintreten konnte, sie alle willkommen zu heißen, in welcher Form sie auch kamen.

Schweigen und Überraschung

Warum Schweigen? Das Schweigen schafft eine seltene Gelegenheit, innezuhalten und sich in die Stille hineinfallen zu lassen, mit Ihrem eigenen Geist vertraut zu werden. So oft haben wir Dinge zu tun, Orte, an denen wir sein müssen, Menschen, mit denen wir uns treffen müssen. In unserem geschäftigen Leben ist unser Geist voll und reaktionsfreudig. Wenn wir beginnen, uns auf unseren eigenen Geist einzustimmen, indem wir schweigend innehalten, dann betreten wir einen neuen Bereich von Erfahrung, der in jedem Moment Überraschungen hervorbringen kann.

Eine Überraschung ist, dass der Geist nie „leer“ ist. Es ist ein häufig behauptetes und offensichtliches Missverständnis, dass der meditative Geist zu einem Vakuum an Aktivität wird. Mit ständig generierten Bildern und Gedanken, Gefühlen und Wahrnehmungen angefüllt, ist der Geist übervoll mit Aktivität, die niemals aufhört. Der Geist ist eine geschäftige Biene, die um ihren neuronalen Bienenstock herumhuscht. Einige Menschen nähern sich dem Schweigen bzw. der Stille in der Überzeugung, dass ihr Geist bald leer sein wird – nur um dann festzustellen, dass das Gegenteil wahr ist. In der Nähe eines brummenden Bienenstocks zu leben ist nicht leicht. Es ist sogar noch schwieriger, direkt an ihn heran-, ja in ihn einzutreten.

In dem Maße, wie die Stille es dem Geist erlaubt, sich „niederzulassen“, wird es möglich, sich der Subtilitäten in den feinen Strukturen der Funktionen des Geistes bewusst zu werden. Stille ist nicht dasselbe wie eine Lücke in der Aktivität, sie ist vielmehr so etwas wie eine stabilisierende Stärke.

Eine andere Überraschung besteht darin, die vorübergehende, sich immer wieder verändernde Aktivität des Geistes zu erfahren. Wenn wir beschäftigt und im Geplauder des täglichen Lebens gefangen sind, können unsere Gedanken und Gefühle eine vermeintliche Festigkeit und Dauerhaftigkeit annehmen, die ihre wahre, überschäumende Natur verbirgt. Durch die Stille wird es möglich, diese äußere feste Schicht zu entfernen, um die gleichsam wolken- und dampfförmige Qualität der geistigen Aktivität zu offenbaren.

Überraschungen warten an jeder Ecke: Eine weitere Überraschung ist die Art und Weise, in der verschiedene Ströme des Gewahrseins sich miteinander vermischen, um die Struktur des Gewahrseins im Moment zu erschaffen. Die Begriffe Qualität des Gewahrseins oder Natur des Gewahrseins zeigen, dass sich das Gewahrsein selbst von Moment zu Moment verändert. Meiner eigenen Erfahrung nach scheinen die Direktheit und Klarheit des Gewahrseins mit einer Art Vereinigungsprozess einherzugehen, bei dem (so stelle ich mir das zumindest vor) neuronale Feuercluster miteinander zu „resonieren“ scheinen, um widerhallende Schleifen sich gegenseitig verstärkender Schaltkreise zu schaffen. Da die ablaufinvarianten Eigenschaften dieser Schleifen ihre gegenseitig erzeugten Frequenzen sozusagen mit einem „Summen“ begleiten, fühlt es sich so an, als ob ihre Selbstverstärkung eine substanzielle „Kraft“ erzeugen könnte, die sich ihren Weg zu diesen neuronalen „Voraussetzungen“ des Gewahrseins bahnt. Die Bedingungen beziehen sich hier nicht auf einen Ort, sondern auf eine Funktion, die von den Aktivierungen selbst erzeugt wird. So kann eine klare, unmittelbare Empfindung von Gewahrsein für eine Empfindung, eine Beobachtung, einen Gedanken oder ein Wissen existieren. Aber was ist mit dem Bewusstsein selbst?

Wenn wir behaupten, dass die Bewusstseinsqualität in diesem Moment dunkel ist, wie sind wir uns dann des Bewusstseins bewusst? Können wir ein klares Bewusstsein von einer dunklen Bewusstseinsqualität haben? Metaprozesse wie diese, wie das Meta-Bewusstsein, haben unserer Spezies ihren Namen gegeben, nämlich Homo sapiens sapiens, was „die Wissenden“ bedeutet. Wir wissen, dass wir wissen (Kabat-Zinn, 2003b).

Der Fluss des Bewusstseins

Viele Studien weisen auf die Kraft des achtsamen Gewahrseins hin, Wohlbefinden in vielen Bereichen unseres Lebens zu fördern. Warum sollte das so sein? Warum sollte die nicht urteilende Aufmerksamkeit, die Aufmerksamkeit, die wir mit Absicht dem gegenwärtigen Moment schenken, etwas Gutes sein? Wir haben gesehen, dass „nicht urteilend“ bedeuten kann, nicht an den unvermeidlichen Urteilen festzuhalten, die der Geist aus den hierarchischen Prozessen unserer kortikalen Kritik erzeugt. Die Entkopplung dieses Automatismus führt in vielen Fällen dazu, das man „aufwacht“ und beginnt, sich großartig zu amüsieren.

Ein anschauliches Bild für das achtsame Gewahrsein kann das einer Radnabe sein, bei der das Rad unseres Geistes offen und weit genug ist, um jegliche Elemente am Rande des Rades zwar in unsere bewusste Erfahrung gelangen zu lassen, sie aber nicht zu übernehmen (Abbildung 4.2).


Abbildung 4.2

Das Rad des Bewusstseins: Rand, Speichen und Nabe.

Jedes Element am Rand kann unmittelbar erfahren werden (unmittelbares sensorisches Erleben einer der grundlegenden Sinne); es kann beobachtet, in Begriffe gefasst und dann gekannt werden. Und so befähigen uns die vier Ströme des Gewahrseins, die den Bewusstseinsfluss, der in die Nabe unseres Geistes einströmt, speisen, ein reflektives Gewahrsein von etwas zu haben – einer emotionalen Reaktion, einer Erinnerung (siebter Sinn) einer Anspannung im Bauch, einer Schwere in der Brust (sechster Sinn), oder eines Anblicks, Geräuschs, Geschmacks, einer Berührung oder eines Geruchs (fünf Sinne). Wir könnten sogar ein Gefühl von Verbundenheit zu uns selbst oder zu anderen haben, in einer Art achtem Sinn, der uns zu einer relationalen (beziehungsbezogenen) Wahrnehmung befähigt.

Das durch die Linsen dieser Ströme (Empfindung, Beobachtung, Konzeptualisierung, Wissen) gefilterte Material der Randpunkte (aller sieben oder möglicherweise acht Sinne) strömt dann in unser unmittelbares Gewahrsein ein und macht uns vollständig bewusst, was wir gerade erfahren. Manchmal wird dieses Gewahrsein von einem Teil der ersten drei beherrscht: Empfindung, Beobachtung und Konzeptualisierung. Zu anderen Zeiten ist dieses Bewusstsein in einem Zustand der Balance, und dann scheint Wissen aufzutauchen. Und so ist es vielleicht das Ausgleichen des Quartetts, welches das Wesen der „Qualität des Gewahrseins“ bestimmt, während die vier Eigenschaften Daten in die rezeptiven Naben unseres Geistes einströmen lassen (Abbildung 4.3).


Abbildung 4.3

Die vier Ströme des Gewahrseins, die den gefilterten Fluss in die Radnabe des Geistes einströmen lassen: Empfindung, Beobachtung, Konzept und Wissen.

Wenn wir den Körper anstrengen, kann das Empfinden des sechsten Sinns vorherrschend werden. In jenem Moment ist das Gewahrsein mit somatischem Input angefüllt, dem Geplätscher körperlicher Empfindungen, und ist frei von sprachlichen Begrenzungen. Wenn wir in das Empfinden eines schönen Anblicks eintauchen, dann können wir uns in dieser visuellen Schönheit verlieren und das Konzept dessen, was wir sehen, nicht mitbekommen. Auf der anderen Seite kann visueller Input leicht in Begriffe umgesetzt werden, und unsere geschäftigen kortikalen Muster-Detektoren vergleichen möglicherweise das, was wir jetzt sehen, mit dem, was wir Dutzende von Malen zuvor gesehen haben. Ein solcher Vergleich kann es schwer machen, den Baum einfach so zu sehen, „wie er ist“. Desgleichen wird unser linkshemisphärischer kortikaler „Kuppler“ versuchen, sprachliche Repräsentationen mit visuellen Inputs zu verbinden und das zu kategorisieren und zu benennen, was wir sehen. Der Klassifizierungsprozess entfernt uns ebenfalls von dem direkten Empfinden der ersten fünf Sinne. Wir können den Gedanken immer noch „spüren“, aber es fühlt sich anders an, als den Baum zu spüren. Hier beherrschen Konzepte die Ströme, die ins Bewusstsein hineinfließen, und der „Baum“ wird eher zu einer Kategorie als zu einer Empfindung.

Das achtsame Gewahrsein scheint eine Balance zwischen diesen Strömen des Gewahrseins zu erfordern. Einige Menschen stellen vielleicht die Empfindung in den Vordergrund, doch meine eigene unmittelbare Erfahrung an diesem Punkt lässt mich glauben, dass möglicherweise alle vier Ströme zur Klarheit und Stabilität von Achtsamkeit beitragen.

Selbst und Leiden

Es wurde eine Frage zu dem „Wo“ des reinen Gewahrseins gestellt. Ein Kommentar lautete, dass das Wo keine Rolle spiele, sondern dass am wichtigsten sei, wie die Erfahrung für den Einzelnen aussähe. Dieser Fokus auf unserer subjektiven Erfahrung ist wichtig und erinnert uns daran, dass wir, sogar wenn wir das Wesen des „achtsamen Gehirns“ voraussetzen, vorsichtig sein müssen, die Naturwissenschaften, die Neurobiologie oder irgendeine andere wissenschaftliche Disziplin nicht zu vergegenständlichen.

Wenn wir etwas über das Gehirn wissen, dann kann uns das jedoch dabei helfen, einige der introspektiven Beobachtungen und Empfindungen zu klären, so dass die von uns gebildeten Begriffe zumindest mit verschiedenen Wissenschaftszweigen konform gehen. Das macht die Wissenschaft nicht besser als die Subjektivität, sondern nur anders.

Im Folgenden finden Sie eine kurze Zusammenfassung der allgemeinen Vorstellung von Stress und Leid und ihrer Verringerung mit Hilfe von Praktiken des achtsamen Gewahrseins. Sie wird durch die zwischenmenschliche neurobiologische Linse in meinem Kopf gefiltert, soweit ich das aus meiner unmittelbaren Erfahrung und der bestehenden Literatur sagen kann. Wenn der Geist sich an vorgefassten Vorstellungen festhält, dann erzeugt er eine innere Spannung zwischen dem, was ist, und dem „was sein sollte“. Diese Spannung erzeugt Stress und Leid.

Die Rolle des achtsamen Gewahrseins besteht nun darin, den Geist zu befähigen, das Wesen des Geistes selbst zu „erkennen“, den Einzelnen zu der Einsicht erwachen zu lassen, dass vorgefasste Ideen und emotionale Reaktionen in das Denken und die reflexartigen Reaktionen eingebettet sind, die dann innere Not verursachen. Wenn sich ein Mensch aber von Gedanken und Emotionen löst, indem er sich bewusst macht, dass diese geistigen Aktivitäten weder mit dem „Selbst“ identisch noch von Dauer sind, dann kann er erreichen, dass sie wie Blasen in einem Topf mit siedendem Wasser aufsteigen und zerplatzen.

Nicht alles Denken und alle gewohnheitsmäßigen Reaktionen erfolgen „von oben herab“, aber in diesem Modell sind es genau diejenigen, die erworbenes Leiden verursachen. Das Leben ist voller Leid. Es gibt ein universelles Leid, bei dem wir alle den Schmerz von Verlust, Enttäuschung und Tod erfahren. Doch erworbenes Leiden ist der Ausdruck, der verwendet wird, um zu verdeutlichen, wie unser Geist seine eigene mentale Pein verursacht, indem er an Begriffsbildungen und automatischen Reaktionen festhält, die uns aus dem unmittelbaren sensorischen Erleben herausreißen. In vielfacher Weise nimmt die Qualität unseres Gewahrseins ab, wenn wir nur in unseren Gedanken und vorgeformten Emotionen, in Konzepten und Wahrnehmungsfiltern leben, die dann unsere Weltsicht organisieren. Doch wenn wir für unsere Sinne erwachen, dann belebt das nicht nur unser Dasein, sondern es bringt uns unmittelbar zum Erleben von Moment zu Moment. Gedanken und Emotionen sind in Ordnung, solange sie nicht die Fähigkeit zum sensorischen Gewahrsein zerstören. Es geht, so habe ich im Laufe der Zeit gelernt, um Ausgleich, nicht um Diktatur.

Und so besteht eine Rolle der Sinne im Alltagsleben darin, uns aufzuwecken, uns von unseren Automatismen wegzubringen, die Schärfe des Gewahrseins zu verstärken, damit das Leben reicher und im Moment gegenwärtiger wird.

Das Ergebnis eines solchen Erwachens ist, dass unser gesamtes Wesen befreit wird, empfänglicher für die Dinge zu werden, so wie sie sind. Die Einstimmung auf die Domänen der Außenwelt (die ersten fünf Sinne), die somatische Welt (sechster Sinn) und die geistige Welt des Selbst und der anderen (siebter Sinn) bringt einen Zustand mit sich, der sowohl kohärent als auch stabilisierend ist. Einstimmung bedeutet, Dinge im Gewahrsein so zu spüren, wie sie sind. Unser „gelebtes“ Selbst schwingt in unmittelbarer, klarer Weise mit unserem „sich gewahr seienden“ Selbst, und wir „fühlen uns“ von unserem eigenen Geist „gefühlt“. Wir fühlen diesen kohärenten Zustand von Einstimmung in unserem achten, beziehungsbezogenen Sinn.

Man kann sagen, dass der flexible, anpassungsfähige, kohärente, energetisierte und stabile Fluss (FACES) des geistigen Wohlbefindens in Form von integrierten Systemen über die Zeit auftaucht. FACES ist der Begriff, mit dem wir uns auf diesen integrierten Zustand beziehen, einen Zustand, der dem Wohlbefinden zugrunde liegen könnte.

Einstimmung ist der Prozess, durch den getrennte Elemente zu einem schwingenden Ganzen zusammengebracht werden. Wenn wir uns in unserem Gewahrsein Dingen so annähern, wie sie sind, mit einer COAL-Gemütsverfassung, dann sind wir auf dem Weg zu innerer Einstimmung. Dieser widerhallende Zustand befähigt das Selbst, einen FACES-Fluss zu erreichen und alles anzunehmen, was auftaucht. Einstimmung taucht auf, wenn Integration erzeugt wird.

Mit einem Gewahrsein von Moment zu Moment, das sich nicht an Urteilen festhält, haben wir eine Formel für die innere Einstimmung, die den physischen, somatischen und mentalen Bereich der Realität einbezieht. Diese gegenseitige Einstimmung ist ein widerhallender FACES-Zustand, der das Bewusstsein erhellt und die Elemente, die im Fokus unserer Aufmerksamkeit stehen, stabilisiert. Das Leben wird dynamischer und klarer. Das achtsame Gewahrsein fühlt sich gut an, und es ist für das gesamte Wesen und seine Beziehung zur Welt und zu anderen Menschen gut.

In dem Maße, wie unser reflektives Gewahrsein von oben nach unten eindringende Vorurteile über Bord wirft, verschmelzen die drei Ströme von Empfindung, Beobachtung und Begriffsbildung mit dem tieferen Strom des Wissens, und wir sind frei, um in den ausgeglichenen Fluss unseres Bewusstseins hineinzuströmen. Es erfolgt die Loslösung von den Objekten der Aufmerksamkeit im Sinne der definierenden Merkmale dessen, was wir sind, und dadurch kann ein Gefühl von achtsamem Wissen entstehen. Diese vom Beobachter geschaffene Fähigkeit der Unterscheidung ist es, die das achtsame Gewahrsein von der Vorstellung des „Flusses“ unterscheidet, in dem wir, ohne uns dessen bewusst zu sein, in die Empfindungen einer Erfahrung eintauchen (Czikszentmihalyi 1990). Im Fluss verlieren wir uns, weil das Eintauchen in die Empfindung oder den Gedanken uns „mitreißen“ kann und wir uns in den Automatismen jenes Stroms verlieren. Bisweilen kann das etwas Positives sein, zum Beispiel wenn wir essen, miteinander schlafen, einen Spaziergang machen oder über ein Problem nachsinnen. Doch im täglichen Leben kann der Kern eines achtsamen Lebens darin bestehen, alle vier Ströme in Balance zu halten. In unserer klinischen Arbeit mit dem Leiden könnte ein Bedürfnis danach bestehen, die Fähigkeit des Beobachters zu schulen, um die Automatismen, die den Prozess in Gang bringen, zu entkoppeln (YODA).

Sich auf Schmerzen in den Gliedmaßen zu konzentrieren kann uns zum Beispiel helfen, uns weg von einer vorgefassten Idee (etwa „ich sollte keine Schmerzen haben“) und hin zur Empfindung zu bringen. Doch ohne einen stabilen Beobachter bleibt der Schmerz möglicherweise intensiv, selbst wenn die Gedanken weniger werden. Das Empfinden könnte für sich genommen keine Erleichterung bedeuten. Das achtsame Gewahrsein der Empfindung könnte hingegen alles verändern – richten wir unseren Fokus auf den Schmerz und die Aktivierung des Beobachters, so kann die Bewusstseinsqualität der rezeptiven Nabe das vorübergehende und vielleicht unvermeidliche Wesen des Schmerzes selbst anerkennen. Selbst der Gedanke „ich sollte schmerzfrei sein“ kann untersucht werden und wie eine Seifenblase im Badewasser zerplatzen.

Stress und Leiden tauchen überall im Leben auf. Durch das achtsame Gewahrsein wird eine neue Möglichkeit geschaffen, das Leiden neu darzulegen, selbst wenn man der sensorischen Erfahrung nicht entkommen kann. Nichts wird vorsätzlich blockiert; vielmehr sind alle Gäste willkommen. Wenn ein vorgefasster Gedanke an die Tür klopft, dann kann er als das, was er ist, gesehen, beobachtet, gedacht und gekannt werden. In diesem Zustand des Gewahrseins in diesem Moment des Schreibens scheinen alle vier Ströme zu seiner Struktur beizutragen, zu jener rezeptiven Nabe im Zentrum unseres Geistes.

Präsenspartizipien

Unser Schweigen während dieses Retreats dauerte nur sechsunddreißig Stunden. Ich erinnerte mich immer wieder daran, nicht zu vergleichen und nicht so viel über den Retreat zu Anfang des Monats nachzudenken. Aber der Lernprozess aus jener Zeit prägte mein Erleben – YODAs SOCKe drang immer wieder in mein momentanes Bewusstsein ein, und ich konnte nicht dagegen ankämpfen, sondern ließ die Vorstellung einfach da sein. Ich versuchte zu sagen, „nicht jetzt“, aber es schien nicht viel zu nützen. Also versuchte ich, die Gedanken einfach da sein zu lassen.

Am ersten Morgen der Schweigeperiode saßen wir fünfundvierzig Minuten zusammen, die mir recht kurz erschienen. Ich trat in irgendeine Bewusstseinsqualität ein, in der nicht nur die Zeit zu verschwinden schien, sondern auch das Gefühl meiner Verbindung zu meinem Körper und den Empfindungen der Außenwelt – Geräusche, Licht durch meine geschlossenen Augen –, alles schien weit entfernt zu sein, zu schweben, als habe man es vorübergehend außer Kraft gesetzt, schwerelos, ohne zu irgendetwas oder irgendjemandem im Besonderen zu gehören. Die Glocken wurden geschlagen, und es wurde angekündigt, dass es Zeit für die Gehmeditation sei. Ich konnte mich nicht bewegen oder bewegte mich einfach nicht. Ich hatte Angst, die anderen könnten meinen, ich sei arrogant, weil ich die Anweisungen nicht befolgte. Doch ich spürte auch, dass sie irgendwie wissen würden, dass ich mich in einer Art von „wahllosem Gewahrsein“ befand, in dem mein normales Selbstgefühl verschwunden war, weggeschmolzen, unwichtig, nicht vorhanden. Ich nahm meine Sorge um den Neid der anderen zur Kenntnis, und wie ein Lehrer in einem früheren Retreat vorgeschlagen hatte, notierte ich ihn im Geiste sanft als „Sorgegedanke Nummer eins“, und er schwebte irgendwo in die Ferne, wo er zwar nicht ganz verschwunden, aber nicht mehr so wichtig war.

Ich beobachtete diese Empfindung des „Nicht-Ich“ in meinem Empfinden. Ich weiß, dass das seltsam klingt, und vielleicht klingt die ganze Sache grotesk, wie sie „mir“, glaube ich, auch erscheinen wäre, bevor ich diesen Weg betreten hatte. Das war passiert, als ich vor fast dreißig Jahren in Mexiko von einem Pferd mitgeschleift worden war und ich, wenn auch nur einen Tag lang, meine Identität verloren hatte und in eine andere Art des Wissens versunken war, die unterhalb des normalen Gefühls von „mir“ lag. Einen Tag lang erlebte ich eine „vorübergehende globale Amnesie“: vollständige Empfindungen, keinerlei Identität. Die Identität kehrte zwar zurück, aber ich vergaß nie, wie „licht“ unsere Identitäten in Wirklichkeit sind. Ein Tag intensiver Empfindungen ohne den hierarchischen Rahmen der persönlichen Identität veränderte meinen Blickwinkel grundlegend.

Aber das hatte eine etwas andere Beschaffenheit, bei der sogar die Empfindungen nicht mit einem „Ich“ behaftet waren. In Mexiko hatte ich das Gefühl eines „Ich“, aber nur in der Gegenwart, nichts Vergangenes schien an jenem Tag verfügbar zu sein. Jetzt und hier stellte sich das Empfinden ein, dass die Dinge, die geschahen, einfach Präsenspartizipien waren, Mittelwörter der Gegenwart: klingend, sitzend, atmend, gewahr seiend. Ich saß, bis die anderen vom Gehen zurückkamen, mir des Sorgegedankens Nummer zwei bewusst, der zur Kenntnis genommen und zerstreut wurde. Wir saßen eine weitere Periode lang und als die Glocken ein paar Sekunden später erneut geschlagen wurden, waren weitere dreißig Minuten vergangen. Ich saß über eineinhalb Stunden, ohne mich auch nur ein paar Zentimeter zu bewegen. Ich hatte mich zu dem Empfinden von Unendlichkeit hinbewegt.

Selbstloses Gewahrsein

Im Retreat nannten sie diesen Zustand des „Nicht-Ich“ eine Form von wahllosem Gewahrsein. Es fühlte sich meinem Erleben nach eher wie ein selbstloses Gewahrsein an, in dem Erfahrungen ausnahmslos Geschehnisse waren, jene Präsenspartizipien, über die Jon Kabat-Zinn spricht, die einfach „passieren“, im Sein begriffen sind, am Auftauchen sind. „Dieses Menschsein“ fühlte sich in diesem Raum tatsächlich wie ein Gasthaus an, in das ich all das einladen konnte, aufzutauchen, wie es wollte – alles war willkommen, jedes mit seiner eigenen wundersamen Struktur, sogar die Sorgen.

Nach dem Sitzen und dem Frühstück stellte ich fest, dass ich mir für den Rest des Tages meiner Gedanken bewusst war: konstruierter Konzepte und logischer Ausflüge in den Unterschied zwischen Beobachterstrom und diesem selbstlosen oder wahllosen Gewahrsein. Ich spielte mit dem Rad des Bewusstseins, probierte verschiedene Formen aus, in denen die Radnabe durch konzentrische Kreise von Empfindung, Beobachtung, Konstruktion und vielleicht auch durch dieses nichtbegriffliche Wissen erzeugt wurde, das die Nabe des Geistes, unseren reflektiven Zustand achtsamen Gewahrseins, umkreist (siehe Abbildung 4.3). War diese rezeptive Dimension des achtsamen Gewahrseins dasselbe wie das selbstlose Gewahrsein? War Wahllosigkeit tatsächlich eine aktive Form des Rezeptivseins? Ließ die Distanz zwischen Beobachter und Beobachtung mit der Linse der Beobachtung diese geräumige Freiheit zu, in der sich eine Wahl und die Entkopplung von den Automatismen einstellen konnten? Was für ein Haufen begrifflichen Denkens!

Die neurologischen Aspekte dieses ganzen Rahmenwerks wurden als Bilder in meinem Kopf registriert, nicht nur als Worte, sondern als anschauliche Bilder. Meine linken und meine rechten Kortices erlebten eine Glanzzeit. Ich konnte sehen, wie die mittleren Präfrontalregionen den Fluss nach unten blockierten, um sich auf die Empfindungen konzentrieren zu können. Das fühlte sich so an, als könnte ich im Tal des gegenwärtigen Moments vom Fluss des Bewusstseins aus stromaufwärts wandern, um in den Oberlauf der Empfindung zu gelangen (Abbildung 4.1).

Ich konnte auch in den konstruierten begrifflichen Strom eintauchen, mir der Gedanken und der Bilder bewusst sein, aus denen mein innerer Dialog und meine visuelle Kunstfertigkeit bestanden, und die extrapolierte begriffliche Welt erforschen. Dieser Strom konnte direkt gespürt werden, über den siebten Sinn, aber er hat eine andere Bewusstseinsqualität, eine andere Struktur, die sich zwar sehr real, aber wild verschlungen anfühlt und sich voller Assoziationen gerade über den Rand der Talwand bewegt.

Trat ich einen Schritt von den Strömen der Empfindung und konstruktiven Konzepte zurück, dann war ich am Beobachten und nahm die Haltung eines Erzählers des Moments ein. Ich dachte an einen jugendlichen Patienten, den ich behandle und bei dem ich Praktiken des achtsamen Gewahrseins einsetze. Dieser Patient ist bisher in der Lage, seine depressiven Symptome signifikant zu verringern und eine medikamentöse Behandlung zu vermeiden. Handelt es sich dabei um das Wachstum seiner Beobachterfunktion oder sein selbstloses Gewahrsein? In meinem Beobachterstrom fühlte es sich so an, als sei es diese kraftvolle Form der Distanzierung und Selbstbeobachtung statt einer Form von Gewahrsein, der es an einem Selbstgefühl mangelt. Als ich das später mit unserem Lehrer besprach, da schien es ihm ebenfalls so, dass die Entwicklung des Gewahrseins in Form eines Beobachters oder Zeugen tatsächlich eine wesentliche Quelle der Erleichterung für Menschen mit Stimmungsstörungen ist, die das Achtsamkeitstraining erlernen. Der achtsamkeitsbasierte kognitive Therapieansatz (MBCT) nutzt dies auf sehr wirksame Weise, um Rückfälle bei chronisch Depressiven zu verhindern (Segal, Williams & Teasdale 2002).

Irgendwie war das beruhigend: Die Beobachtungsgabe zu stärken scheint sehr viel direkter zu sein, als dem durchschnittlichen Anfänger in diese Welt des achtsamen Gewahrseins hineinzuhelfen, um sich in der Annahme selbstlosen Empfindens zu üben. Es ist einfach ein bisschen viel, Menschen darum zu bitten, oder es auch nur begrifflich zu erfassen, zumindest am Anfang. „Würden Sie gerne in eine Erfahrung hineinspringen, bei der das Selbstgefühl, durch das Sie sich definieren, transformiert wird?“ Wahrscheinlich nicht.

Zurück in der Stille stellte ich fest, dass ich die Intimität mit meinem eigenen Geist genoss. Ich weiß, dass dies erst mein zweiter Retreat gewesen ist, aber ich konnte die Verlockung spüren, die Zeit zu haben, das eigene Selbst wirklich kennen zu lernen.

Zeit, sich einzustimmen

Eine faszinierende Veränderung vollzog sich. Dieses Mal konnte der Beobachter jenes Gewahrsein vertiefen, ohne mit der unmittelbaren Empfindung zu kämpfen, wie sie mich beim ersten Retreat gequält hatte. Das schien Wachstum zu sein. Der Tag schritt voran und bei der Abendmeditation gab ich mir schließlich die Erlaubnis, mich zu amüsieren: Ich dachte, ich fühlte und ich hieß alles willkommen, was auftauchte, während ich meinen Geist erforschte. Ich begann mit meinem Körper. Ich bemerkte eine Schwere in der Brust und beschloss, ihr mit Wissbegierde, Energie und Neugier zu folgen. Ich wollte für alles offen sein, was auftauchte, und nahm das andere Trio – Konzentration, Ruhe und Gleichmut – als meine Leitprinzipien auf. Das sind die letzten drei der sieben Elemente eines erwachenden Geistes, die uns im ersten Retreat vermittelt worden waren. Zu diesen gehören auch die ersten vier: Achtsamkeit, Erforschung, Energie und Glückseligkeit angesichts der Entdeckung.

Ich ließ mich die Schwere in meiner Brust unmittelbar fühlen, statt sie nur zu beobachten. Ich tauchte in den Strom der Empfindungen ein und stellte fest, dass sich mein Gesicht schwer anfühlte. Tränen begannen sich in meinen Augen zu sammeln, und plötzlich, vielleicht auch allmählich – es war schwer, die Geschwindigkeit zu bestimmen –, verspürte ich Bauchschmerzen. Dann begann ich zu schluchzen. Ich ließ das Schluchzen da sein, es beobachtend, es fühlend und darauf neugierig seiend. Ich durchsuchte meinen Geist und nahm die Empfindungen auf, um Bilder, Gefühle und Gedanken zu erforschen. Ein Bild meiner Mutter kam mir in den Sinn, und es stellte sich ein Gefühl von Angst und Traurigkeit zugleich ein. Der Gedanke an ihre bevorstehende Operation in der Woche darauf, die Gefühle von ihr als Mutter, als ich noch ein Kind war, und die möglichen Komplikationen ihrer Operation gingen mir durch den Kopf, während sich das Schluchzen in ein Starren in den leeren Raum verwandelte.

Ich folgte dem Gedanken an meine Mutter und fasste die klare Intention, tief in das hineinzugehen, was dies für mich zu dieser Zeit bedeutete. Ein Bild von meiner Mutter und mir – eine Erinnerung an einen Schnappschuss – trat in den Vordergrund. Ich begann, noch stärker zu schluchzen. All die Nähe, all die Distanz, die Probleme und die Sorgen, und jetzt, wo ich erwachsen war, blieben die Sehnsüchte meiner Vergangenheit, die mein Empfinden, mein nichtbegriffliches Wissen ausmachten. Ich fühlte sie einfach und kannte sie – nicht nur als Empfindungen, sondern als eine Verschmelzung von Spüren, Beobachtung und Gedanken, die all ihrer begrifflichen Ursprünge beraubt waren und einfach einen klaren Weg beschrieben, um eine Essenz in mir zu kennen. Ich sagte mir, dass ich bereit sein müsse, mich von ihr zu verabschieden, falls es Komplikationen bei der Operation gab. Also traf ich die Entscheidung, sie vor jenem Tag zu besuchen und während der Operation bei meinem Vater zu sein.

Mit dem Fortsetzen der Gehmeditation verebbte das Schluchzen; mein Körper fühlte sich leicht an, die Schwere in der Brust wich einer Leichtigkeit des Seins, einem tiefen Atem, einer Freiheit in meinem Bauch. Ich würde diese Phase wach angehen und bereit sein, für das, was auftauchte, vollkommen präsent zu sein.

Ich weiß nicht, wie das selbstlose Gewahrsein mit dem nichtbegrifflichen Wissen zusammenhängt. Sie fühlen sich unterschiedlich an – hier „weiß“ ich etwas über die Gesamtvorstellung von meiner Mutter, die Kümmernisse der Liebe und die Traurigkeit des Lebens und des Todes.

Aber sehen Sie sich diesen Satz mit einem „ich weiß“ unmittelbar dahinter an. Im wahllosen Zustand des selbstlosen Gewahrseins ist das Gefühl anders. Da gibt es einen zutiefst friedvollen, passiven Zustand des Schwebens, in dem das „Sich-gewahr-Sein“ wie die Wolken am Himmel ist, die ohne einen Anker existieren oder verschwinden. Im nichtbegrifflichen Wissen gibt es ganz eindeutig ein „Ich“, das weiß. Und daran ist die Vorstellung geknüpft: All das ist „real.“ Es gibt kein „besser“, wenn man sein Selbstgefühl verliert, wenn man Identität und Ego umgeht, als einen Ort des „Ich“ zu haben, jenes verortete Paket, welches das „Ich“ und das „Mein“ erschafft. Alle sind gut, alle sind in Balance.

Und so blieb in jenem Moment ein köstliches Empfinden der vier Ströme des Gewahrseins übrig, die den Fluss des Bewusstseins speisen. Jeder dieser vier umgibt vielleicht die Nabe des Bewusstseinsrads und filtert und kanalisiert unser Erleben des Jetzt (vergleiche Abbildung 4.2). Selbst in der reinen Rezeptivität, so stelle ich mir vor, können wir einen der vier Ströme als den vorherrschenden spüren. Und bei jenen Gelegenheiten, wo es klar wird, ist sogar eine Rezeptivität, die kein Selbst hat, de facto Teil unserer Erfahrung. Der Wissende, das Wissen und das Gewusste werden in jenem „transpirationalen“ Zustand eins: Wir atmen durch alle Dimensionen Leben ein; wir integrieren eine tiefe Empfindung der Verbundenheit von allem. Dieses Gefühl der Zugehörigkeit bleibt im Hintergrund der Potenziale, es nährt die Leichtigkeit unseres Seins, die „Flaumigkeit“ der Wolken, die wir als Erfahrung des „Selbst“ bezeichnen. Wir müssen unser körperlich definiertes Selbst nicht so ernst nehmen, aber wir können alles in uns aufnehmen, jeden süßen Moment lang.

Siebzig Mal flüstern

Nachdem wir aus sechsunddreissig Stunden Stille aufgetaucht waren, begannen wir damit, einem Partner über unsere Erfahrungen zu berichten. Ich begann mit „Ich heiße Dan“, und sie sagte, „mein Name ist Barbara“, und so begannen wir unsere Rückkehr in die Welt der persönlichen Identität. Siebzig von uns flüsterten gleichzeitig: Die eine Hälfte jeder Dyade, die ihre Geschichten erzählte und alles tat, um die nonverbale Welt in das begrenzte Medium der Sprache zu übersetzen.

An jenem Morgen machten wir eine Reihe von Gruppenübungen, die irgendwie mit dieser ganzen Diskussion zu tun hatten, den Geist des Gewahrseins zu verkörpern. Zuerst gingen alle einhundertundvierzig Teilnehmer schnell und mit willkürlichen Bewegungen. Es war erstaunlich, festzustellen, dass wir nicht zusammenstießen. Die Räume zwischen uns formten unsere Erfahrung, wie die Räume zwischen Musiknoten den Unterschied zwischen Jazz und Rock, Klassik und Ramsch ausmachen. Die nächste Übung bestand darin, langsam rückwärts zu gehen. Jedes Mal, wenn wir eine andere Person berührten, sollten wir uns einen kurzen Moment an sie lehnen und dann weitergehen. Wie bei unseren diskursiven, narrativen Gedanken während der ersten Erfahrung gab es auch hier ein Empfinden, dass Ströme des Gewahrseins kollidierten. Schließlich wandten wir uns nach außen, mit dem Rücken zum geometrischen Mittelpunkt gewandt, und gingen dann alle langsam rückwärts in den Raum. Am Ende waren wir natürlich alle im Zentrum zusammengepfercht, wie in einem Bienenstock, und lehnten uns nach innen, von anderen umgeben, um nirgendwo zu sein als dort. Ich war traurig, als wir uns voneinander trennen mussten. Mir wurde die gegenseitige Verbundenheit bewusst und die Art und Weise, wie wir lernen, als getrennte Wesen zu leben. Die optische Täuschung unserer Getrenntheit, wie Einstein sie so passend genannt hat. Diese Täuschung schien hier wegzuschmelzen, und ich sehnte mich nach der Realität unserer Ganzheit.

Das achtsame Gehirn

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