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Achtsames Gewahrsein
Sich der Fülle unserer Erfahrungen gewahr zu sein lässt uns für die geistige Welt in unserem Inneren wach werden, und wir tauchen vollständig in unser Leben ein. In diesem Buch geht es darum, wie die Art und Weise, wie wir im gegenwärtigen Moment aufmerksam sind, das Funktionieren von Körper und Gehirn, unser subjektives psychisches Erleben, einschließlich unserer Gefühle und Gedanken, sowie unsere zwischenmenschlichen Beziehungen unmittelbar verbessern kann.
Wir gehen davon aus, dass sich diese uralte, nützliche Form des Gewahrseins den sozialen Schaltkreis im Gehirn zunutze machen kann, damit wir mit seiner Hilfe eine „eingestimmte“ Beziehung in unserem eigenen Geist entwickeln können. Zur Prüfung dieser Annahme werden wir uns den Forschungen über unser soziales Leben zuwenden; wir werden bestimmte Regionen im Gehirn (einschließlich des Spiegelneuronensystems und der damit zusammenhängenden Schaltkreise) untersuchen, die an dieser Einstimmung beteiligt und möglicherweise aktiv sein könnten, wenn wir mit unseren intentionalen Einstellungen in Resonanz sind.
Der Begriff achtsames Gehirn wird in diesem Ansatz verwendet, um die Vorstellung auszudrücken, dass unser Gewahrsein, unser achtsames „Aufmerksamkeit-Schenken“ oder „Uns-um-etwas-Kümmern“ eng mit der Beziehung zwischen unserem Geist und unserem Gehirn verbunden ist. Der Achtsamkeitsbegriff, den wir hier erforschen werden, umschließt eine ganze Reihe von Definitionen, von üblichen Alltagsvorstellungen wie „etwas im Gedächtnis behalten“ oder „die Neigung haben, gewahr zu sein“ bis hin zu den spezifischen pädagogischen, klinischen und wissenschaftlichen Definitionen. Vor dem Hintergrund dieser breiten allgemeinen und gebräuchlichen Definition werde ich einen Überblick über die neuen wissenschaftlichen Entwicklungen geben, die sich hinsichtlich der spezifischeren Formen der Achtsamkeit und eigener subjektiver Augenblickserfahrung ergeben haben.
Den Geist in unserem Alltagsleben finden
Seit Mitte der achtziger Jahre ist der „Achtsamkeit“ in der westlichen Welt zunehmend mehr Aufmerksamkeit geschenkt worden. Diese hat sich in erster Linie auf verschiedene Dimensionen des Alltagslebens gerichtet, angefangen bei unserem persönlichen Leben bis hin zu den Erfahrungen von Kindern in der Schule und von Patienten in der Therapie. Das geschäftige Leben, das Menschen in einer technologiegesteuerten, die Aufmerksamkeit aufzehrenden Kultur führen, produziert häufig eine nahezu irrsinnige Aktivität, bei der Menschen mehrere Aufgaben gleichzeitig zu erledigen versuchen und ständig dabei sind, etwas zu tun, ohne Raum zu haben, um durchzuatmen und einfach zu sein. Die Anpassung an eine solche Lebensweise führt dazu, dass sich Jugendliche in vielen Fällen an ein hohes Maß reizgebundener Aufmerksamkeit gewöhnen und von einer Aktivität zur nächsten hecheln. Auf der anderen Seite haben sie nur wenig Zeit für Selbstreflektion* oder für die direkte zwischenmenschliche Beziehung von Angesicht zu Angesicht, die das Gehirn braucht, um sich angemessen zu entwickeln. In unserem hektischen Leben gibt es heutzutage nur wenige Möglichkeiten, um sich aufeinander einzustimmen.
Viele Menschen empfinden diesen „gesellschaftlichen Wirbelsturm“ als persönlich zutiefst unbefriedigend. Wir können uns anpassen, auf den Druck, etwas tun zu müssen, reagieren, doch häufig können wir uns in einer so frenetischen Welt nicht entfalten. Auf der persönlichen Ebene brennen Menschen in modernen Kulturen häufig darauf, eine neue Seinsweise zu erlernen, die ihnen helfen kann, aufzublühen. Die Achtsamkeit in ihrer allgemeinsten Form bietet einen Weg des Gewahrseins an, der der Beginn eines vitaleren Lebens sein kann: Wir werden auf uns selbst eingestimmt.
In einem Buchbeitrag führt Paul Grossman (im Druck) aus, dass „der umgangssprachliche Gebrauch des Begriffs ‚Achtsamkeit‘ häufig die Konnotation des Achtens, Aufpassens oder Eingedenkseins in einem eindeutig bewertenden Kontext hat: Ein Vater oder eine Mutter sagt zum Kind: ‚Achte auf dein Benehmen‘ oder ‚pass auf, was du sagst‘, was impliziert, darauf zu achten, dass man sich auf eine Weise verhält, wie sie von der Kultur vorgeschrieben wird. ‚Er achtete auf die schlechten Straßenbedingungen und fuhr deshalb langsam‘ – ‚Was ist denn der Mensch, dass du seiner gedenkst…?‘ (Psalmen, 8.5) – ‚Ich verspreche, auf deine Ermahnungen zu achten‘ – ‚Er achtete immer auf seine Verantwortung als Familienvater‘. All diese Formulierungen spiegeln wider, dass die Betonung des Begriffs ‚Achtsamkeit‘ darauf liegt, dass man einer Sache genaue Beachtung schenken sollte, um sich nicht mit den Folgen unachtsamen Verhaltens auseinander setzen zu müssen.“
Den Geist definieren
Eine nützliche und von Wissenschaftlern verschiedener Disziplinen befürwortete Definition des Geistes lautet: „ein Prozess, der den Fluss von Energie und Informationen regelt“.
Unser menschlicher Geist ist sowohl verkörpert, in dem Sinne, dass er einen Fluss von Energie und Informationen beinhaltet, der sich innerhalb des Körpers und des Gehirns vollzieht, als auch relational (beziehungsbezogen), womit jene Dimension des Geistes angesprochen wird, die sich auf den Fluss von Energie und Informationen zwischen Menschen bezieht – zum Beispiel diejenige vom Autor zu seinen Lesern. Jetzt im Augenblick formt dieser Fluss von mir zu Ihnen, während ich diese Worte an Sie schreibe und Sie sie lesen, unseren jeweiligen Geist, Ihren und meinen. Selbst während ich mir vorstelle, wer Sie sein könnten und wie Ihre Reaktion möglicherweise aussehen könnte, verändere ich den Energie- und Informationsfluss in meinem Gehirn und meinem Körper als Gesamtsystem. Und indem Sie diese Worte in sich aufnehmen, verkörpert Ihr Geist diesen Energie- und Informationsfluss ebenfalls.
Achtsam sein
Bei Achtsamkeit in ihrem allgemeinsten Sinne geht es darum, aus einem Leben, das sozusagen auf Automatik geschaltet war, aufzuwachen und für den Reiz des Neuen in unseren Alltagserfahrungen empfänglich zu werden. Durch das achtsame Gewahrsein dringt der Energie- und Informationsfluss, der unser Geist ist, in unsere bewusste Aufmerksamkeit ein, und wir können auf der einen Seite seinen Inhalt würdigen und auf der anderen lernen, seinen Fluss auf neue Weise zu regulieren. Wie wir sehen werden, beinhaltet achtsames Gewahrsein mehr als das einfache Gewahrsein: Es beinhaltet, sich gewisser Aspekte des Geistes selbst gewahr zu sein. Statt auf Automatik geschaltet und achtlos zu sein, hilft uns die Achtsamkeit, aufzuwachen. Indem wir über den Geist reflektieren, werden wir in die Lage versetzt, Entscheidungen zu treffen, und so werden Veränderungen möglich.
Die Art und Weise, wie wir unsere Aufmerksamkeit fokussieren, hilft uns unmittelbar dabei, den Geist zu formen. Wenn wir eine bestimmte Form von Aufmerksamkeit für unsere Hier-und-Jetzt-Erfahrungen und das Wesen unseres Geistes entwickeln, schaffen wir diese spezielle Form von Gewahrsein und Achtsamkeit, die das Thema dieses Buches ist.
Einige Vorteile
Studien haben gezeigt, dass spezifische Anwendungen des achtsamen Gewahrseins die Fähigkeit verbessern, Emotionen zu regulieren, emotionale Fehlfunktionen zu bekämpfen, Denkgewohnheiten zu verbessern und negative Denkweisen zu reduzieren.
Bei Untersuchungen, die die Praktiken des achtsamen Gewahrseins zum Gegenstand hatten, hat sich gezeigt, dass solche Praktiken das Funktionieren des Körpers entscheidend verbessern. Durch Achtsamkeit verbessern sich die Heilungschancen, die Immunabwehr und die Reaktionen auf Stress; darüber hinaus wird ein allgemeines Gefühl physischen Wohlbefindens erzielt (Davidson, Kabat-Zinn, Schumacher, Rosenkranz, Muller et al. 2003). Unsere Beziehungen zu anderen Menschen verbessern sich ebenfalls, weil sich die Fähigkeit, nonverbale emotionale Signale von anderen wahrzunehmen, genauso erhöht wie unsere Fähigkeit, das Innenleben unserer Mitmenschen wahrzunehmen (siehe Anhang III, Beziehungen und Achtsamkeit). Auf diese Weise lernen wir, an den Gefühlen anderer Menschen Anteil zu nehmen, sie nachzuempfinden und ihren Standpunkt zu verstehen.
Wir können sehen, wie die Kraft achtsamen Gewahrseins diese zahlreichen und unterschiedlichen positiven Veränderungen in unserem Leben bewirkt, wenn wir uns vergegenwärtigen, dass diese Form des Gewahrseins aller Wahrscheinlichkeit nach unmittelbaren Einfluss auf die Aktivität und das Wachstum derjenigen Gehirnregionen ausübt, die für unsere Beziehungen, unser emotionales Leben und unsere physiologische Reaktion auf Stress verantwortlich sind.
Achtsamkeit beim Lernen und im Bildungswesen
Über solche persönlichen und gesundheitlichen Vorteile der Achtsamkeit hinaus hat Ellen Langer (1989, 1997, 2000) das Konzept des „achtsamen Lernens“ entwickelt – eine Herangehensweise, die das Lernen nachweislich effektiver, unterhaltsamer und anregender macht. Der Kern dieses Ansatzes besteht darin, Lernmaterial in Gestalt möglicher Konzepte anzubieten und nicht als Konvolut absoluter Wahrheiten. In dieser Situation muss der Lernende seinen „Geist offen halten“, mit anderen Worten, er muss Unvoreingenommenheit bewahren in Bezug auf die Zusammenhänge, in denen diese neuen Informationen nützlich sein könnten. Die aktive Einbeziehung des Lernenden in den Bildungs- und Erziehungsprozess wird auch dadurch erreicht, dass man Schüler oder Studenten die grundsätzliche Überlegung anstellen lässt, wie ihre eigene Einstellung die Richtung des Lernens bestimmen wird. Durch diese Form der Achtsamkeit nimmt der Lernende aktiv am Lernprozess teil. Langer geht davon aus, dass es beim Erlernen von Konzepten in der Möglichkeitsform darum geht, uns in einem gesunden Zustand der Unsicherheit zu belassen, der dazu führen wird, dass wir aktiv neue Dinge wahrnehmen.
Der Pädagoge Robert J. Sternberg hat die Achtsamkeit im Erziehungs- und Bildungswesen als etwas angesehen, das einem kognitiven Stil vergleichbar ist (2000). Forschungsarbeiten zum achtsamen Lernen (Langer 1989) deuten an, dass es auf der Offenheit für Neues ebenso beruht wie auf der Aufmerksamkeit für Unterschiede, auf der Sensibilität für unterschiedliche Kontexte, auf dem Bewusstsein multipler Perspektiven und auf der Orientierung an der Gegenwart. Diese Dimensionen von Achtsamkeit innerhalb eines pädagogischen Szenarios in Betracht zu ziehen könnte es Schülern ermöglichen, ihr Lernverhalten während ihrer ganzen, ein Leben lang andauernden Laufbahn als Lernende zu vertiefen und zu erweitern. Die Lehrer können Ausdrücke wie „vielleicht“, „es könnte sein“ oder „manchmal“ anstelle von „ist“ verwenden, um so einen gesunden Respekt vor Unsicherheit zu kultivieren. (Weiteres zur Rolle der Achtsamkeit in Bildung und Erziehung in Kapitel 12.)
Langer selbst (1989) hat darauf hingewiesen, dass wir vorsichtig damit sein sollten, anzunehmen, dass ihr Achtsamkeitskonzept mit dem historischen und modernen Gebrauch jenes Begriffs in den kontemplativen Praktiken gleichzusetzen sei. Bis auf weiteres werden wir den Zusatz „achtsames Lernen“ verwenden, wenn wir uns auf Langers wichtige Begriffsbildungen in dem Sinne beziehen, wie sich der Geist aus voreiligen Schlussfolgerungen, Kategorisierungen und eingeschliffenen Wahrnehmungs- und Denkgewohnheiten zu befreien scheint. Wenn wir uns einer Sache sicher sind, so Langer, „dann haben wir nicht das Bedürfnis, Acht geben zu müssen. Wenn man bedenkt, dass sich die Welt um uns herum in ständigem Fluss befindet, dann ist unsere Gewissheit eine Illusion“ (Langer im August 2006 in einer persönlichen Mitteilung). Letzten Endes ist diese Form der Achtsamkeit eine flexible Geistesverfassung, in der wir aktiv neue Dinge wahrnehmen, für den Kontext sensibel sind und uns auf die Gegenwart einlassen.
Es ist mir nicht gelungen, formale Studien zu finden, in denen ein Vergleich gezogen wurde zwischen dem achtsamen Lernen mit seiner zielorientierten pädagogischen Komponente und der wesentlich älteren kontemplativen Form, die wir „reflektive Achtsamkeit“ nennen werden. Diese reflektive Form der Achtsamkeit – die wir hier im Text auch als „achtsames Gewahrsein“ oder einfach als „Achtsamkeit“ bezeichnen – wird jetzt intensiv erforscht. Neuere Forschungsergebnisse dazu werden in den nachfolgenden Kapiteln erörtert.
Wenn es gelingt, Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen diesen zwei Verwendungsformen des Begriffs Achtsamkeit festzustellen, könnte uns das helfen, das tiefere Wesen jeder der beiden Formen zu erhellen. Interessanterweise haben Forschungen ergeben, dass beide Formen unabhängig voneinander mit positiven Veränderungen im Leben eines Menschen in Verbindung gebracht werden – etwa einem erhöhten Lustgefühl, innerem Gewahrsein und physiologischer Gesundheit –, obwohl diese positiven Ergebnisse durch verschiedene Mittel erreicht werden. In diesem Buch werden wir die möglichen neuronalen Mechanismen erforschen, die diesen beiden wichtigen, wenn auch, oberflächlich gesehen, unterschiedlichen Dimensionen in Bezug darauf zugrunde liegen, wie wir unseren Geist im Moment formen.
Achtsames Gewahrsein
Unmittelbares Erleben im gegenwärtigen Moment ist als grundlegender Bestandteil der buddhistischen, christlichen, hinduistischen, islamischen, jüdischen und taoistischen Lehre beschrieben worden (Armstrong 1993; Goleman 1988). In diesen religiösen Traditionen, vom mystischen Christentum mit seinem kontemplativen Gebet (centering prayer) (Fitzpatrick-Hopler 2006; Keating 2005) bis hin zur buddhistischen Achtsamkeitsmeditation (Kornfield 1993; Thich Nhat Hanh 1991; Wallace 2006), sieht man, dass die Vorstellung davon, sich des gegenwärtigen Moments bewusst zu sein, in einem anderen Sinne gebraucht wird, als es beim kognitiven Aspekt der Achtsamkeit der Fall ist.
Viele Formen des Gebets aus verschiedenen Traditionen erfordern es, dass der Mensch innehält und an einem willentlichen Prozess teilhat, bei dem es darum geht, sich mit einer Geistesverfassung oder einer Wesenheit außerhalb der alltäglichen Seinsweise zu verbinden. Es ist nachgewiesen worden, dass das Beten und die Zugehörigkeit zu einer Religion allgemein mit längerer Lebensdauer und größerem Wohlbefinden in Verbindung stehen (Pargament 1997). Die übliche Überschneidung von Gruppenzugehörigkeit und Gebet macht es schwer, den inneren von dem zwischenmenschlichen Prozess zu trennen, doch vielleicht würden wir feststellen, dass es genau darum geht: dass das Innehalten, um achtsam zu werden, tatsächlich mit einem inneren Gefühl von Zugehörigkeit einhergehen könnte.
Die klinische Anwendung der Achtsamkeitsmeditation, die aus der buddhistischen Tradition abgeleitet worden ist, hat als Fokus für ein intensives Studium der möglichen neuronalen Entsprechungen des achtsamen Gewahrseins gedient. Hier sehen wir die Benutzung des Begriffs Achtsamkeit auf eine Weise, die zahlreiche Forscher klar und deutlich zu definieren versucht haben (Baer, Smith, Hopkins, Krietemeyer & Toney 2006; Bishop, Lau, Shapiro, Carlson, Anderson, Carmody et al. 2004). Diese Studien, die in den verschiedensten klinischen Situationen durchgeführt worden sind – von physischen, mit chronischen Schmerzen einhergehenden Krankheiten bis hin zu psychiatrischen Populationen mit Stimmungs- und Angststörungen, haben gezeigt, dass die effektive Anwendung weltlicher Achtsamkeitsmeditationsfertigkeiten jenseits von irgendeiner religiösen Praxis oder Gruppenzugehörigkeit gelehrt werden kann.
Vielfach sehen Gelehrte die 2500 Jahre alte Praxis des Buddhismus eher als eine Möglichkeit an, das Wesen des Geistes selbst zu untersuchen (Germer, Siegel & Fulton 2005; Lutz, Dunne & Davidson, im Druck; Epstein 1995; Waldon 2006), denn als theistische Tradition. „Frühbuddhistische Texte zu lesen wird den Kliniker davon überzeugen, dass Buddha im Wesentlichen Psychologe war“ (Germer 2005, S. 13). Es ist möglich, eine vom Buddhismus abgeleitete Meditation zu praktizieren und sich aus dieser Perspektive beispielsweise Aspekten der psychologischen Sichtweise des Geistes zu widmen und gleichzeitig seine Überzeugungen beizubehalten und Angehöriger einer anderen religiösen Tradition zu sein. In der kontemplativen Achtsamkeitspraxis fokussiert man den Geist auf spezifische Art und Weise, um eine rigorosere Form des Gewahrseins im gegenwärtigen Moment zu entwickeln, die das Leiden, das man in seinem Leben erfährt, unmittelbar zu lindern vermag.
Jon Kabat-Zinn hat sein Arbeitsleben der Aufgabe gewidmet, Achtsamkeit in der modernen Medizin fest zu etablieren. Kabat-Zinns Ansicht nach ist „eine einsatzfähige Arbeitsdefinition von Achtsamkeit: das Bewusstsein, das dadurch auftaucht, dass man mit Absicht, im gegenwärtigen Moment und ohne zu urteilen, dem Sichentfalten von Erfahrungen von Moment zu Moment Aufmerksamkeit schenkt“ (Kabat-Zinn 2003, S. 145–146). Diese nicht urteilende Sichtweise kann häufig im Sinne eines „Nicht-an-Urteilen-Festhaltens“ interpretiert werden, da der Geist sich ständig Reaktionen einfallen lässt, die bewertend und reaktiv sind. In der Lage zu sein, diese Urteile zur Kenntnis zu nehmen und sich von ihnen zu lösen – so könnte sich nicht urteilendes Verhalten in der Praxis anfühlen. „Mit Absicht“ impliziert, dass dieser Zustand mit der Intention herbeigeführt wird, sich auf den gegenwärtigen Moment zu konzentrieren. Das InnerKidsProgramm, das darauf ausgerichtet ist, kleinen Kindern grundlegende Achtsamkeitskompetenzen zu vermitteln, definiert Achtsamkeit als „sich dessen bewusst sein, was geschieht, während es geschieht“ (Kaiser Greenland, 2006a).
Kabat-Zinn (2003) hat des Weiteren darauf hingewiesen, dass die buddhistischen Ursprünge dieser Sichtweise von Achtsamkeit und der natürlichen Gesetze des Geistes
eine kohärente phänomenologische Beschreibung der Natur des Geistes, der Emotionen und des Leidens und ihrer potenziellen Befreiung offenbaren, basierend auf höchst verfeinerten Praktiken, die darauf abzielen, verschiedene Aspekte des Geistes und des Herzens mittels der Fähigkeit der achtsamen Aufmerksamkeit (die Begriffe für Geist und Herz sind in asiatischen Sprachen identisch; folglich schließt „Achtsamkeit“ eine liebevolle, mitfühlende Qualität innerhalb des Aufmerksamseins ein, ebenso wie ein Gefühl von offenherziger, freundlicher Präsenz und von Interesse) systematisch zu trainieren und zu kultivieren. Und Achtsamkeit, so sollte ebenfalls zur Kenntnis genommen werden, ist, da es hier um Aufmerksamkeit geht, notwendigerweise auch universell. Es gibt nichts speziell Buddhistisches daran. Wir alle sind von Moment zu Moment mehr oder weniger achtsam. Es handelt sich dabei um eine dem Menschen angeborene Fähigkeit. Der Beitrag der buddhistischen Tradition hat teilweise darin bestanden, einfache und effektive Wege, diese Fähigkeit zu kultivieren und zu verfeinern, herauszustellen und sie in alle Aspekte des Lebens einzubringen. (S. 145–146)
Letzten Endes befähigen Praktiken, durch die achtsame Seinsweisen entwickelt werden, den Menschen dazu, das tiefere Wesen der Funktionsweisen des Geistes wahrzunehmen. Es gibt viele Möglichkeiten, um achtsames Gewahrsein zu entwickeln. Durch jede von ihnen entwickelt sich ein Bewusstsein von den Fähigkeiten des Geistes, etwa wie wir denken, wie wir fühlen und auf Reize reagieren. Die Achtsamkeitsmeditation, als ein Beispiel, wird als besonders wichtig angesehen, um die Aufmerksamkeit zu trainieren und eine strikte Identifikation mit den Aktivitäten des Geistes als ausschließlicher Identität des Individuums loszulassen. Eine Form, um das Bewusstsein des Geistes von sich selbst zu kultivieren, ist aus dem traditionellen buddhistischen Vipassana-Ansatz, mit anderen Worten der Einsichtsmeditation (Kornfield 1993) abgeleitet, die wir eingehend in Teil II erforschen werden.
Praktiken des achtsamen Gewahrseins (mindful awareness practices, kurz MAPs), wie wir sie am Mindful Awareness Research Center an der Universität Kalifornien in Los Angeles (siehe Anhang I) nennen, sind bei einer ganzen Reihe menschlicher Aktivitäten zu finden. Historisch betrachtet sind verschiedene Praktiken über Tausende von Jahren in Form von Achtsamkeitsmeditation, Yoga, Tai-Chi-Chuan und Qigong entwickelt worden. Bei jeder dieser Aktivitäten fokussiert der Praktizierende seinen Geist auf eine sehr spezifische Weise auf das Erleben von Moment zu Moment.
Bei nahezu allen kontemplativen Praktiken wird zum Beispiel der Atem als Ausgangspunkt verwendet, auf den der Geist seine konzentrative Aufmerksamkeit richten soll. Da der Atem bei den verschiedensten kulturellen Praktiken auf diese Weise eingesetzt wird, werden wir die mögliche Aussagekraft des Atembewusstseins für die Gesamtprozesse des achtsamen Gehirns erörtern.
Moderne Anwendungen des allgemeinen Konzepts der Achtsamkeit bauen einerseits auf den traditionellen Meditationsfähigkeiten auf, andererseits haben sie eigenständige, nichtmeditative Ansätze für den Prozess des Achtsamseins entwickelt. Eine nützliche, elementare Sichtweise ist die, dass Achtsamkeit als etwas angesehen werden kann, das aus den wichtigen Dimensionen der Selbstregulation von Aufmerksamkeit und einer gewissen Orientierung auf die Erfahrung hin besteht, wie Bishop und seine Kollegen vorgeschlagen haben (Bishop et al. 2004): (1) „die Selbstregulation der Aufmerksamkeit, so dass sie beim unmittelbaren Erleben aufrechterhalten wird und auf diese Weise ein erhöhtes Erkennen der geistigen Geschehnisse im gegenwärtigen Moment erlaubt“; und (2) „ eine bestimmte Orientierung auf die eigenen Erfahrungen im gegenwärtigen Moment, eine Orientierung, die durch Neugierde, Offenheit und Akzeptanz gekennzeichnet ist“ (S. 232). Im dialektischen Verhaltenstherapieansatz (Dialectical Behavior Therapy) ist Achtsamkeit beschrieben worden als „(1) beobachten, zur Kenntnis nehmen, Gewahrsein einbringen, (2) beschreiben, benennen, zur Kenntnis nehmen und (3) teilnehmen. All das geschieht (1) ohne zu urteilen und mit Akzeptanz, (2) im gegenwärtigen Moment und (3) „auf effektive Weise“ (Dimidjian & Linehan 2003, S. 166). Shapiro, Carlson, Asten & Freedman (2006) haben die Mechanismen der Achtsamkeit ebenfalls beschrieben. Ihrer Meinung nach gehören dazu Intention, Aufmerksamkeit und eine Einstellung, dass alle zu einem Prozess beitragen, Dinge auf eine neue Weise zu sehen. Diesen Vorgang bezeichnen sie als „neu-wahrnehmen“ (re-perceiving). Diese und andere Autoren erkennen an, dass Achtsamkeit auch zu den allgemein bekannten Resultaten führen kann wie Geduld, Nichtreaktivität, Mitgefühl mit sich selbst und Weisheit. In der ACT-Therapie (Acceptance and Commitment Therapy) nach Hayes „kann Achtsamkeit als Sammlung verwandter Prozesse angesehen werden, die dahingehend wirken, dass sie die Dominanz verbaler Netzwerke untergraben, insbesondere derjenigen, die zeitliche und bewertende Beziehungen betreffen. Diese Prozesse schließen Akzeptanz, Entschärfung, Kontakt zum gegenwärtigen Moment und das transzendente Selbst-Empfinden ein“ (Fletcher & Hayes 2006, S. 315).
Eine zusammenfassende Studie aus zahlreichen bereits bestehenden Fragebögen zum Thema Achtsamkeit (Baer, Smith, Hopkins, Krietemeyer & Toney 2006) zeigt fünf Faktoren auf, die sich aus unabhängig voneinander erhobenen Stichproben zu clustern schienen: (1) Nichtreaktivität gegenüber inneren Erfahrungen (z. B. Gefühle und Emotionen wahrnehmen, ohne auf sie reagieren zu müssen); (2) Empfindungen, Gedanken und Gefühle beobachten / bemerken / sich darum kümmern (z. B. mit Empfindungen und Gefühlen präsent bleiben, selbst wenn sie unangenehm oder schmerzhaft sind); (3) mit Bewusstheit / (nicht) auf Autopilot handeln, Konzentration / Nichtablenkung (z. B. aufgrund von Achtlosigkeit, weil man nicht aufpasst oder an etwas anderes denkt, Dinge zerbrechen oder verschütten); (4) mit Worten beschreiben / benennen (sich z. B. leicht damit tun, Überzeugungen, Meinungen und Erwartungen in Worte zu fassen); (5) Nicht-Beurteilen von Erfahrungen (z. B. sich selbst dafür kritisieren, dass man irrationale oder unangemessene Emotionen hat).
Mit Ausnahme des Beobachtens wurde festgestellt, dass dies die in statistischer Hinsicht nützlichsten und verlässlichsten Konstrukte zur Betrachtung einer operationalen Definition von Achtsamkeit sind. Sie schienen vier Facetten von Achtsamkeit zu offenbaren, die relativ unabhängig voneinander waren. Das Beobachten als Achtsamkeitsfertigkeit wurde am durchgängigsten bei den Probanden (College-Studenten) nachgewiesen, die regelmäßig meditierten. Das Beobachten wurde als erlernbare Fähigkeit angesehen: Zukünftige Forschungen werden sie als unabhängigen Faktor bewerten müssen. Fürs Erste werden wir bei der Erforschung der Achtsamkeit und des Gehirns die fünf Faktoren erörtern, die Baer und seine Kollegen (2006) skizziert haben.
In dem wissenschaftlichen Bemühen, eine klare Definition für das achtsame Gewahrsein zu operationalisieren, wird an diesem Punkt der unkomplizierteste Ansatz derjenige sein, auf die angesammelte Weisheit der zahlreichen Praktizierenden und Erforscher dieser Disziplin zurückzugreifen. Dies wird unser Rahmen sein, um zu erforschen, auf welche Weise diese Art des achtsamen Gewahrseins den sozial-neuronalen Schaltkreis des Gehirns einbeziehen könnte, wenn Achtsamkeit durch eine Form der inneren Einstimmung gefördert wird.
Das Nachdenken über das Wesen der eigenen mentalen Prozesse ist eine Form von „Metakognition“, das Denken über das Denken im weitesten Sinne; wenn wir Metabewusstsein haben, dann deutet das auf ein Bewusstsein des Bewusstseins hin. Ob wir uns nun mit Yoga, kontemplativem Gebet, morgendlichem Sitzen und Spüren unseres Atems beschäftigen oder abends Tai-Chi machen, jede MAP entwickelt diese Fähigkeit, sich des Gewahrseins gewahr zu sein.
Das Gewahrsein des Gewahrseins ist ein Aspekt dessen, was wir als eine Form von Reflektion ansehen. Somit beinhaltet das achtsame Gewahrsein eine Reflektion über das innere Wesen des Lebens, über die Begebenheiten des Geistes, wie sie von Moment zu Moment auftauchen.
Das Leben auf Autopilot – Achtlosigkeit und Achtsamkeit
Der Unterschied zwischen „achtlosem“ und „achtsamem“ Joggen besteht darin, dass wir uns bei Letzterem in jedem Moment bewusst sind, was wir tun, während wir es tun. Wenn wir joggen und Tagträumen darüber nachhängen, was wir am Abend tun werden oder was gestern passiert ist, dann haben wir uns nicht auf ein achtsames Joggen eingelassen. Es ist nichts verkehrt daran, Tagträumen nachzuhängen und den Geist umherwandern zu lassen: Tatsächlich kann es, wie wir sehen werden, eine achtsame Praxis sein, mit Absicht das Bewusstsein auf das zu fokussieren, was auch immer aufsteigt, während es aufsteigt. Wenn wir die Absicht haben, unseren Geist zu Tagträumen zu befähigen, und wir uns unseres Gewahrseins unserer Vorstellungskraft bewusst sind, dann würde dies eine achtsame Träumerei sein, obwohl es vielleicht kein achtsames Joggen wäre, weil wir uns unserer Füße und des Weges vor uns nicht bewusst wären.
Stellen wir in diesem Zusammenhang einmal fest, dass wir häufig ein bestimmtes Verhalten an den Tag legen, wie zum Beispiel einen Weg hinunterzulaufen und uns dabei in Gedanken an etwas zu verlieren, das nichts mit dieser physischen Aktivität zu tun hat. Wir haben neuronale Schaltkreise, die dieses automatische Verhalten ständig ausführen und uns befähigen, mehrere Dinge zur selben Zeit zu tun, wie etwa zu joggen und gleichzeitig mit offenen Augen zu träumen. Glücklicherweise stolpern und fallen wir jedoch gewöhnlich nicht und haben auch keinen Unfall auf der Autobahn.
Für einige Menschen ist dieses „Leben im Autopilot-Modus“ ihre normale Lebensweise. Wenn unsere Aufmerksamkeit mit etwas anderem beschäftigt ist als mit dem, was wir die meiste Zeit unseres Lebens über tun, dann können wir uns leer und taub fühlen. Wenn das automatische Denken unser subjektives Gefühl von der Welt beherrscht, dann wird das Leben zur ständigen Wiederholung und langweilig und trostlos. Statt das Auftauchen eines Gefühls zu erleben, etwas Neues zu entdecken, so wie ein Kind, das die Welt zum ersten Mal wahrnimmt, fühlen wir uns innerlich abgetötet – „tot, bevor wir gestorben sind“. Im Autopilot-Modus zu leben bringt uns auch in die Gefahr, dass wir achtlos auf Situationen reagieren, dass wir über verschiedene Möglichkeiten der Erwiderung überhaupt nicht nachdenken. Das kann häufig zu spontanen und reflexartigen Reaktionen führen, die ihrerseits ähnlich achtlose Reflexe in anderen auslösen. Ein Wasserfall sich verstärkender achtloser Reaktionen kann eine Welt voll gedankenloser Interaktionen, Grausamkeit und Zerstörung schaffen.
Achtsam zu sein öffnet nicht nur die Tore dazu, sich des Moments stärker bewusst zu sein, sondern es bringt den Einzelnen auch einem tiefen Gefühl seiner inneren Welt näher und bietet ihm so die Möglichkeit zu mehr Mitgefühl und Empathie. Achtsamkeit ist keine „Genusssucht“, sondern sie besteht aus einer Reihe von Kompetenzen, die die Fähigkeit, liebevolle Beziehungen zu anderen einzugehen, verbessern.
Achtsamkeit erhöht die Fähigkeit, uns von den Gefühlen des Augenblicks ausfüllen zu lassen und uns auf unseren eigenen Seinszustand einzustimmen. Indem wir uns unseres Gewahrseins gewahr werden, können wir den Fokus schärfer auf die Gegenwart richten, was uns befähigt, unsere Füße zu spüren, während wir auf dem Pfad unseres Lebens wandern. Wir lassen uns auf uns selbst und andere ein und knüpfen eine authentischere Verbindung, mit mehr Reflektion und Rücksichtnahme. Das Leben wird umso stärker bereichert, je mehr wir uns der außerordentlichen Erfahrung des Seins, des Lebendigseins und des Lebens in diesem Moment bewusst werden.
COAL und freundliches Gewahrsein
Über dieses reflektive Gewahrsein des Gewahrseins im gegenwärtigen Moment hinaus hat Achtsamkeit die folgenden Qualitäten, die ich meinen Patienten und Studenten so beschreibe: Wir nähern uns unserer Hier-und-Jetzt-Erfahrung mit Neugier, Offenheit, Akzeptanz und Liebe, kurz: mit COAL (curiosity, openness, acceptance, love; siehe Anhang II).
Stellen Sie sich folgende Situation vor. Sagen wir, jemand stößt sich schlimm den Zeh an und spürt die Intensität des daraus resultierenden Schmerzes. Wenn man jetzt zu sich selbst sagt: „Was war ich für ein Idiot, dass ich mir den Zeh gestoßen habe!“, dann wird das erlebte mentale Leiden größer sein als der Schmerz, der von dem Zeh ausgeht. In jenem Fall ist man sich des Schmerzes bewusst, doch man ist nicht von der COAL-Denkweise erfüllt. In diesem Fall schafft das Gehirn de facto mehr Leiden, indem es die Intensität des Schmerzes durch die Selbstbeschuldigung verstärkt. Das ist der ganze Unterschied zwischen der Intensivierung des Elends einerseits und dem Spüren des Schmerzes, ohne zu leiden, andererseits.
Die Essayistin, Naturforscherin und Dichterin Diane Ackerman hat auf unserem Mind and Moment-Treffen, auf dem sich Dichter, Praktizierende und Psychotherapeuten versammelt hatten, die Geschichte erzählt, wie sie in Japan einen Unfall hatte und fast gestorben wäre (siehe Anhang I zur Erklärung dieser und anderer Konferenzen und Organisationen zum Thema Achtsamkeit.) Sie war eine Klippe hinuntergeklettert, um einige seltene Vögel auf einer kleinen Insel zu untersuchen, und fiel hin, wobei sie sich mehrere Rippen brach, große Schmerzen erlitt und nach Atem rang. Ihre Beschreibung dieses Vorfalls (Ackerman, Kabat-Zinn, O’Donohue & Siegel 2006) zeigte, wie sie die Begegnung von Moment zu Moment mit Neugierde, Offenheit, Akzeptanz und Liebe anging. Diese geistige Haltung ermöglichte es ihr, aus diesem Ereignis zu lernen, die innere Stärke zu sammeln, die sie brauchte, um nicht nur den Unfall zu überleben, sondern durch denselben regelrecht aufzublühen.
Diese Unterscheidung zwischen dem Gewahrsein mit COAL und dem einfachen Aufmerksamsein mit vorgefassten Ideen, die den Geist gefangen halten („Ich hätte mir den Fuß nicht stoßen sollen, ich bin so ungeschickt.“ –„Warum bin ich diese Klippe hinuntergefallen? Was ist mit mir los?“), ist der Unterschied, der unendlich viel ausmacht.
Achtsames Gewahrsein zu kultivieren erfordert, dass wir uns des Gewahrseins gewahr werden und dass wir über dies hinaus in der Lage sind, zu bemerken, wann die vorgefassten Meinungen, die Ge- und Verbote „von oben herab“ uns ersticken und so davon abhalten, achtsam zu leben und gütig zu uns selbst zu sein. Der Begriff „von oben herab“ (top-down) bezieht sich auf die Art und Weise, in der unsere Erinnerungen, Glaubenssätze und Emotionen unser direktes Empfindung von Erfahrung „von unten herauf“ (bottom-up) prägen. Güte uns selbst gegenüber ist es, was uns die Stärke und Entschlossenheit verleiht, aus jenem Gefängnis „von oben herab“ auszubrechen und die Ereignisse des Lebens, seien sie nun geplant oder ungeplant, mit Neugierde, Offenheit, Akzeptanz und Liebe anzugehen.
Forschungen im Bereich des achtsamen Gewahrseins zeigen, dass wir tatsächlich eine solche Liebe uns selbst gegenüber kultivieren können. Unsere Herangehensweise an die Achtsamkeit als Form gegenseitiger Einstimmung könnte ein Schlüssel dafür sein, wie das zu erreichen ist. Sieht man Achtsamkeit als eine Form gegenseitiger Einstimmung an, könnte es möglich sein, die Mechanismen zu enthüllen, durch die wir mithilfe der Achtsamkeitspraxis selbst unser bester Freund oder unsere beste Freundin werden könnten. Wir würden unseren besten Freund schließlich auch freundlich und gütig behandeln. Einstimmung steht im Zentrum liebevoller Beziehungen aller Art: derjenigen zwischen Eltern und Kind, zwischen Lehrer und Schüler, zwischen Therapeut und Patient bzw. Klient, zwischen Geliebten, Freunden und nahen Berufskollegen.
Mit dem achtsamen Gewahrsein, so können wir annehmen, tritt der Geist in einen Seinszustand ein, in dem die eigenen Hier-und-Jetzt-Erfahrungen unmittelbar gespürt werden, sie als das akzeptiert werden, was sie sind, und mit Güte und Respekt anerkannt werden. Das ist die Art von gegenseitiger Einstimmung, die Liebe fördert. Und diese gegenseitige Einstimmung, so glaube ich, ist es auch, die uns sehen hilft, wie achtsames Gewahrsein die Liebe uns selbst gegenüber fördern kann.
Es ist nachgewiesen worden, dass zwischenmenschliche Beziehungen emotionale Langlebigkeit fördern und uns dabei helfen, Wohlbefinden und körperliche Gesundheit zu erlangen (Anderson & Anderson 2003). Ich gehe hier davon aus, dass das achtsame Gewahrsein eine Form der Beziehung zu einem selbst ist, eine innere Form der Einstimmung, die in ähnlicher Weise gesundheitsfördernd ist. Dies könnte der bisher noch unidentifizierte Mechanismus sein, durch den Achtsamkeit das Wohlbefinden fördert.
Medizinische Anwendungsmöglichkeiten
Weil er die tiefe Bedeutung der Kraft der Achtsamkeit spürte, initiierte Jon Kabat-Zinn gegen Ende der siebziger Jahre ein Projekt zur Anwendung dieser uralten Ideen in einem modernen medizinischen Umfeld. Was als Inspiration während eines stillen Retreats begann, führte dazu, dass Kabat-Zinn an die medizinische Fakultät der Universität von Massachusetts herantrat, an der er lehrte. Er bat darum, Patienten aufnehmen zu dürfen, deren Situation sich durch konventionelle medizinische Interventionen nicht mehr verbessern ließ. Und er fragte sich auch, ob er irgendetwas zur Genesung derjenigen Patienten beitragen könne, die mit konventionellen Mitteln behandelt wurden. Die medizinische Fakultät, die froh war, einen Platz zu haben, an dem die Betroffenen hoffentlich etwas Erleichterung finden könnten, stimmte zu, und so wurde die Stress Reduction Clinic aus der Taufe gehoben und die „Stressbewältigung durch Achtsamkeit“ (Mindfulness-Based Stress Reduction, kurz MBSR) entwickelt (Kabat-Zinn 1990).
Das MBSR-Programm brachte Menschen mit den unterschiedlichsten chronischen Krankheiten, von Rückenschmerzen bis hin zu Schuppenflechte, die uralte Praxis der Achtsamkeit nahe. Kabat-Zinn und seine Kollegen, einschließlich Richard Davidson von der Universität Wisconsin in Madison, waren letztlich in der Lage, nachzuweisen, dass das MBSR-Training dazu beitragen konnte, subjektives Leiden zu verringern, die Immunfunktionen zu verbessern und die Heilung zu beschleunigen sowie zwischenmenschliche Beziehungen und ein allgemeines Gefühl von Wohlbefinden zu fördern (Davidson et al. 2003).
MBSR ist jetzt von Hunderten von Programmen auf der ganzen Welt übernommen worden, und die Forschung hat nachgewiesen, dass seine Anwendung physiologische, psychologische und zwischenmenschliche Verbesserungen bei einer Vielzahl von Patientenpopulationen herbeigeführt hat (Grossman et al. 2004).
Angesichts der Tatsache, dass diese übereinstimmenden Ergebnisse so stabil sind, und angesichts des wachsenden Interesses an Praktiken des achtsamen Gewahrseins war es nicht weiter überraschend, dass sich auch meine eigene Disziplin der geistigen Gesundheit der Essenz der Achtsamkeit zuwandte und sie als Grundlage verwendete, um Menschen mit psychiatrischen Erkrankungen anzusprechen.
Unterscheidungsvermögen und Auswirkungen auf die geistige Gesundheit
Achtsamkeitspraktiken haben zahlreiche psychotherapeutische Ansätze beeinflusst, wobei die neueren Forschungen signifikante Verbesserungen bei verschiedenen Erkrankungen zeigen, die sich in einer Verringerung der Symptome und der Verhinderung von Rückfällen äußern (Hayes, Follette & Linehan 1993; Hayes, Strosahl & Wilson, 1999; Linehan 1993; Marlatt & Gordon 1985; Parks, Anderson & Marlatt 2001). Achtsamkeit kann darüber hinaus mittels kognitiver Therapie Rückfälle bei chronischen Depressionen verhindern (Segal, Williams & Teasdale 2002). In ähnlicher Weise ist Achtsamkeit als essenzieller Bestandteil der Behandlung von Patienten mit Borderline-Persönlichkeitsstörungen im Rahmen der dialektischen Verhaltenstherapie (Dialogical Behavior Therapy, kurz DBT) verwendet worden (Linehan 1993). Von Marlatt und seinen Kollegen (2001) ist Achtsamkeit eingesetzt worden, um Rückfälle bei Drogenabhängigen zu verhindern. Die Prinzipien der Achtsamkeit sind außerdem ein ganz wesentlicher Bestandteil bei der Anwendung der zeitgenössischen Verhaltensanalyse in der ACT-Therapie, die auf Akzeptanz und innerer Verpflichtung beruht (Hayes 2004). Eine der ersten Studien, die gezeigt hat, dass Psychotherapie die Funktionsweise des Gehirns verändern kann, hat Achtsamkeitsprinzipien in der Behandlung von Menschen mit Zwangsneurosen eingesetzt (Baxter, Schwartz, Bergman, Szuba, Guze, Mazziotta et al. 1992). Mittlerweile sind mehrere Bücher erschienen, die sich mit dem Einsatz von Achtsamkeit und Akzeptanz in der Psychotherapie bei einer ganzen Reihe von Erkrankungen befassen – von Essstörungen bis hin zu Angstzuständen, posttraumatischem Stresssyndrom und Zwangserkrankungen (Hayes, Folette & Linehan 2004; Germer, Siegel & Fulton 2005; Segal, Williams & Teasdale 2002).
Die allgemeine Idee vom klinischen Nutzen der Achtsamkeit ist, dass das Annehmen der eigenen Situation den inneren Kampf erleichtern kann, der möglicherweise auftaucht, wenn die Erwartungen, wie das Leben sein sollte, nicht damit übereinstimmen, wie das Leben ist (Brach 2003; Hayes 2004; Linehan 1993a). Achtsam zu sein beinhaltet, zu spüren, was ist, sogar das eigene Urteilen zu spüren und zur Kenntnis zu nehmen, dass Empfindungen, Bilder, Gefühle und Gedanken kommen und gehen. Wenn Sie eine COAL-Haltung haben, dann läuft der Rest wie von selbst. Es gibt kein bestimmtes Ziel, kein Bemühen, etwas „loszuwerden“, sondern einfach nur die Intention, zu sein und, ganz spezifisch, das Im-Moment-Sein zu erleben, während man das Festhalten an Urteilen und Zielen loslässt.
Aus dieser reflektierenden und achtsamen COAL-Seinsweise aufzutauchen ist ein grundlegender – als „Einsicht“ bzw. „Urteilsvermögen“ oder „Unterscheidungsvermögen“ definierter – Prozess, der es ermöglicht, sich bewusst zu werden, dass die Aktivitäten des Geistes nicht die Gesamtheit dessen sind, was Sie sind.
Die Einsicht ist eine Form der Desidentifikation von den Aktivitäten Ihres Geistes: Indem Sie der auftauchenden Sinneseindrücke, Bilder, Gefühle und Gedanken (sensations, images, feelings, thoughts, kurz SIFT) gewahr werden, sehen Sie diese Aktivitäten des Geistes als Wellen auf der Oberfläche des geistigen Ozeans. Von diesem tieferen Platz Ihres Geistes aus, diesem inneren Raum achtsamen Gewahrseins, können Sie das Kommen und Gehen der Gehirnströme an der Oberfläche einfach wahrnehmen. Diese Fähigkeit, sich vom Geschwätz des Geistes zu lösen und zu erkennen, dass es sich dabei „einfach nur um Aktivitäten des Geistes“ handelt, ist befreiend und für viele Menschen revolutionär. Im Wesentlichen ist es dieses Unterscheidungsvermögen, durch das uns die Achtsamkeit dabei helfen kann, Leiden zu lindern.
Die Kraft des Unterscheidungsvermögens verleiht uns darüber hinaus die Weisheit, rücksichtsvoller und mitfühlender miteinander umzugehen. In dem Maße, wie wir Freundlichkeit und Güte uns selbst gegenüber entwickeln, können wir auch freundlich und gütig anderen gegenüber sein. Wenn wir uns von unseren automatischen mentalen Gewohnheiten befreien, dann sind wir frei dafür, uns auf ein tieferes Gefühl von Verbundenheit und Empathie gegenüber anderen einzulassen.
Achtsame Lehre und Therapie
Eine achtsame Herangehensweise an die Therapie sowie an Bildung und Erziehung beinhaltet Veränderungen in unserer Einstellung gegenüber den Menschen, mit denen wir arbeiten. Die aktive Beteiligung des Schülers bzw. der Schülerin am Lernprozess befähigt den Lehrer, sich der Entdeckungsreise, die das Unterrichten sein kann, als gleich gesinnter Erforscher anzuschließen: Wir können das Wissen ebenso wie die Ungewissheit mit Neugierde, Offenheit, Akzeptanz und freundlicher Aufmerksamkeit bereitwillig annehmen. Der Lehrer muss keine Quelle absoluten Wissens sein, was einer Illusion gleichkäme. Vielmehr können sich der Pädagoge und die Schüler gemeinsam der aufregenden Herausforderung stellen, ein Wissensgerüst zu entwickeln, welches das Wesen des Wissens und die ihm innewohnende Kontextabhängigkeit sowie subtile Quellen des Neuen und Differenzierenden einbezieht.
Den Einzelnen in der Psychotherapie auf ähnliche Weise zu sehen, scheint für viele Therapeuten etwas Neues zu sein. In dem Ringen darum, welche Terminologie sie in ihrem Buch über Achtsamkeit und Psychotherapie verwenden sollten, schrieben Germer, Siegel und Fulton (2005): „Eine wesentliche Herausforderung bei der Zusammenstellung dieses Buches bestand darin, zu einer einheitlichen Verwendung der Begriffe ‚Klient‘ bzw. ‚Patient‘ zu gelangen. Unser Berufsstand hat diese Diskussion noch nicht beendet, und wir werden es auch nicht tun. Nach eingehenderen Untersuchungen entschieden wir uns jedoch für ‚Patient‘. Von der Etymologie her bedeutet Patient ‚einer, der Leid erträgt‘, während ‚Klient‘ bedeutet, ‚einer, der sich unter den Schutz eines Schirmherrn stellt‘. Da Doktor ‚Lehrer‘ bedeutet, könnte gesagt werden, dass wir ‚Menschen lehren, die Leid ertragen‘. Diese Bedeutung entspricht der ursprünglichen Verwendungsweise der Achtsamkeit vor zweitausendfünfhundert Jahren: Sie ist eine Lehre, die Leiden lindert“ (S. XV).
Mit diesen Erkenntnissen im Hinterkopf werden wir auch den Begriff „Patient“ in diesem Text verwenden. Diese Diskussion betrifft auch unsere Herangehensweise an die Psychotherapie einerseits und an Bildung und Erziehung andererseits als zwei Bereichen, in denen diese Vorstellungen über das achtsame Gehirn umgesetzt werden. Achtsamkeit hat unmittelbare Auswirkungen darauf, das Leben von Menschen im Unterricht und im klinischen Umfeld zu verbessern, indem sie die verschiedenen medizinischen und psychologischen Stressfaktoren und Krankheiten anspricht.
Bei ihrer Suche nach einem wirksamen Ansatz für die Behandlung der weitverbreiteten chronischen Depression haben sich die anerkannten kognitiven Therapeuten Zindel Segal, Mark Williams und John Teasdale für die Achtsamkeit als einer Fähigkeit begeistert, die für ihre Bemühungen nützlich sein könnte (Segal, Williams & Teasdale 2002). Zu Beginn sahen sie die positiven Auswirkungen dieses Ansatzes als Folge des Aufmerksamkeits-Fertigkeitstrainings an, fanden jedoch bald heraus, dass die achtsame Präsenz des Therapeuten eine entscheidende Rolle für die Wirksamkeit der Behandlung spielte. Ihre Rücksprachen mit Kabat-Zinns MSBR-Klinik führten zur endgültigen Verschiebung ihres Schwerpunkts und der Entwicklung der Achtsamkeitsbasierten Kognitiven Therapie (Mindfulness-Based Cognitive Therapy, kurz MBCT), die sich als erste Form von Psychotherapie erwies, die Rückfälle bei Menschen mit chronischen depressiven Phasen verhindern konnte. Ihre Beschreibung dieser Verschiebung ist aufschlussreich:
Bei unserer eigenen Ausbildung hatte man uns beigebracht, dass wir, wenn wir mit einem schwierigen klinischen Problem konfrontiert waren, mit dem Patienten zusammenarbeiten sollten, um herauszufinden, wie man es am besten lösen könnte. Und dies, indem man beispielsweise herausfand, welche Gedanken, Interpretationen und Annahmen das Problem verursachen oder verschärfen könnten. Wir rechneten damit, dieselbe Herangehensweise bei der Entwicklung des Aufmerksamkeitskontrolltrainings verfolgen und die Achtsamkeitstechniken auf diesen therapeutischen Grundrahmen „aufschrauben“ zu können. Durch unsere späteren Besuche in der Stress Reduction Clinic wurde jedoch deutlich, dass wir, sofern wir nicht die Grundstruktur unserer Behandlung veränderten, uns ständig mit den schwierigsten Problemen konfrontieren würden, indem wir immer durchdachtere Wege suchten, sie zu lösen. Stattdessen erschien es uns jetzt so, dass die übergeordnete Struktur unseres Behandlungsprogramms sich von einem Modus, in dem wir die Therapeuten waren, verändern musste zu einem, in dem wir die Dozenten waren. Worin bestand der Unterschied? Als Therapeuten fühlten wir uns angesichts unserer Verwurzelung in der kognitiv-verhaltensorientierten Tradition dafür verantwortlich, Patienten zu helfen, ihre Probleme zu lösen, die „Knoten“ ihres Denkens und Fühlens „aufzuschnüren“, ihr Leiden zu reduzieren und solange bei einem Problem zu bleiben, bis es gelöst war. Im Gegensatz dazu sahen wir, dass die MBSR-Dozenten die Verantwortung eindeutig bei den Patienten ließen und ihre primäre Rolle darin sahen, Patienten zu befähigen, sich von Moment zu Moment achtsam auf ihr eigenes Erleben zu beziehen (S. 59).
Die Akzeptanz und das Unterscheidungsvermögen der Achtsamkeit quasi als Therapeuten einzubeziehen befähigt uns, zum Mitreisenden auf diesem ungewissen Lebenspfad zu werden. In ähnlicher Weise können wir uns als Lehrer zu unseren Studenten gesellen und die Welt durch die Brille kreativer Ungewissheit sehen, welche die sich immer wieder verändernde Landschaft der äußeren und inneren Welten unseres dynamischen Lebens in der Tiefe anerkennt.
Warum sprechen wir vom „achtsamen“ Gehirn?
Durch die Erforschung potenzieller Mechanismen im Gehirn, die mit Achtsamkeit korrelieren, wird es möglich, die Verbindung zwischen unserer gewöhnlichen Alltagssicht der Achtsamkeit, der pädagogischen Nutzung kognitiver Achtsamkeitskonzepte und der klinischen Anwendung der Praktiken des reflektiven achtsamen Gewahrseins zu sehen, wie sie im Bereich körperlicher und geistiger Gesundheit zum Einsatz kommen. Diese in manchen Fällen uneinheitlichen Verwendungen des Begriffs Achtsamkeit könnten jedoch auf dieselben neuronalen Bahnen zurückgreifen. Wenn wir diese mit kognitiver und reflektiver Achtsamkeit verbundenen neuronalen Mechanismen erhellen, dann könnte uns das dabei helfen, unser wissenschaftliches Verständnis zu erweitern und so den Weg dafür zu ebnen, spezifische, überprüfbare Fragen zu stellen. Solche neuronalen Einsichten könnten darüber hinaus Licht darauf werfen, wie praktische Anwendungsmöglichkeiten der Achtsamkeit entwickelt und umgesetzt werden könnten, und zwar auf eine Weise, wie wir sie uns bisher noch nicht vorgestellt haben. Indem wir zeigen, wie Achtsamkeit unsere sozialen neuronalen Schaltkreise beeinflusst, könnten wir in der Lage sein, unser Verständnis ihrer Auswirkungen auf das physiologische und psychische Wohlbefinden zu erweitern.
Eine weitere wichtige Dimension des achtsamen Gehirns ist, dass wir, indem wir die mit achtsamem Gewahrsein verbundenen neuronalen Mechanismen verstehen, vielleicht eher in der Lage sind, seine universellen menschlichen Qualitäten zu identifizieren und es für ein breiteres Publikum zugänglicher und glaubhafter zu machen. Können Sie sich eine Welt vorstellen, in der diese die Gesundheit fördernde, die Empathie erhöhende, die exekutive Aufmerksamkeit entwickelnde, das Mitgefühl mit sich selbst nährende, erschwingliche und anpassungsfähige geistige Praxis für jeden verfügbar wäre?
Zwei Arten des Wissens
Bei der Vorbereitung auf die Erforschung dieser Themen habe ich mich mit zwei Arten des Wissens befasst – dem erfahrungsbezogenen und dem experimentellen. Ich habe an einer Reihe intensiver und unmittelbarer Versenkungen in das achtsame Gewahrsein teilgenommen, um die Kraft dieser bedeutenden Art, im Leben zu sein, zu spüren. Dieser Aspekt der Reise, über den ich noch sprechen werde, befähigt uns, die innere Dimension der Achtsamkeit quasi von innen nach außen zu erleben. Die zweite Art des Wissens ist gleichermaßen kraftvoll, jedoch anders geartet: Hier geht es um die wissenschaftliche Sicht auf das achtsame Gewahrsein.
Ich erhielt eine Einladung, bei einem Sommer-Forschungsprogramm zu unterrichten. Dieses Programm wurde vom Mind and Life Institute gesponsert, das sich unter der Führung des Dalai Lama um die Integration von Wissenschaft und Meditation bemüht hat. Vertreter anderer Praktiken, unter anderem des kontemplativen christlichen Gebets, des dem Taoismus entstammenden Tai-Chi und des Yoga besuchten das Institut: Es gibt viele Wege, um achtsames Gewahrsein zu trainieren. Ich war auf einer Podiumsdiskussion und sprach über die klinischen Anwendungen von Achtsamkeit und die Transformation des Affekts durch Meditation. Bevor ich anfing, wollte ich ein Gespür dafür bekommen, welche Grundkenntnisse das Publikum in Neuroanatomie hatte, so dass ich die Einzelheiten meines Vortrags darauf abstimmen konnte. Als ich fragte: „Wer hier weiß, wie das Gehirn funktioniert?“, entgegnete einer meiner Podiumspartner, Richard Davidson, ein renommierter Forscher auf dem Gebiet der affektiven Neurowissenschaft: „Keiner von uns!“ Wir alle lachten und erkannten, wie Recht er hatte.
Das Gehirn ist ein komplexes System, und wir „wissen“ nicht wirklich zur Gänze, wie es funktioniert, noch, auf welche Weise seine Funktionen genau mit der subjektiven Natur des Geistes verbunden sind. Und noch viel weniger wissen wir, wie achtsames Gewahrsein funktioniert. Aber dennoch stehen uns viele faszinierende Hinweise darauf zur Verfügung, wie geistiges Erleben und Gehirnstruktur und -funktion zusammenwirken. Die Gehirnfunktion und das geistige Leben sind nicht identisch. Wenn wir mit der Erforschung des achtsamen Gewahrseins befasst sind, dann müssen wir sehr bescheiden sein und sagen, dass wir nur sehr wenig über die Rolle des Gehirns dabei wissen. Doch wenn man sich unvoreingenommen den neuronalen Aspekten der Achtsamkeit zuwendet, dann kann das nur dazu beitragen, Licht auf die damit verbundenen Prozesse und Mittel zu werfen, um diese wichtige Dimension unseres subjektiven Lebens zu kultivieren. Und die daraus resultierenden Erkenntnisse könnten die objektive Natur unseres Körpers, unserer Beziehungen und unseres seelischen Wohlbefindens weiter bereichern.
Wir können sagen, dass Geist und Gehirn sich in ihren Funktionen entsprechen, doch wir wissen de facto nicht, auf welche Weise Gehirnaktivität und Geistesfunktionen sich gegenseitig hervorbringen. Es ist allzu einfach, nur zu sagen, dass „das Gehirn den Geist erzeuge“, da wir mittlerweile wissen, dass der Geist auch das Gehirn aktivieren kann. Der Prozess, der den Energie- und Informationsfluss reguliert (unsere Definition von Geist), kann das Feuern des Gehirns direkt anregen und letzten Endes auch die strukturellen Verbindungen im Gehirn umgestalten.
Wir können auf das Gehirn schauen, um Entsprechungen zu mentalen Prozessen zu finden, wie etwa beim achtsamen Gewahrsein. Diese Verbindungen sind einfach nur das: keine kausalen Beweise, sondern zwei Dimensionen der Realität, die letzten Endes nicht aufeinander reduziert werden können. Davidson und seine Kollegen haben zum Beispiel eine Verlagerung der Gehirnfunktion zu einer Dominanz des linken Frontallappens als Reaktion auf emotionale Auslöser festgestellt (Davidson et al. 2003), die mit einer Annäherungshaltung und positiveren Emotionen assoziiert werden, wie wir in Kapitel 10 sehen werden. Diese Linksverlagerung in Schaltkreisen, die für das Regulieren von Emotionen zuständig sind, korrelierte unmittelbar mit dem Grad an Verbesserung bei der Immunabwehr.
Eine weitere Studie (Lazar, Kerr, Wasserman, Gray, Greve & Treadway 2005) zeigte eine Vergrößerung von zwei Gehirnbereichen: (1) des mittleren Präfrontalbereichs auf beiden Seiten und (2) diejenige eines damit verbundenen neuronalen Schaltkreises, der Inselrinde, die insbesondere auf der rechten Gehirnseite dicker war. Die Dicke in diesen Arealen hing mit der Länge der Zeit zusammen, in der die Achtsamkeitsmeditation praktiziert worden war. Hier sehen wir sowohl eine linksseitige als auch eine rechtsseitige Korrelation mit den Praktiken des achtsamen Gewahrseins (siehe Anhang III, Lateralität). Studien über andere Meditationsformen, bei denen man sich zum Beispiel auf das Mitgefühl konzentriert, zeigen wieder andere Veränderungen, wie etwa eine erhöhte Feuerkoordination, insbesondere im Präfrontalbereich auf beiden Seiten des Gehirns (Lutz, Greischar, Rawlings, Ricard & Davidson 2004). Eine umfangreiche Bewertung vieler Studien (Cahn & Polich 2006) zeigt eine ganze Reihe von Aktivierungen, insbesondere in den mittleren Präfrontalbereichen (anteriores Cingulum) durch die Achtsamkeitsmeditation.
Ein positiver Effekt bei der Beschäftigung mit dem Gehirn und der Suche nach Entsprechungen mit dem Geist, zeigt sich darin, dass wir mehr über den Geist selbst lernen können. Bei der Untersuchung des achtsamen Gehirns werden wir uns nicht nur mit diesen und anderen Studien über Emotionen, Aufmerksamkeit und Exekutivfunktionen beschäftigen, sondern auch in das neue Gebiet der sozialen Neurowissenschaft eintauchen. Das achtsame Gewahrsein auch als Beziehung zu sich selbst anzusehen, die sich die neuronalen Schaltkreise unseres sozialen Lebens zunutze macht, könnte neues Licht auf die fundamentalen Prozesse werfen, die in der Erfahrung der Achtsamkeit verborgen liegen.
Vorläufige Forschungen zu den Gehirnfunktionen deuten an, dass Achtsamkeit das Gehirn verändert. Warum sollte die Art und Weise, wie Sie im gegenwärtigen Moment aufmerksam sind, Ihr Gehirn verändern? Die Art und Weise, wie wir aufmerksam sind, fördert die neuronale Plastizität – die Umgestaltung neuronaler Verbindungen als Reaktion auf Erfahrung. Was wir untersuchen werden, sind die möglichen Mechanismen, wie sich die verschiedenen Dimensionen achtsamen Gewahrseins in der Aktivität des Gehirns niederschlagen und dann das Wachstum der Verbindungen in diesen Bereichen anregen. Indem wir tief in das unmittelbare Erleben eintauchen, werden wir in der Lage sein, etwas Licht darauf zu werfen, warum Forschungsergebnisse Veränderungen auf der linken und rechten Seite zeigen und welche globalen Auswirkungen sich dadurch für das integrative Funktionieren des Gehirns als Ganzes ergeben könnten.
Achtsamkeit als Beziehung, die Integration fördert
Lange bevor wir unseren Geist mithilfe von Reflektion zu kultivieren versuchten, haben wir uns als soziale Geschöpfe weiterentwickelt. Ein großer Teil unseres Gehirns im Ruhezustand, in der Standardeinstellung sozusagen, scheint ein neuronaler Schaltkreis zu sein, der mit dem Verstehen anderer in Beziehung steht (Gusnard & Raichle 2001). Es sind die sozialen Schaltkreise des Gehirns, die wir zuerst benutzt haben, um den Geist, die Gefühle, Intentionen und Einstellungen anderer zu verstehen. Wenn wir das achtsame Gewahrsein als einen Weg ansehen, um das Bewusstsein des Geistes von sich selbst zu kultivieren, dann erscheint es wahrscheinlich, dass es sich Aspekte der ursprünglichen neuronalen Mechanismen zunutze macht, um sich des Geistes anderer bewusst zu werden. Wenn wir uns unserer eigenen Intentionen und des Fokus unserer Aufmerksamkeit bewusst werden, dann verwenden wir dazu vielleicht genau diejenigen Schaltkreise im Gehirn, die zuerst Landkarten von der Intention und Aufmerksamkeit anderer erzeugt haben. COAL ist genau die geistige Haltung, die Eltern gegenüber ihren Kindern haben, denen sie eine sichere Bindung mit auf den Weg geben. Wir können sagen, dass die gegenseitige Einstimmung bei der sicheren Bindung zwischen Eltern und Kind einer intrapersonalen Form von Einstimmung beim achtsamen Gewahrsein entspricht. Beide Formen von Einstimmung fördern die Fähigkeit zu engen Beziehungen sowie Resilienz und Wohlbefinden (siehe Kapitel 9 zur weiteren Erörterung des Themas Bindung).
Vergleicht man Studien über sichere Bindung mit solchen über Praktiken des achtsamen Gewahrseins, stellt man erstaunliche Überschneidungen in den Ergebnissen fest (Kabat-Zinn 2003b; Sroufe, Egeland, Carlson & Collins 2005). Ich habe außerdem festgestellt, dass viele der Grundfunktionen, die bei diesen beiden scheinbar so unterschiedlichen Themen auftauchten, mit dem Präfrontalkortex verbunden waren. Zu diesen Funktionen gehören die Regulierung der Körpersysteme, das Ausgleichen von Emotionen, die Einstimmung auf andere, das Modulieren von Angst, flexible Reaktionen und das Zeigen von Einsicht und Empathie. Zwei andere Funktionen dieser Präfrontalregion – nämlich in Kontakt mit Intuition und Moral sein – sind in der Bindungsarbeit nicht untersucht worden, schienen jedoch ein Ergebnis der Praxis des achtsamen Gewahrseins zu sein (siehe Anhang III, Die Funktionen des mittleren Präfrontals).
Der Vorschlag, den meine Kollegen und ich früher unterbreitet hatten (siehe Cozolino 2002; Schore 2003a, 2003b; Siegel 1999, 2001b; Siegel & Hartzell 2003; Solomon & Siegel 2003), bestand darin, dass die Beziehungen der sicheren Bindung zwischen Eltern und Kind ebenso wie die effektive therapeutische Beziehung zwischen Kliniker und Patient das Wachstum der Fasern in dieser Präfrontalregion förderten.
Die Präfrontalfunktion ist integrativ. Das bedeutet, dass lange Stränge der Präfrontalneuronen bis in weit entfernte und abgegrenzte Bereiche des Gehirns und des Körpers hineinreichen. Diese Verbindung von abgegrenzten Elementen ist die wörtliche Definition eines fundamentalen Prozesses, nämlich der Integration. Aus vielerlei Gründen, die an anderer Stelle erörtert werden, kann die Integration als grundlegender gemeinsamer Mechanismus für verschiedene Bahnen angesehen werden, die zu Wohlbefinden führen (Siegel 1999, 2001b, 2006, im Druck).
Wie fördert Einstimmung die Integration?
Wenn die Beziehungen zwischen Eltern und Kind aufeinander abgestimmt sind, dann ist das Kind in der Lage, sich „gefühlt zu fühlen“, und es hat ein Gefühl von Stabilität im gegenwärtigen Moment. Während der Interaktion im Hier und Jetzt fühlt sich das Kind gut, verbunden und geliebt. Die innere Welt des Kindes wird von den Eltern klar gesehen, und die Eltern lernen, mit dem Zustand des Kindes in Resonanz zu gehen. Das ist Einstimmung.
Im Laufe der Zeit befähigt diese eingestimmte Kommunikation das Kind, die regulierenden Schaltkreise im Gehirn zu entwickeln – einschließlich der integrativen Präfrontalfasern –, die für einen Menschen in der Zeit des Wachstums eine Quelle von Resilienz darstellen. Diese Resilienz nimmt die Form der Fähigkeit zur Selbstregulation und des Einlassens auf andere in empathischen Beziehungen an. Hier sehen wir, dass gegenseitige Einstimmung – die grundlegende Eigenschaft einer sicheren Bindung – zu den empirisch nachgewiesenen Ergebnissen führt, die wir oben beschrieben haben.
Diese Liste der neun Präfrontalfunktionen schien sich auch mit dem zu überschneiden, was ich im Laufe der Zeit über die Achtsamkeitspraxis gelernt hatte. Ich habe diese Idee Jon Kabat-Zinn auf einem Diskussionspodium vorgestellt (Ackerman, Kabat-Zinn & Siegel 2005), und er hat die Beobachtung dieser Funktionen als Zielkriterien bestätigt. Er hat dann die Idee dahingehend erweitert, dass es bei dieser Liste nicht nur um Ergebnisse geht, die von der Forschung verifiziert wurden, sondern um den Prozess des achtsamen Lebens an sich.
Der Reiz, eine Konvergenz zwischen der Bindungs- und der Achtsamkeitsforschung zu finden, hat mich dazu gebracht, die Überschneidungen weiter zu erforschen. Seit jener ersten Begegnung habe ich noch mehr über die Achtsamkeitspraxis gelernt, aus dem direkten Erleben und meinen eigenen klinischen Anwendungen ebenso wie dadurch, dass ich an einer Reihe von Retreats teilgenommen habe und mich an Forschungsinstituten als Teilnehmer und Fakultätsmitglied damit beschäftigt habe. Die Reise, etwas über diese Möglichkeiten, den Geist und das Wohlbefinden zu kultivieren, zu lernen, ist aufregend gewesen und hat mich in meiner Aufgeschlossenheit gestärkt.
In den vor uns liegenden Kapiteln werden wir tiefer in die Geheimnisse des Geistes eindringen und untersuchen, was achtsames Gewahrsein, sichere Bindung und präfrontale Gehirnfunktion miteinander gemein haben könnten.
* Zur Verwendung der Begriffe „Reflektion“ versus „Reflexion“ siehe ausführliche Darlegung auf Seite 169 ff.