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Die Klippen von Aldostris

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„Wir sollten hier nicht zu lange verweilen“, sagte Lukdan nach einigen Minuten des Schweigens. „Uris wird bald Soldaten ausschicken, um uns zu suchen. Wenn sie uns in die Finger bekommt, wird niemand mehr wissen, dass sie an dem Tod Heroduns Schuld ist.“

„Es gibt noch jemanden, der unsere Unschuld beweisen kann“, sagte Yala. „Der Wächter, der uns, bevor wir zu Herodun kamen, entwaffnet hat, weiß, dass wir es nicht gewesen sein können.“

„Uris wird ihn längst getötet oder zumindest gesichert haben“, entgegnete Lukdan und wollte sich auf den Weg machen, hielt dann aber inne, da er anscheinend nicht wusste, in welche Richtung er gehen sollte.

„Wohin sollte euch eure Flucht vorgestern eigentlich bringen, wenn ich euch nicht aufgehalten hätte?“, fragte er.

„Nach Syphora“, antwortete Tado. Der Krieger aus Akhoum drehte sich entsetzt um.

„Ihr wolltet dem Feind direkt in die Arme laufen? Seid ihr etwa doch Spione?“

„Nein“, versuchte Yala zu beschwichtigen. „Wir haben einige Fragen und diese lassen sich nur dort beantworten.“

„Du musst nicht mit uns kommen“, steuerte Tado bei.

„Was habe ich denn für eine Wahl?“, meinte Lukdan resigniert. „Nach Akhoum kann ich nicht zurück, ohne sofort getötet zu werden, und alle Länder im Hoheitsgebiet der Stadt werden schon bald unter Uris’ Kontrolle sein. Dort ist es dann auch nicht mehr sicher. Allerdings liegt Syphora im äußersten Osten und wir haben Akhoum in westlicher Richtung verlassen.“

„Ja; wir wollten zuerst nach Aldostris, um von dort aus Akhoum in einem großen Bogen in nördlicher Richtung zu umgehen“, erwiderte Yala.

„Aldostris gehört zum Hoheitsgebiet. Sie werden schon bald Nachricht aus Akhoum erhalten und uns vermutlich gefangen nehmen“, gab Lukdan zu bedenken. „Andererseits könnten wir sie warnen, wenn wir rechtzeitig dort auftauchen.“

So beschlossen sie, zunächst den Weg in westlicher Richtung weiterzugehen, um die kleine Stadt Aldostris zu erreichen. Die Sonne stand hoch am Himmel, hatte ihren Zenit jedoch bereits überschritten.

Yala sah Tado eine Zeitlang an.

„Was ist?“, fragte dieser schließlich.

„Ich habe mich nur gefragt, ob du mir nicht endlich sagen willst, wie du dein Schwert immer wieder erscheinen lassen kannst“, antwortete sie.

„Es ist nichts weiter als ein einfacher Zauber“, entgegnete er schließlich, denn er verspürte im Moment keine Lust dazu, ihr das gesamte von Regan erlernte Ritual zu erläutern.

„Also bist du ein Magier?“, fragte sie weiter.

„Nein, ich beherrsche keine Art von Magie“, erwiderte er, wusste aber, dass diese Antwort nur noch mehr Unklarheiten aufwerfen würde. Bevor Yala also erneut nachhaken konnte, sprach er weiter: „Mein Schwert selbst ist aber ein magischer Gegenstand, und unter der Anleitung eines mäßig magiebegabten Goblins war es mir möglich, die Waffe an mich zu binden, sodass ich sie jederzeit beschwören und verschwinden lassen kann.“

Danach gingen sie überwiegend schweigend weiter. Ein schwacher Wind wirbelte den bodennahen Staub auf. Tado schleppte sich nach einiger Zeit nur noch mühsam durch die glühende Hitze. Er hatte seit dem Morgen nichts mehr getrunken, und seine Kehle brannte jedes Mal, wenn er ein paar klägliche Speichelmengen hinunterschluckte. Nach einer Stunde schoben sich allmählich kleinere Wolkenfetzen vor die Sonne, vereinigten sich zu einer einzigen und warfen kühle Schatten auf die drei Wanderer. Sie kamen an einer Ansammlung von Dornpflaumen vorbei, als es merklich kühler wurde.

Die Dämmerung brach an und sie verließen das staubige Ödland und betraten eine niedrige Wiese. Der Himmel über ihnen war nun von einer gewaltigen Gewitterfront bedeckt und schwarze Wolken türmten sich zu unheimlichen Formen auf. Ein Gefühl der Gefahr stieg in Tado hoch. Ein kleiner Bach verlief südwestlich, doch sie hielten nicht an, denn der plötzliche Wetterumschwung beunruhigte sie.

„Der schwarze Himmel verheißt nichts Gutes“, ließ sich Lukdan vernehmen, doch das hatte sich auch Tado bereits gedacht. Sie steuerten einen nahegelegenen Hain an, eine Gruppierung von nur wenigen Dutzend Bäumen. Unter dem dichten Blätterdach fanden sie Schutz vor dem stärker werdenden Wind. Sie beobachteten den bedrohlichen Himmel aus dem Schutz des Dickichts heraus. Und plötzlich, nicht einmal fünfzehn Minuten Fußmarsch entfernt, begann die Wolkendecke zu rotieren. Wolkenfetzen verliefen kreisförmig um einen unsichtbaren Punkt herum. Staub und Dreck wurden aufgewirbelt. Ein Trichter formte sich aus dem finsteren Himmel und strebte den Boden an. Starker Wind fegte über die Wiese hinweg und ließ den kleinen Hain, in dem die drei Zuflucht suchten, erschüttern. Die rotierende Säule erreichte den Boden und eine Staubwolke schlug ihr entgegen, stob in alle Richtungen davon. Pflanzen wurden aus der Erde gerissen, Steine hinaufgeschleudert und wieder fallen gelassen, sodass sie in einiger Entfernung aufschlugen. Der graue Wolkentrichter bewegte sich gen Osten, und alles, was in seine Bahn geriet, ließ er verwüstet zurück.

„Was ist das?“, fragte Tado entsetzt. Er hatte nie zuvor ein solches Naturschauspiel erlebt.

„Ein Tornado“, erwiderte Lukdan. „Eine Naturkatastrophe mit großer Zerstörungskraft. Lasst uns schnell weiter in Richtung Aldostris gehen, ehe ein zweiter entsteht.“

Sie folgten diesem Rat, und so gelangten sie bald an den Rand der Wiese und marschierten wieder durch karges Ödland. In der Ferne, im letzten Gegenlicht der untergehenden Sonne, sahen sie die Umrisse einiger Gebäude.

So kamen sie an eine Gruppierung von drei Zelten, die den Rand einer sich nach Norden und Süden weitläufig erstreckenden Schlucht säumten.

„Das ist Aldostris?“, fragte Tado zweifelnd.

„Nein“, erwiderte Yala. „Das ist nur ein Wachposten, der den Zugang zu diesem Ort verwaltet.“

Ein halbes Dutzend Krieger kam, als sie in Sichtweite gelangten, mit gesenkten Speeren auf sie zu. Als sie Lukdan erkannten, ließen sie ihre Waffen sinken. Offenbar waren sie über den Zwischenfall in Akhoum noch nicht unterrichtet worden.

„Es ist lange her, dass du uns mal wieder mit einem Besuch beehrst“, sagte eine der Wachen.

„Leider führen mich keine erfreulichen Nachrichten in diese Gegend“, erwiderte Lukdan. „Wir müssen dringend mit Zokarp sprechen.“

„Ich befürchte, dass das nicht möglich sein wird. Er führte die Armee an, die Aldostris zur Verteidigung Akhoums schickte, und nun verwaltet Igaldar die Stadt.“

„Wenn das so ist, dann bring uns zu ihm. Wir können nicht bis morgen warten.“

Der Soldat führte sie an den Zelten vorbei an den Rand der Schlucht. Eine größtenteils aus Holz bestehende, etwa anderthalb Meter breite Hängebrücke spannte sich über den Abgrund. Sie folgten dem Krieger, der voranschritt und den Übergang mit unsicherem Zögern betrat, denn eine dunkle Wolke schob ihren Schatten über den im Dämmerlicht rötlich scheinenden Himmel. Regentropfen benetzten den Boden.

Die Schlucht war über einhundert Meter breit und Tado erstaunte es, wie die Bewohner Aldostris’ es geschafft hatten, eine Brücke über einen derart breiten Abgrund zu bauen. Aus den unerkennbaren Tiefen unter ihnen stieg grauer Nebel auf, sodass sie den Grund der Klamm nicht sehen konnten.

Er bemerkte, dass Yala irgendetwas beunruhigte und befragte sie danach.

„Es ist das Wetter“, antwortete sie nach kurzem Zögern. „Normalerweise regnet es hier selten, doch das ist nun schon das zweite Mal heute.“

Tado dachte an den kurzen Schauer am Morgen in Akhoum, nachdem der Regenbogen erschienen war.

„Und dann ist da noch dieser Tornado gewesen“, fuhr sie fort. „Ich lebe seit sieben Jahren hier und habe so etwas noch nie zuvor gesehen.“

Nur ungern dachte er an die unheimlich Erscheinung vor etwa einer Stunde zurück.

„Was meinst du, verbirgt sich hinter all diesen Sachen?“, fragte er sie.

„Möglicherweise ist das alles nur Zufall. Aber meist kündigen solche Unwetter großes Unheil an. Kurz bevor der Krieg zwischen Akhoum und Syphora ausbrach, herrschte drei Wochen lang ununterbrochen ein orkanartiger Wind.“

Tado hoffte, dass sie mit dieser Vermutung Unrecht behielt. Er wollte nicht in noch größere Schwierigkeiten hineingeraten als die, in denen er ohnehin schon steckte. Sie waren während ihres Gesprächs ein Stück zurückgefallen und beeilten sich, zu den anderen beiden aufzuschließen. Die Hängebrücke ächzte bedrohlich, aber sie hielt. Sie musste ohnehin sehr stabil sein, denn wenn dies der einzige Zugang zu Aldostris war, dann hatte die Armee, die Akhoum zu Hilfe eilte, sie ganz sicher auch überqueren müssen.

Ein schauriges Geräusch, das wie der Todesschrei eines Menschen klang, der in die Tiefe fällt, drang aus den nebligen Abgründen der Schlucht zu ihnen herauf.

„Was war das?“, fragte Yala, und in ihrer Stimme schwang eine Spur der Ängstlichkeit mit.

„Blutskorpione“, antwortete ihr Führer, der, wie Tado in einem Gespräch zwischen ihm und Lukdan zufällig mitbekam, Seron hieß. „Es sind zwar keine echten Skorpione, doch sie haben gewisse Merkmale mit ihnen gemein. Sie verschlingen alle Lebewesen, die sich zufällig in den Schluchten verirren. Aber ich will euch keine Angst machen, ihr werdet sie wahrscheinlich nie zu Gesicht bekommen, daher verzichte ich lieber auf eine genauere Beschreibung.“

Zwar hätte Tado gerne mehr über diese Wesen erfahren, doch ihn beschäftigte im Moment etwas ganz anderes. Seron hatte von Schluchten gesprochen. Hieß das etwa, dass es hier noch mehr von diesen unergründlich tiefen Abgründen gab?

Er erhielt die Antwort, als sie schließlich das Ende der Brücke erreichten und Aldostris betraten. Sämtliche Gebäude befanden sich auf unterschiedlich großen Felsinseln, die von zahlreichen mehr oder weniger breiten Schluchten durchzogen waren. Die ganze Siedlung wirkte wie ein weitreichendes Flussdelta, nur dass an der Stelle von Wasserläufen tiefe Abgründe waren, aus denen ebenfalls ein unheilvoller Nebel aufstieg, der es unmöglich machte, den Grund zu erkennen. Kein Geländer zog sich um die vielen Klippen, nur zahlreiche Brücken überspannten die Schluchten und verbanden die Felsinseln miteinander. Tado vermochte den Rand der Stadt nicht zu erkennen, was einerseits vielleicht an der nun eintretenden Dunkelheit lag, andererseits eventuell auch daran, dass sie sich unheimlich weit nach Westen hin erstreckte, denn auf den Felsinseln gab es nicht viel Platz. Die Häuser standen dicht gedrängt aneinander, sie besaßen stets eine rechteckige Form, doch waren von unterschiedlicher Höhe, sodass die Dächer der niedrigeren Gebäude eine Art Terrasse für benachbarte höhere bildeten, auf der man diverse Pflanzen anbaute. Es musste unheimlich schwer sein, über die schmale Brücke, die hinein nach Aldostris führte, Nahrung in die Stadt zu schaffen. Tado wunderte sich sowieso, wie man sich in dieser unwirtlichen Gegend ansiedeln konnte. Er stellte eine entsprechende Frage an Seron, der sie nach wie vor begleitete und nun über eine kurze Brücke auf eine benachbarte Felsinseln führte, auf der vier Häuser nahezu die gesamte Fläche einnahmen und nur auf zwei Seiten einen kleinen Pfad zwischen sich und den Klippen ließen, auf dem man sich an ihnen vorbei zwängen konnte, um zur nächsten Brücke zu gelangen. Die Gebäude wirkten aufgrund ihres nur handbreiten Abstandes zueinander wie ein einziger großer Block, gerade einmal die unterschiedliche Höhe der Häuser störte diese Symmetrie.

„Dieser Ort ist sehr schwer zugänglich“, beantwortete Seron Tados Frage. „Bei Gefahr können wir einfach die Hängebrücke, die den Zugang bildet, abbrechen, und niemand kann mehr in die Stadt gelangen. Nur einen anderen Weg gäbe es noch, doch er führt durch die tiefen Schluchten und keine Armee würde dort wieder herauskommen. Und wenn sie uns belagern sollten, so wäre auch dieses Vorhaben nicht von Erfolg gekrönt, denn wir können uns über einen langen Zeitraum hinweg selbst versorgen.“

Das glaubte ihm Tado, da er auf einer nahegelegenen Insel etwa einhundert dicht gedrängt stehende Palmen erblickte, die unterhalb der Blätter merkwürdige braune Früchte trugen, jede ungefähr so groß wie drei Fäuste.

„Was wäre, wenn die Blutskorpione den Weg durch die Schluchten fänden?“, fragte nun auch Lukdan.

„Das bräuchten sie gar nicht“, meinte Seron gelassen. „Sie können die Klippen senkrecht in die Höhe klettern, und wenn sie uns wirklich töten wollten, so hätten sie es schon längst getan. Doch einerseits tun wir ihnen nichts zuleide (wozu wir vermutlich auch gar nicht in der Lage wären) und andererseits verlassen sie die nebligen, feuchten Tiefen der Schlucht niemals, denn sie würden in der Sonne verbrennen oder zumindest an der trockenen Luft ersticken.“

Der nur etwa einen Meter breite Weg, auf dem sie an den Gebäuden vorbeigingen, veranlasste Yala dazu, sich dicht an die Häuserwände heranzubewegen und fortwährend eine Hand an dem hell verputzten Mauerwerk zu belassen.

„Ist schon einmal jemand über den Klippenrand gefallen?“, fragte sie unsicher an Seron gewandt.

„Leider kommt es immer wieder vor, dass unvorsichtige Bürger in die Tiefe stürzen“, antwortete er.

„Warum baut ihr dann kein Geländer an den Rand?“, ereiferte sie sich ein wenig verärgert.

„Vorsicht will gelernt sein“, entgegnete der Soldat. Er und Lukdan waren die einzigen, denen der schmale Pfad und der schätzungsweise weit über hundert Meter tiefe Abgrund direkt daneben nichts auszumachen schienen. „Die, die hinunterfallen, sind für gewöhnlich sofort tot und werden von den Blutskorpionen gefressen.“

Diese Worte erschienen Tado überflüssig. Sie verließen nun die kleine Felsinsel und überquerten eine Bücke, die über einen sehr unförmigen Abgrund führte und sie an die Überreste eines zerstörten Gebäudes brachte.

„Gelegentlich kommt es vor, dass Teile der Felsinseln abbrechen und in die Tiefe stürzen“, bemerkte Seron, was nicht unbedingt zur Beruhigung der drei Gefährten beitrug. „Wir glätten dann die Oberfläche und bebauen sie erneut. Daher sind manche Felsinseln auch etwas niedriger als andere.“

Sie umrundeten die Gebäuderuine, von der ein Teil in die Schlucht gefallen zu sein schien, zur Hälfte, und passierten einige weitere Brücken.

„Warum begegnen wir eigentlich keinem Bewohner der Stadt?“, wunderte sich Yala.

„Es ist gleich Nacht“, antwortete Seron. „Bei diesem schlechten Licht derart nahe an den Klippen vorbeizugehen, käme einem Selbstmord gleich.“

Tado fragte sich, warum ihre kleine Gruppe es dennoch tat, wurde sich jedoch bewusst, dass sie keine andere Wahl hatten. Sie mussten noch heute zum Verwalter von Aldostris, um ihn vor Uris zu warnen.

Irgendwann kamen sie schließlich an eine große Felsinsel, auf der ein reich verziertes mehrstöckiges und sehr breites Haus stand.

„Dies ist das Regierungsgebäude, wie du sicher noch von deinem letzten Besuch weißt“, sagte Seron zu Lukdan. „Wenn ihr Glück habt, trefft ihr Igaldar dort noch an. Er arbeitet immer bis spät in die Nacht hinein. Ansonsten kann ich leider nichts für euch tun.“

In diesem Moment öffnete sich die Eingangstür des Hauses und ein älterer Mann, jedoch von stattlicher Statur, trat in die Dunkelheit des späten Abends hinaus. Als er die Gefährten erblickte, steuerte er auf sie zu. Seron machte daraufhin Anstalten, zu gehen, denn es handelte sich bei der näher kommenden Person seiner Worte nach um Igaldar.

„Was führt drei Leute aus Akhoum zu so später Stunde in die Klippen von Aldostris?“, fragte der Mann mit relativ leise Stimme.

„Wir sind nicht im Auftrag der Hauptstadt dieses Landes hier“, entgegnete Lukdan. „Schlimme Umstände brachten uns hierher. Wir müssen euch dringend sprechen.“

„Nur zu“, forderte ihn Igaldar auf. „Niemand kann uns hier hören.“

Der Krieger aus Akhoum blickte sich noch einen Moment um und begann dann widerwillig zu sprechen: „Schreckliches hat sich in Akhoum zugetragen, ein Ereignis, fast so furchtbar wie die Schlacht des vergangenen Tages. In den frühen Morgenstunden des heutigen Tages wurde der Statthalter Akhoums ermordet.“

„Herodun ist tot?“, fragte Igaldar entsetzt. „Wer hat diese Gräueltat zu verantworten?“

„Niemand Geringeres als die Hohepriesterin selbst“, fuhr Lukdan fort. „Uris bediente sich schwarzer Magie, um den Statthalter und seine Leibwächter zu töten. Sie riss die Macht an sich und gebietet nun über Akhoum.“

„Was du sagst, klingt in meinen Ohren zwar furchtbar, aber nicht sehr glaubhaft“, meinte Igaldar. „Welchen Nutzen sollte Uris haben, Herodun zu töten? Sie hat sich immer für seine Belange und die von Akhoum eingesetzt.“

„Sie gehört zu Telkor“, antwortete Tado an Lukdans Stelle. Igaldar sah entsetzt zu ihm herüber.

„Diese Anschuldigung übertrifft sogar die des Verrats an Herodun!“, rief er aus. „Telkors finstere Macht übertrifft alles andere auf der Welt, wenn wirklich einer von ihnen bereits so tief in diese Lande vorgedrungen wäre, dann würde alles hier dem Untergang geweiht sein. Furchtbare Katastrophen zögen über den Kontinent hinweg. Doch nichts dergleichen ist bisher geschehen.“

Yala deutete in den Himmel, aus dem noch immer zahlreiche Wassertropfen fielen und den trockenen Boden allmählich aufweichten.

„Kommt euch der Regen nicht auch merkwürdig vor?“, fragte sie. „Das ist heute schon das zweite Mal, wo doch sonst kaum mehr als einmal im Monat Wasser vom Himmel fällt. Außerdem ist uns auf dem Weg hierher ein Tornado begegnet.“

„Ein Tornado?“, unterbrach Igaldar sie. „Der letzte, den ich erlebt habe, ist fünfundzwanzig Jahre her. Das verheißt in der Tat nichts Gutes.“

Er überlegte kurz.

„Angenommen, eure wirren Anschuldigungen entsprächen der Wahrheit. Meine Späher berichteten, dass es Uris war, die in der Schlacht einen Schutzzauber um Akhoum warf und es so vor dem Untergang rettete.“

„Sie will Akhoum regieren, und es nicht zerstören“, sagte Lukdan.

„Also gut. Ich werde über eure Botschaft nachdenken, doch im Moment berauben mich diese Gedankenspiele zu sehr meiner Zeit.“

Igaldar wollte sich zum Gehen abwenden, doch der Krieger aus Akhoum hielt ihn zurück.

„Uris oder einige ihrer Schergen werden bald hier eintreffen“, sagte Lukdan. „Egal, was sie euch erzählen, schenkt ihren Worten keinen Glauben. Die Hohepriesterin wird euch eine andere Geschichte vom Tod Heroduns auftischen, doch sie ist nicht wahr.“

Igaldar wandte sich wortlos um und ging.

„Ob er uns glaubt?“, fragte Yala, nachdem er außer Hörweite war.

„Nein“, antwortete Lukdan. „Im Moment zweifelt er vielleicht an Uris, doch sobald sie hier auftaucht, wird sich seine Meinung ändern, denn sie kann sehr überzeugend sein.“

„Was machen wir jetzt?“, fragte Tado.

„Schlafen“, lautete die kurze Antwort des Kriegers von Akhoum, der sie anschließend über einige Brücken führte und ein augenscheinliches Gästehaus ansteuerte. Dort trafen sie einen völlig überraschten Wirt, der gerade die Eingangstür schließen wollte. Für einen geringen Preis erhielten sie ein freies Zimmer.

„Wo hast du all das Geld her?“, wollte Tado wissen, nachdem Lukdan mit einigen Münzen aus einem weiteren Beutel bezahlt hatte.

„Es stammt noch von unserem Auftrag. Herodun schien wohl zu wissen, dass die Tümpelschlinger irgendetwas im Schilde führten, und scheute keine Kosten, um den Schild in unseren Besitz zu bringen.“

Im Zimmer herrschte absolute Dunkelheit. Es gab kein Fenster, nur einen etwa handbreiten Schacht, der wohl in einer Art Schornstein enden musste und durch den ständig kalte Luft ins Innere strömte. Tado rief die Drachenklinge herbei, und in der Finsternis begann sie wie gewohnt zu leuchten. Er entdeckte einige Kerzen, die sie entzündeten, und außerdem eine Karaffe mit Wasser, sodass er seinen Durst stillen konnte. Auch ein Apfel fand sich. Sie schliefen bald darauf ein.

* * *

Vielleicht lag es an dem kurz vorher gegessenen Obst, dass Tado mitten in der Nacht plötzlich aufwachte oder aber einfach daran, dass ihn wieder ein ungutes Gefühl der Gefahr heimsuchte. Er stand leise auf, um etwas zu trinken, und im schwachen Licht einer der noch nicht völlig heruntergebrannten Kerzen sah er, dass aus dem schmalen Schacht feiner gelber Staub in das Zimmer hereinströmte. Er überlegte kurz, warum ihm dies bekannt vorkam, und erinnerte sich schließlich daran, so etwas bereits im Finsteren Wald erlebt zu haben. Schnell weckte er Lukdan und Yala.

„Was ist los?“, fragte Ersterer.

Tado deutete auf den schmalen Schacht.

„Pollen des Schlafkrauts: Wenn man sie einatmet, wird man in eine tiefe Ohnmacht fallen, die mehrere Stunden andauern kann“, sagte er.

„Was hat das zu bedeuten?“, wollte Yala wissen, während sie sich ein Tuch vor Mund und Nase hielt.

„Vermutlich ist Uris eingetroffen“, meinte Lukdan. „Es fragt sich nur, wie sie uns hier gefunden hat.“

Er ergriff seine Waffen und ging zur Tür.

„Das ist meine Schuld“, gestand Tado. „Sie muss die Magie meines Schwerts gespürt haben.“

Sie alle standen nun an dem kleinen Einlass zu ihrem Zimmer.

„Auf dem Gang draußen sind Wachen“, sagte Lukdan. „Geht ein Stück zur Seite.“

Sie befolgten seine Anweisung. Der Krieger machte seinerseits einen Schritt zurück und trat dann mit aller Kraft gegen das Schloss. Die Tür flog aus den Angeln und begrub einen dahinter stehenden Soldaten unter sich. Die Gefährten stürmten nach draußen. Sie sahen zwei weitere Männer auf sich zu kommen. Als sie die Treppe hinunterblickten, stand dort Uris. Sie schien noch keine Notiz von ihnen genommen zu haben. Somit war ihnen jedoch der Rückweg versperrt. Yala entdeckte ein Fenster auf dem jenseitigen Ende des Gangs, das vermutlich nach draußen führte. Sie machte die anderen darauf aufmerksam, und anstatt den Kampf mit den beiden näher kommenden Wachen aufzunehmen, begaben sie sich zu diesem improvisierten Ausgang. Das Fenster ließ sich leicht öffnen. Sie befanden sich zwar im zweiten Stock, doch die Höhe war nicht ihr vorwiegendes Problem: Wie alle anderen Gebäude in Aldostris befand sich auch dieses Gasthaus sehr dicht am Rand der Klippen, und auf der Seite, auf der das Fenster lag, trennte nur ein schmaler Streifen von rund einem Meter Breite die senkrechte Wand vom tödlichen Abgrund. Während Yala zuerst hinunterkletterte und Tado versuchte, angesichts ihrer derzeitigen Situation nicht in Panik auszubrechen, hielt Lukdan die beiden Wachen in Schach. Dies zog jedoch die Aufmerksamkeit Uris’ auf sich und sie beeilte sich, die Treppen hinaufzusteigen.

Derweil landete Yala sicher auf dem schmalen Pfad und Tado begann mit dem Abstieg. Auch er kam relativ schmerzfrei unten an. Lukdan schaffte es, die Wachen ein Stück zurückzudrängen, doch als er sich zum Fenster wandte, traf ihn ein Zauber Uris’ und er wurde von einer unsichtbaren Macht erfasst und davon geschleudert, hinaus aus der Öffnung in der Wand. Er mochte die Wucht des Stoßes durch einen Griff an den Rahmen etwas zu mildern, doch er konnte es nicht verhindern, rücklings in den Abgrund zu fallen. Seine Säbel verlor er, sie landeten dicht neben Yala, die das Ereignis mit Schrecken verfolgte, auf dem Boden. Lukdan flog über den Klippenrand hinaus und Tado bekam in letzter Sekunde seinen Arm zu fassen, er vermochte den Schwung, den der Krieger durch Uris’ Zauber erhalten hatte, zu bremsen und der Fallende drohte nun senkrecht in den Abgrund zu stürzen. Sein Körper prallte gegen die Felswand und Tado würde ihn nicht mehr lange halten können. Lukdan war größer und schwerer als er und das Gewicht zog ihn in Richtung Klippe. Er lag bereits flach auf dem Boden, doch besaß er nicht die Kraft, ihn heraufzuziehen.

„Yala, gib mir meine Waffe!“, rief der Krieger ihr zu.

Sie warf einen seiner Säbel in seine Richtung und Lukdan fing ihn auf, in dem Moment, in dem Tados Kräfte erschöpften und seine Hand vom Arm des Fallenden abrutschte. Dieser stieß die Klinge in die feste Wand der Klippe, und sie bremste seinen Sturz vollends, etwa zwei Meter unterhalb des Bodens, auf dem die anderen sich befanden. Yala warf ihm seinen zweiten Säbel zu, und so gelang es Lukdan, Stück für Stück hinaufzuklettern. Uris erreichte derweil das Fester, und als sie sah, dass ihr Zauber versagt hatte, entfesselte sie einen zweiten, diesmal, um sie alle Drei zusammen in den Tod zu werfen. Eine gleißende Welle strömte auf sie zu, doch Tados Wut war durch den Beinahe-Tod des Kriegers aus Akhoum geschürt worden. Er führte mit der Drachenklinge einen Hieb gegen den magischen Angriff aus, und der helle Schein wurde zurückgeworfen, traf Uris und die Wachen und schleuderte sie meterweit in den Gang hinein, in dem sie sich noch immer befanden.

Lukdan erreichte derweil die Oberfläche.

Die wiedervereinigten Gefährten beeilten sich, vom Gasthaus wegzukommen. Sie schlugen den Weg zurück zur großen Hängebrücke ein, denn sie wollten Aldostris so schnell wie möglich verlassen.

Weit kamen sie nicht. Auf einer kleinen, leeren, nahezu runden, nur etwa zehn Meter breiten Felsinsel mussten sie Halt machen. Es gab hier nur zwei Brücken, die sie hätten überqueren können. Die eine führte in die Richtung, aus der sie kamen, und die andere wurde von einer Person versperrt, mit der sie bereits Bekanntschaft gemacht hatten: Igaldar.

„Ich hätte es wissen müssen“, sagte er. „Es war sehr geschickt, mich auf diese Weise täuschen zu wollen.“

„Was hat Uris dir erzählt?“, fragte Lukdan.

„Die Wahrheit“, entgegnete Igaldar. „Und ihre Version des Todes von Herodun macht so viel mehr Sinn. Ihr seid nicht hier, um uns zu warnen, ihr selbst seid die Mörder des Statthalters. Und auf eurer Flucht dachtet ihr, wir würden euch aufnehmen und Schutz gewähren, doch wir sind nicht so dumm, wie ihr erwartet habt. Eure Flucht endet hier. Da unsere Streitkräfte noch in Akhoum verweilen, um dort beim Wiederaufbau zu helfen, werde ich mich persönlich um euch kümmern.“

Er holte zwei Säbel hervor und besaß damit die gleiche Bewaffnung wie Lukdan. Auf der anderen Seite der Brücke näherten sich bereits Uris und einige Soldaten. Tado wandte sich ihnen zu, während der Krieger aus Akhoum auf Igaldar zuging. Als ihre Klingen aufeinander trafen, stoben einige Funken in die Dunkelheit davon. Der Lärm, den allein die beiden Kämpfenden verursachten in einem wahren Sturm aus Schlägen, in dem keiner den anderen treffen konnte, hallte weit durch die Schluchten von Aldostris.

Tado stand derweil Uris gegenüber, die übrigen Soldaten hielten sich hinter ihr; ob aufgrund eines Befehls oder weil sie, nachdem sie gesehen hatten, dass sie aus dem Gefängnis entkommen waren, zu viel Angst vor ihnen besaßen, wusste er nicht.

„Verrate mir das Geheimnis deines Schwertes“, forderte sie ihn auf.

„Sag es nicht, was immer es auch ist“, riet ihm Yala leise.

„Ich hatte es nicht vor“, antwortete er ihr ebenso still.

„Keine Waffe vermag meinen Zauber umzukehren. Wenn du es mir nicht freiwillig sagst, so muss ich ihr das Geheimnis selbst entlocken.“

Tado wusste nicht einmal genau, was für eine Macht sein Schwert eigentlich besaß, aber er empfand es als taktischen Vorteil, wenn seine Gegnerin Angst davor hatte. So schwieg er auch weiterhin, als sie ihn erneut zu sprechen aufforderte. Allmählich verließ sie die Geduld, und ihre rechte Hand begann zu glühen. Ein dünner, gleißender Strahl schoss auf die Drachenklinge zu.

Lukdan empfand die Kampfkraft seines Gegners als beeindruckend. Sie fochten nun schon mehrere Minuten und er hatte bisher nicht ein einziges Mal eine Unaufmerksamkeit Igaldars ausmachen können. Der Verwalter aus Aldostris blockierte seine Schläge, wie auch immer er sie führte. Eines war ihm jedoch bewusst: In dieser Umgebung, auf einer zehn Meter breiten Felsinsel, auf der es keine Gebäude und nicht mal einen größeren Stein gab, würde er einzig durch Schwertkampfkunst gewinnen können. Im Moment vermochte jedoch keiner der Kämpfenden dem jeweils anderen ernsthaft Schaden zuzufügen oder ihn mehr als einen Schritt zurückzudrängen. Die Klingen prallten unablässig aufeinander, mehrmals in jeder Sekunde, und jede Unachtsamkeit könnte ihm zum Verhängnis werden.

Er führte einen gezielten Schlag auf Igaldars Schulter, doch dieser parierte den Angriff und stach seinerseits in Richtung des Kopfes von Lukdan. Auch er konnte den Stoß ablenken, wurde dadurch jedoch aus dem Gleichgewicht gebracht, sodass ihn sein Gegner mit Schlägen eindeckte und der Krieger aus Akhoum darunter zu Boden ging.

Der Strahl prallte gegen die Drachenklinge und ein lautes Zischen ertönte, die gleißende Helligkeit verwandelte sich in Flammen, die in der Dunkelheit sofort vergingen. Tado durchfuhr eine Art Schock, für einige Sekunden hörte er nichts mehr und schien das Gleichgewicht zu verlieren.

Uris griff sich unter einem schmerzhaften Aufschrei an den Kopf und ging zu Boden.

„Das ist unmöglich“, keuchte sie. „Das kann nicht die Quelle seiner Macht sein! Keine Waffe der Welt wäre zu so etwas imstande!“

Tado verstand nicht recht, was die Hohepriesterin von sich gab. Im Moment des Aufpralls beider Magien hatte er kurz ein nachtschwarzes Bild vor Augen gehabt, doch Uris schien etwas anderes gesehen zu haben, etwas, das ihr große Angst bereitete.

Lukdan fing einen Schlag Igaldars ab, in dem er die Klinge mit den Füßen festhielt. Er nahm einen schmerzhaften Tritt in die Seite hin, doch schnitt seinem Gegner mit der Waffe in seiner rechten Hand in dessen linkes Handgelenk, sodass dieser den Säbel losließ, den Lukdan noch immer auf ungewöhnliche Art in Schach hielt. Er schleuderte ihn daraufhin mit einer schnellen Bewegung seiner Beine zur Seite und stand, einen Hieb Igaldars abwehrend, wieder auf. Es bereitete ihm nun wenig Mühe, den an Waffenanzahl unterlegenen Gegner auch seines letzten Säbels zu berauben und ihn gefährlich nahe an den Rand der Felsinsel zu treiben. Lukdan hielt ihm die gezackte Klinge einer seiner Waffen an die Kehle.

„Ich habe mich wohl geirrt“, sagte Igaldar mit schwacher Stimme.

„Inwiefern?“

„Ich konnte sehen, auf welche Weise Uris ihre Magie einsetzt. Als ich noch jünger war, gelangte ich auf einem Schiff in die Nähe Telkors. Einer der Magier dort stand am Ufer und ich sah, wie er die Hand zuerst ausstreckte und dann zur Faust ballte. Eine große Welle erfasste daraufhin unser Schiff und es kenterte. Ich konnte mich auf einem Stück Treibgut irgendwie retten. Nie habe ich den Anblick dieses Magiers vergessen können. Wer hätte ahnen können, dass Uris ebenfalls diesem Volk entstammt? Wie konnte ich mich nur so sehr täuschen lassen?“

„Du erhältst jetzt eine Gelegenheit, deinen Fehler wieder gutzumachen“, sagte Lukdan ungerührt. „Das besondere Schwert mag zwar Uris’ Zauber aufhalten können.“

Er deutete auf Tado.

„Aber die Soldaten, die sie mit sich führt, sind gesicherte Leibwächter. Ich kann es niemals mit zehn von ihnen gleichzeitig aufnehmen. Wir müssen aus Aldostris raus.“

Er zog seinen Säbel vom Hals Igaldars weg.

„Das wird nicht einfach sein. So wie ich Uris kenne, hat sie einige Wachen an der Hängebrücke zurückgelassen.“

„Das ist mir bewusst. Ich rede auch nicht von der Hängebrücke. Seron erzählte uns, dass es einen geheimen Weg hinunter in die Schluchten gibt“, meinte Lukdan.

„Das wäre Selbstmord!“, erwiderte Igaldar entsetzt. „Die Blutskorpione zerfleischen jeden, der ihr Reich betritt. Ihr könnt ihnen nicht entkommen, dafür sind die Schluchten zu weitläufig, und kämpfen wäre ebenso sinnlos.“

„Es ist unsere einzige Möglichkeit, lebend von hier zu entkommen.“

Die Leibwächter Uris’ stürmten nun auf Tado und Yala zu, diese zogen sich immer weiter zurück. Vermutlich würden sie nicht einmal gegen einen von ihnen gewinnen können, geschweige denn gegen ein ganzes Dutzend.

Sie sahen, wie Lukdan mit Igaldar sprach, verstanden jedoch nur die letzten Wortfetzen: „Und der Eingang liegt in der Nähe des Brunnenschachts.“

In diesem Moment lösten sich unter den Füßen des Verwalters von Aldostris einige kleinere Stücke der Felsinsel und er stürzte in die Tiefe. Lukdan versuchte, seinen Arm zu ergreifen, doch die Finger berührten nichts als Luft. Tado war sich sicher, dass Uris ein wenig nachgeholfen hatte, doch konnte er nicht sagen, warum sie das tun sollte, immerhin stand er ja seines Wissens auf ihrer Seite.

Die drei schlossen sich wieder zusammen und liefen über die Brücke hinüber zu einer anderen Felsinsel.

„Wohin gehen wir?“, fragte Yala.

„Igaldar ist endlich zur Besinnung gekommen und hat erkannt, dass Uris auf der Seite des Feindes steht“, antwortete Lukdan. „Er erzählte mir, wie wir den geheimen Weg durch die Schluchten finden und hier heraus gelangen können.“

„Du willst doch nicht ernsthaft dort hinunter?“, fragte Tado entsetzt.

„Wir haben kaum eine Wahl. Igaldar ist tot. Uris wird versuchen, die Bewohner von Aldostris davon zu überzeugen, dass wir daran schuld sind. Es gibt keinen anderen Weg.“

Ihm und Yala war nicht wohl dabei, in einem derart schnellen Tempo bei nahezu absoluter Dunkelheit - abgesehen von dem schwachen Licht der Drachenklinge - so nahe an den Klippen vorbei zu laufen, doch ihnen blieb aufgrund der herannahenden Krieger Uris’ keine andere Wahl.

Nach wenigen Minuten standen sie vor einem großen Brunnen, der sich gleich neben einem niedrigen hölzernen Verschlag befand. Diesen steuerten sie sogleich an. Hinter ihnen nahten die Leibwächter der Hohepriesterin und auch einige Krieger aus Aldostris waren wohl unter ihnen.

Im Innern des Schuppens lagen zahlreiche Eimer und Seile. Tado und Yala suchten auf Lukdans Geheiß zwischen all den Utensilien nach einer Falltür im Boden, während er selbst die Tür notdürftig verbarrikadierte.

Eine nur wenige Zentimeter große Spinne huschte über den Boden, woraufhin Yala erschrocken zurückwich, dabei allerdings zufällig auf die gesuchte Luke trat.

Erdiger Geruch drang zu ihnen herauf, als sie das schwere Holz aufstemmten. Treppen führten nach unten. Staub dämpfte ihre Schritte, als sie die unregelmäßigen Stufen betraten. Die Krieger brachen hinter ihnen in den Verschlag ein, doch als sie die offene Falltür im Boden sahen, machten sie keine Anstalten, ihnen zu folgen.

„Wenn sie dort hinabgestiegen sind, dann werden sie früher oder später sterben“, sagte einer der Krieger aus Aldostris. „Gegen die Blutskorpione können sie nichts ausrichten.“

Die Treppe wand sich in rechteckiger Form um den Brunnenschacht in die Tiefe. Ohne das schwache Glimmen der Drachenklinge wären sie nicht in der Lage gewesen, überhaupt etwas zu sehen. So warfen die gemauerten Wände ein rotes Licht zurück, während die Stufen weitaus dunkler, beinahe violett schimmerten.

Tado überlegte, was sie tun sollten, wenn ihnen bereits hier im geheimen Gang ein Blutskorpion begegnen würde. Er hatte nicht wirklich eine Vorstellung davon, wie diese Wesen aussehen mochten, denn Serons Beschreibung ließ viel Spielraum in jede Richtung; doch aufgrund der Tatsache, dass sie hintereinander gehen mussten und Yala sie sozusagen anführte (denn Lukdan bildete den Schluss, um etwaige von oben kommende Krieger Uris’ abzuwehren), sähen ihre Chancen aufs Überleben nicht allzu gut aus. Tado ging in der Mitte der kleinen Gruppe, damit das Licht seines Schwerts die Treppe in beide Richtungen relativ gut ausleuchten konnte. Je näher sie dem Grund der Schlucht kamen, desto feuchter wurde die Luft. An einer Stelle waren drei Stufen herausgebrochen und sie mussten die Lücke überspringen. Die Trümmerstücke entdeckten sie, als sie ein weiteres Mal den Brunnenschacht umrundet hatten und sich unterhalb des Loches befanden. Ihr Vertrauen in dieses Bauwerk sank zusehends. Wenigstens schienen die Krieger aufgehört zu haben, sie zu verfolgen. Aber vermutlich war das auch gar nicht nötig, wahrscheinlich würden die Blutskorpione sie für Uris töten. Dies brachte ihn auf den Gedanken, was wohl wäre, wenn die Herren von Telkor jene Kreaturen unter ihre Kontrolle brachten und deren Verlangen nach feuchter Luft mittels Magie irgendwie auslöschten. Er beschloss, darüber nicht weiter nachzudenken, um sich nicht noch mehr zu entmutigen.

Die Treppe machte plötzlich einen scharfen Knick nach rechts und endete in einer Tür. Offenbar hatten sie den Grund der Schluchten erreicht. Vom Nebel morsche Bretter versperrten einen niedrigen Ausgang. Sie ließen sich leicht entfernen. Kalte, feuchte Luft schlug den Dreien entgegen. Dunstschleier bedeckten den Himmel und schränkten die Sicht erheblich ein.

„Ich hoffe, du weißt, wohin wir gehen müssen“, sagte Tado zu Lukdan. Er vermochte es geradeso, die gegenüberliegende Felswand zu sehen.

„Igaldar hat mir den Weg relativ genau beschrieben“, antwortete dieser. Ein Schrei ertönte, wie auch schon vor einigen Stunden, als sie die Brücke, die nach Aldostris führte, überquerten. „Die Blutskorpione werden allerdings ein größeres Problem sein. Igaldar sagte, dass man ihnen nicht aus dem Weg gehen kann. Sie spüren jedes Lebewesen auf, egal wo es sich aufhält.“

Mit diesen Worten wandte sich der Krieger nach links. Die anderen folgten ihm. Obwohl sie wussten, dass es sinnlos war, versuchten sie, so wenige Geräusche wie möglich zu verursachen. Sie kamen nach wenigen Minuten an einen verdorrten Baum, und Leichenpicker, die grausigen Vögel der Sümpfe von Sekhan, saßen auf den trockenen Ästen. Sie beobachteten jeden Schritt der drei Gefährten, und sie schienen sich zu fragen, wie lange es wohl noch dauern mochte, bis die Blutskorpione sie entdeckten und töteten. Die unansehnlichen Überreste würden dann für die Vögel als Nahrung dienen.

Sie umgingen das Skelett eines Riesen.

„Was ist das?“, fragte Yala entsetzt.

„Es sieht wie ein Troll aus“, meinte Tado.

„Das denke ich nicht. Trolle gelten in diesen Landen als ausgestorben“, fügte Lukdan hinzu.

Plötzlich löste sich ein Schatten aus dem Nebel vor ihnen; der vage Umriss einer schaurigen Kreatur, das schwarze Abbild eines tiefen Grauens. Feuchter, abscheulich riechender Atem wie die Ausdünstungen eines fauligen Sumpfes schlug ihnen entgegen. Ein etwa zwei Mannslängen hohen Wesen schob sein grauenhaftes Antlitz aus dem Dunst, und Entsetzen machte sich in den dreien breit, als sie erkannten, dass es sich um einen Blutskorpion handeln musste. Gewaltige Scherenarme, ähnlich einer Krabbe, verdeckten den dunklen, starken Panzer der Kreatur. Acht Beine, jedes einzelne dick wie ein gut genährter Mensch, hielten den gewaltigen, sechs Meter langen Körper über dem Boden. Ein riesiger Skorpionschwanz, so breit wie ein Baumstamm, ragte bogenförmig über die Kreatur und endete in einem beängstigenden Giftstachel. Bis hier hin glich dieses Wesen jedem gewöhnlichen Skorpion, doch sein Oberkörper und auch sein Kopf wiesen annährend menschliche Züge auf, nur weitaus kräftiger als gewöhnlich und furchtbar entstellt, so fehlten dem Ungeheuer Hals und Schultern, was seinem Aussehen jedoch keineswegs die Bedrohlichkeit nahm.

Es näherte sich ein weiterer Blutskorpion, diesmal von hinten, und schon bald sahen sich die Gefährten drei der Kreaturen gegenüber. Die Wesen zögerten, sie anzugreifen, offensichtlich trafen sie nicht häufig auf lebende Menschen.

„Was sollen wir jetzt tun?“, fragte Yala.

„Wir müssen uns ihnen stellen“, antwortete Lukdan. „Sie sind uns an Geschwindigkeit um Einiges überlegen. Zu fliehen wäre sinnlos.“

„Aber wir können doch nicht gegen sie kämpfen!“, widersprach sie. „Hast du dir mal ihre Scheren angesehen? Sie könnten uns zerquetschen, wenn sie uns einmal zu fassen kriegen!“

„Dann lass dich nicht fangen“, riet ihr der Krieger noch, als eine der Skorpione mit seinem Stachel nach ihm stach. Zwar verfehlte er ihn, da Lukdan sich mit einer schnellen Bewegung in Sicherheit brachte, doch dieser Angriff gab das Signal an die anderen Kreaturen, über ihre Beute herzufallen. Tado war solch blitzschnelle Attacken nicht gewohnt. Als einer der Blutskorpione ihn mit einer seiner Scheren zu fassen versuchte, konnte er nicht mehr ausweichen und wurde zwischen den steinharten Klauen gefangen.

Lukdan führte einige Schläge in Richtung des Kopfes desjenigen Wesens aus, das ihn noch vor wenigen Sekunden mit dem Giftstachel hatte durchstechen wollen. Die Klingen durchschnitten nichts als Luft, während der Blutskorpion in einer kaum erkennbaren Bewegung zur Seite wich. Dadurch rammte er Yala, die daraufhin gegen den abgestorbenen Baum flog und von den dort sitzenden Leichenpickern attackiert wurde.

Tado saß, oder besser gesagt schwebte derweil in der Klemme, denn der ihn traktierende Skorpion riss ihn in diesem Moment in die Höhe; und so sehr er es auch versuchte, konnte er die Scheren des linken Armes der Kreatur, die ihn festhielt, keinen Millimeter auseinanderdrücken, sodass ihm schon bald die Luft wegblieb. Sein Gegner schien es hingegen nicht für nötig zu halten, vom Giftstachel Gebrauch zu machen, stattdessen führte er den nahezu Bewegungsunfähigen zu seinem beängstigend großen Maul, in das Tado zwar nicht vollständig hineinpassen würde – wenn der Skorpion ihm aber den Kopf abbisse, müsste er das auch gar nicht.

Lukdan entkam im letzten Moment dem Griff eines Scherenarms und rollte sich danach zur Seite, um außer Reichweite des Giftstachels zu gelangen. Dies erwies sich als unmöglich, da sein Gegner die gleiche Distanz in kürzerer Zeit überwand. Der Krieger vermochte keinen einzigen Angriff mehr seinerseits auszuführen, und als er versuchte, einen Schwanzschlag des Skorpions zu parieren, schleuderte ihn dieser törichte Versuch einige Meter weit weg, ganz in die Nähe des verdorrten Baumes.

Dort erdolchte Yala gerade einen Leichenpicker, der ihr ein Auge auszuhacken versuchte. Sie sollte sich dringend eine ordentliche Waffe zulegen, dachte sie bei sich, sonst würde sie den Weg bis Syphora, sofern sie diese Schluchten überhaupt überwinden konnten, womöglich nicht überleben. Die grausigen Vögel ließen aufgrund ihrer heftigen Gegenwehr von ihr ab, und diese Gelegenheit nutzte der dritte Blutskorpion (der bisher – um Konkurrenzkämpfe zu vermeiden – seinen Artgenossen nur zugesehen hatte), um sie und Lukdan anzugreifen. Er setzte dazu an, sie beide zugleich mit seinem Giftstachel aufzuspießen.

Tado ließ die Drachenklinge in seiner rechten Hand entstehen, nachdem er diese unter Schmerzen und mit einer Fleischwunde bezahlend aus dem Scherengriff des Skorpions hatte befreien können. All dies geschah innerhalb der einen Sekunde, die die Kreatur benötigte, um ihn in die Luft zu heben und zu ihrem Maul zu führen. Kurz bevor die dort befindlichen, schauerlichen Zähne ihn zerfleischten, ließ er das Schwert auf den Panzer Scherenarms krachen. Es zeigte nicht die gewünschte Wirkung, denn die Klinge prallte einfach ab und wäre ihm fast aus der Hand geflogen. Dennoch schien dieser Angriff dem Wesen nicht gefallen zu haben, es entschied sich dazu, sein Opfer von den ungepanzerten Stellen seines Gesichts fernzuhalten und ließ stattdessen seinen Giftstachel pulsieren, um ihm in wenigen Sekunden die vermutlich tödliche Flüssigkeit zu verabreichen.

Yala sah den Angriff nicht kommen, und das mehr als fingerbreite Tötungswerkzeug des Blutskorpions bohrte sich tief in ihre Seite. Lukdan konnte im letzten Moment ausweichen und durchstach geistesgegenwärtig die Blase unterhalb des Stachels, in der sich das Gift befand, dennoch hatte ihr Gegner bereits eine kleine Menge der Flüssigkeit injizieren können. Yala begannen die Sinne für einen Moment zu schwinden, die Welt fing an, sich um sie herum zu drehen. Dunkle Schleier der Ohnmacht versuchten sich über sie zu werfen. Mit großer Mühe drängte sie sie zurück, sah aus den Augenwinkeln, wie Lukdan von dem erzürnten Skorpion empor gerissen wurde und der noch andere, noch freie Scherenarm des Wesens sich nun in ihre Richtung ausstreckte.

Tado versuchte hastig, eines der Gelenke des Scherenarms zu treffen. Als das Vorhaben tatsächlich gelang, stieß der Skorpion einen unangenehmen Schrei aus, öffnete reflexartig die Schere und er fiel heraus. Auf dem Boden konnte er sich durch eine Seitwärtsrolle geradeso vor dem Giftstachel der Kreatur, die vor Kurzem noch Lukdan angegriffen hatte, in Sicherheit bringen. Aus dem Augenwinkel sah er, in welcher misslichen Lage sich der Krieger aus Akhoum und Yala zurzeit befanden. Sein Schwert war ihm bei seiner eigenen Befreiungsaktion aus der Hand gerissen worden, und er schätzte nun schon zum zweiten Mal innerhalb einer einzigen Minute die Fähigkeit, die ihm der Goblin damals beigebracht hatte. Seine beiden Kontrahenten griffen nun unablässig mit ihren Scherenarmen nach ihm oder versuchten, ihn mit ihrem Giftstachel zu treffen. Das sich anschließende Ausweichspiel würde er nicht sehr lange durchhalten, dafür machten ihm seine Wunden im Bauch und auf dem Handrücken noch zu sehr zu schaffen. Ein Plan reifte jedoch in seinem Kopf, als er sah, mit welcher Wucht die Blutskorpione ihren Schwanz zu bewegen wussten. Er versuchte, sich einer der beiden Kreaturen zu nähern. Doch egal wie schnell er auf sie zuging, sie wich ebenso schnell zurück und griff ihrerseits mit den Scherenarmen nach ihm. Es war nur eine Frage der Zeit, bis er erneut in diese potenziell tödliche Falle geraten würde und dann nicht mehr mit dem Leben davonkäme.

Yala bewegte sich mit letzter Kraft, denn sie spürte, wie das Gift die Energie aus ihrem Körper entweichen ließ, ein Stück zur Seite und entging den gewaltigen Klauen des Skorpions. Dieser bekam stattdessen den verdorrten Baum zu fassen und dessen Stamm zersplitterte größtenteils unter dem Scherenarm. Die Leichenpicker flogen hastig auf und setzten sich auf einige naheliegende Felsentrümmer, die vermutlich von den Klippen Aldostris’ herabgestürzt waren.

Lukdan spürte indes einen zunehmenden Druck auf seine Organe, denn nachdem Yala seinem Angriff entging, hielt er ihn noch fester in der riesigen Schere umklammert. Zwar hatte der Krieger einen Arm frei, doch sein Säbel vermochte den Panzer des Wesens nicht zu verletzen und er kam an keine ungeschützte Stelle heran. Wenn er nicht bald Hilfe bekäme, dann würde er zerquetscht werden.

Tado bekam den Schwanz eines Blutskorpions zu fassen und klammerte sich daran fest. Die Kreatur warf ihn in die Luft und versuchte gleichzeitig, ihn mit den Scherenarmen zu fassen. Da sein Artgenosse den gleichen Gedanken hatte, behinderten sich die gewaltigen Klauen gegenseitig und Tado fiel ungebremst auf den Rücken eines der Ungeheuer. Er verdrängte den ungeheuren Schmerz, der sich in seinem Körper ausbreitete. Seine Finger umfassten den Rand eines der Panzersegmente, doch als der Blutskorpion sich aufbäumte, wurden sie eingeklemmt und es glich einem Wunder, dass er sie sich nicht brach. Die Kreatur versuchte, ihn abzuschütteln, wand sich mit großer Geschwindigkeit und er musste alle Kraft aufbringen, um nicht hinuntergeschleudert zu werden; das Wesen vermied es jedoch, mit seinem Stachel nach ihm zu stochern. Nicht so sein Artgenosse. Der zweite Blutskorpion ließ seine giftige Waffe auf ihn herab fahren. Da dies Tados Plan gewesen war, fiel es ihm leicht, dem Angriff auszuweichen, und so bohrte sich die Schwanzspitze zwischen zwei Panzersegmente des ersten Blutskorpions. Dieser schrie entsetzlich auf, wand sich noch stärker, doch der Stachel hatte sich fest verkeilt. Tado trat gegen die Giftblase, und als die Flüssigkeit in den Körper der getroffenen Kreatur geriet, hob sie für einen Moment vom Boden ab und versuchte, mit ihren Scherenarmen den Schwanz des anderen Skorpions von sich zu lösen. Dies endete darin, dass er seinem Artgenossen den gesamten Körperteil im Todeskampf vollständig abtrennte. Nun ließ auch der zweite Angreifer einen Schrei vernehmen und entfernte sich einige Schritte. Der vergiftete Skorpion brach derweil zusammen und Tado stieg vorsichtig von dessen Rücken herunter. Wie es sich herausstellte, war die Kreatur, die ihn noch vor Kurzem scheinbar im Todesgriff hielt auch diejenige, die nun keinen Schwanz mehr besaß. Nachdem er ihr vorhin das Schwert in eines der Gelenke des Scherenarms gestochen hatte, schien auch dieser nicht mehr zu gebrauchen zu sein. Dies erklärte, warum sich das verstümmelte Wesen nun in den Nebel zurückzog. Tado mochte zwar keine übermenschlichen Kräfte wie Lukdan haben, aber dennoch war er letztendlich trotz der Überzahl und körperlichen Übermacht seiner Gegner siegreich und relativ unverletzt aus der Auseinandersetzung hervorgegangen.

Der Krieger von Akhoum hingegen befand sich in einer deutlich schlechteren Position. Ein Blutskorpion hielt ihn fest umklammert und er schien keine Möglichkeit zu besitzen, sich aus diesem Griff zu befreien. Die gezackte Klinge einer seiner Säbel hatte den Panzer des Scherenarms etwa einen halben Fingerbreit anritzen können, doch Lukdan schien mittlerweile nicht einmal mehr dazu in der Lage zu sein, seine Waffe überhaupt noch zu halten. Er musste sich nahe einer Ohnmacht befinden, denn sein Körper hing fast leblos in den Klauen der Kreatur. Diese machte jedoch noch keine Anstalten, ihn zu verspeisen, denn sie versuchte noch immer, Yala zu fangen, die sich gerade hinter die Überreste des verdorrten Baumes rettete. Doch es würde ihr nur ein paar Sekunden verschaffen. Der Giftstachel des Skorpions hing schlaff herab, als er mit seinem Schwanz einige trockene Äste und größere Felsen aus dem Weg räumte.

Tado lief so schnell er konnte zu seinen Gefährten hinüber. Das Atmen bereitete ihm noch immer Schwierigkeiten, offenbar hatte der Blutskorpion, der ihn vorhin fressen wollte, seine Lunge ein Stück weit eingeklemmt. Er erreichte die Kreatur, als sie gerade Yala in die Höhe hob. Aus Angst, sein Schwert könne zerbrechen, wenn er es in einen Spalt der Panzersegmente am Rücken steckte, hieb er es stattdessen mit aller Kraft auf eines der acht Beine. Die Drachenklinge durchtrennte es bis zur Hälfte und der Skorpion schrie auf, doch er ließ seine Beute nicht fallen, stattdessen versetzte er Tado einen Schwanzhieb, der ihn davon schleuderte. Ihm wurde kalt, denn die Temperaturen hier unten mussten zu so später Stunde nur knapp über dem Gefrierpunkt liegen. Er sah, wie sich einige Dutzend Leichenpicker über den toten Blutskorpion hermachten. Hoffentlich würden dadurch keine weiteren dieser übermächtigen Kreaturen angelockt werden.

Tados missglückter Angriff hatte jedenfalls dazu geführt, dass das Wesen, das Yala und Lukdan noch immer gefangen hielt, sich mit einem Ruck zur Seite bewegte, sodass der Krieger wieder zu sich kam. Als der Blutskorpion seine Beute zum Maul führte, stach er ihm in den ungepanzerten Gesichtsbereich. Noch immer gab die Kreatur nicht nach, sie stieß einen Schrei aus, doch lockerte keineswegs ihren Griff. Tado schlich sich erneut an den Skorpion heran, allerdings würde er einen weiteren Schwanzhieb wohl nicht mehr so unbeschadet überstehen, denn die Kreatur war nun von Wut erfüllt und jede ihrer Bewegungen besaß mehr Kraft als zuvor. Er führte einen Schlag auf das bereits zur Hälfte durchtrennte Bein aus. Leider bemerkte er zu spät, dass sein Gegner im wahrsten Sinne des Wortes nicht nur vorne, sondern auch an den Seiten und am Hinterkopf Augen besaß, und dies ermöglichte ihm, jeden noch so hinterhältigen Angriff kommen zu sehen. So wich der Blutskorpion mit einer schnellen Bewegung zur Seite aus, und weil Lukdan den noch immer im Gesicht der Kreatur steckenden Säbel weiterhin mit aller Kraft festhielt, bohrte sich die Klinge durch das ruckartige Ausweichen noch tiefer hinein. Der dadurch ausgelöste Schmerz stachelte das Wesen dazu an, seine Beute nun nicht mehr zu fressen, sondern stattdessen einfach zu zerdrücken, und die Scheren schlossen sich unbarmherzig. Tado ergriff die Gelegenheit, in der der Blutskorpion mit seinem Racheakt beschäftigt war, um dessen angeschlagenes Bein vollends abzutrennen. Dies reichte schließlich, um ihn zur Aufgabe zu bewegen. Die Scherenarme öffneten sich und ließen die Beute fallen, Tado hieb nach einem zweiten Bein und fügte auch diesem einen tiefen Schnitt zu, ehe sich auch dieser Skorpion in den Nebel zurückzog.

Lukdan und Yala lagen auf dem Boden, sie hatten ihr Bewusstsein nicht verloren, doch schienen sie große Schmerzen zu plagen.

„Seid ihr schwer verletzt?“, fragte Tado, hätte sich aber im gleichen Moment für diese dumme Bemerkung ohrfeigen können, schließlich war die Antwort klar zu erkennen.

„Es geht“, erwiderte Lukdan zu seiner Überraschung. Er musste wirklich über unmenschliche Kräfte verfügen, denn nach dem, was der Blutskorpion mit ihm anstellte, hätte er nahezu tot sein müssen. „Yala wurde allerdings vom Stachel erwischt“, fuhr er fort.

„Es ist nicht so schlimm, wie es sich anhört“, antwortete sie schnell. „Mein Körper ist nur mit einer sehr kleinen Menge des Giftes in Berührung gekommen, und offenbar ist es nicht zum Töten, sondern nur zum Betäuben gedacht.“

Tado sah, wie sie aus einer relativ tiefen Wunde blutete. Er hoffte, dass sie mit ihrer Vermutung Recht behielt und das Gift sie wirklich nicht umbrächte. Dies würde allerdings bedeuten, dass auch der Skorpion, der von seinem eigenen Artgenossen gestochen worden war und im Moment von zahlreichen Leichenpickern bearbeitet wurde, in Wahrheit noch lebte.

„Ich habe dich wohl unterschätzt“, meinte Lukdan achtungsvoll zu Tado. „Als ich dich das erste Mal kämpfen sah, hätte ich es nie für möglich gehalten, dass du mir einmal das Leben retten wirst.“

„Genau genommen hat er das sogar schon zum dritten Mal getan“, ergänzte Yala. „Immerhin sind wir nur durch ihn aus dem Gefängnis entkommen und er rettete dich vor Uris’ Zauber und dem Sturz in die Schlucht.“

Tado war es unwohl, so viel Anerkennung zu ernten, und so versuchte er, das Thema zu wechseln: „Wir sollten von hier verschwinden. Wenn das Gift wirklich nur betäubt, dann wird es nicht mehr lange dauern und der Blutskorpion dort hinten erwacht.“

Er deutete auf den scheinbar leblosen Körper des riesigen Wesens, aus dem die grausigen Vögel kleine Fleischstückchen hackten.

„Offenbar habe ich mich in noch einer Sache getäuscht“, meinte Lukdan. „Zu fliehen ist nicht sinnlos, sondern wahrscheinlich unsere einzige Möglichkeit am Leben zu bleiben. Wenn die beiden verletzten Blutskorpione Verstärkung holen, dann wird uns nichts mehr retten.“

„Was meinst du, wie viele Blutskorpione hier unten leben?“, fragte Tado.

„Angesichts der Größe Aldostris’ könnten es mehrere hundert sein.“

Er erschrak innerlich, als er diese Zahl hörte. Wenn all diese Kreaturen sie angreifen und umzingeln würden, wäre es um sie geschehen. So setzten sie schnellstmöglich ihren Weg fort. Das Gehen fiel ihnen allen nicht unbedingt leicht. Die Schluchten bildeten wahrlich ein Labyrinth, und obwohl Lukdan den Weg kannte, kamen sie aufgrund der eingeschränkten Sichtweite nur langsam voran. Bald müsste jenseits dieser Klippen die Morgendämmerung hereinbrechen. Die Luft war kühl und der Boden feucht vom Regen, der bereits vor vielen Minuten merklich nachgelassen hatte. Dadurch verstärkte sich jedoch der sie umgebende Dunst.

Yala ging dicht neben Tado.

„Erst der Ogerkäfer, dann der Pfeil von Giful, dann die Flucht aus dem Gefängnis, dann Uris’ Zauber und jetzt noch der Blutskorpion“, sagte sie leise. „Wie soll ich mich für all das je revanchieren?“

Ein Geräusch ertönte, als würde jemand in einen Keks beißen, nur ungleich lauter.

„Lass mich darauf zurückkommen, wenn wir wieder draußen sind“, antwortete Tado nur und sah sich dann beunruhigt um. Es klang nicht nach einem Blutskorpion, und somit ergab sich für Lukdan auch kein Grund, anzuhalten. Das Geräusch wurde lauter und ertönte jetzt regelmäßig. Bald darauf erblickten sie seine Quelle: Ein etwa einen Meter großes, gräuliches Wesen steckte zur Hälfte in der Leiche eines Reiguls und fraß dessen Innereien. Es bestand aus nicht viel mehr als einem plumpen, fast runden Körper, besaß zwei recht kurze Hinterbeine und zwei wesentlich längere und kräftigere Vorderbeine, die es offensichtlich dazu benutzte, die Nahrung zu zerkleinern. Als es das Herannahen der Gefährten spürte, zog es seinen länglichen Kopf aus dem Körper des Reiguls. Das Maul war voller Blut, es bot einen schauerlichen Anblick. Tado konnte jedoch sehen, wozu es die übergroßen, armähnlichen Vorderbeine wirklich benötigte. Berührte es damit das Fleisch des toten Tieres, so verbrannte es zu einem braunen Klumpen, den das Wesen fraß. Es beobachtete die Gefährten aufmerksam, machte jedoch keinerlei Anstalten, sie anzugreifen oder vor ihnen davonzurennen.

„Was ist das?“, fragte Yala leicht angewidert.

„Nebelkrabben“, antwortete Lukdan. „Sie sind sehr gefährlich, wenn sie Hunger haben. Ich denke, dass die Blutskorpione sich von ihnen ernähren, wenn nicht gerade Menschen von der Klippe herabstürzen.“

Oder sich freiwillig hierher wagen, fügte Tado in Gedanken hinzu. In diesem Moment nahm er eine Bewegung oberhalb der Nebelkrabbe wahr: Ein schwarzer Schatten kletterte die Felswand hinunter. Das fressende Wesen wurde sich der nahenden Gefahr gewahr und versuchte zu fliehen, doch die übergroße Schere eines Blutskorpions ergriff die Nebelkrabbe und ein gewaltiger Giftstachel injizierte das lähmende Gift.

„Die Blutskorpione sind hier“, bemerkte Tado überflüssigerweise, und er und die anderen gingen in einen Laufschritt über. Sie vernahmen den Schrei der Kreatur, die im Begriff war, die Nebelkrabbe zu verschlingen, und ähnliche Laute drangen als ferne Echos an ihre Ohren. Lukdan führte sie sicher durch die Schlucht, doch der Weg schien noch relativ lang zu sein, und an einer der vielen Stellen, an der sich die Klippen verzweigten, sahen sie aus einer Richtung einen Blutskorpion näher kommen. Er bewegte sich nahezu lautlos und schneller als die Gefährten. Nur gelegentlich blieb er stehen, als lauschte er ihren Schritten nach, um dann erneut die Verfolgung aufzunehmen.

Sie gelangten in eine breite Schlucht, und aufgrund des Nebels vermochte man zur gleichen Zeit jeweils nur eine der beiden begrenzenden Felswände zu sehen. Ein Blutskorpion näherte sich ihnen von oben, indem er die Klippe zu ihrer Rechten, an der sie sich hielten, um nicht die Orientierung zu verlieren, herabkletterte. Sie bemerkten die Gefahr rechtzeitig, denn unter dem Gewicht der Kreatur lösten sich einige kleinere Felsen. So wichen sie den Scherenarmen aus, büßten dafür jedoch einen Großteil ihres Vorsprungs auf den Blutskorpion hinter sich ein. Sie sahen ein weiteres dieser Wesen sich aus einer schmalen Felsspalte, die von der breiten Schlucht abzweigte, herauszwängen und auf sie zusteuern, vier andere Skorpione tauchten vor und links von ihnen aus dem Nebel auf. In einiger Entfernung fraßen einige Nebelkrabben an der Leiche eines bis zur Unkenntlichkeit verunstalteten Tieres. Mehrere abgestorbene Bäume ragten aus dem felsigen Boden bis in zehn Meter Höhe. Darauf liefen die Gefährten nun zu, entkamen um Haaresbreite einem Giftstachel und kletterten schließlich den breiten, vom Dunst sehr feuchten Stamm einer toten Eiche hinauf. Die Blutskorpione gelangten zu spät an den Baum, ihre Scherenarme erreichten die flüchtende Beute nicht mehr. Die Nebelkrabben stoben vor Schreck über die plötzlich auftauchenden Feinde entsetzt auseinander und verschwanden in niedrigen Höhlen in den Felswänden. In der Krone der Eiche waren die drei erst einmal sicher, denn die Blutskorpione wagten es nicht, den Stamm zu erklimmen.

„Was sollen wir jetzt machen?“, fragte Yala verzweifelt. Sie erhielt keine Antwort. Ihre Situation schien mehr als nur aussichtslos. Die riesigen Kreaturen unter ihnen umzingelten den abgestorbenen Baum und blickten gierig zu ihnen empor. Mittlerweile war ihre Zahl auf mehr als ein Dutzend angewachsen und es kamen stetig neue hinzu. Tado bezweifelte, dass sie von einem solch mageren Mahl wie den drei Gefährten satt werden würden. Ein Blutskorpion versuchte, den Baum mit seinen riesigen Scherenarmen zu fällen, doch es misslang ihm. Ein junges Exemplar setzte dazu an, den Stamm zu erklimmen, doch als es einen der unteren Äste erreichte, brach dieser ab und das Wesen fiel wieder hinunter.

Im nächsten Moment wichen die Kreaturen ein Stück zurück und bildeten eine Gasse. Der Grund hierfür zeigte sich schon bald. Ein gigantischer Blutskorpion, der all seine Artgenossen um mehr als einen Meter überragte, ging auf die Eiche zu. Weiße Härchen bedeckten seine mehr als mannshohen Scheren. Der Giftstachel pulsierte unablässig. Die gewaltigen Klauen packten den Stamm und der Skorpion drückte mit aller Kraft zu. Ein beunruhigendes Knacken ertönte.

„Wir brauchen jetzt dringend einen Plan, ansonsten werden das die letzten Sekunden unseres Lebens sein“, bemerkte Lukdan, und zum ersten Mal hörte Tado aus seinen Worten einen leicht unsicheren Unterton heraus.

„Wie weit sind wir noch vom Ausgang der Schluchten entfernt?“, wollte Yala wissen.

Der Baum ächzte bedrohlich und Holzsplitter flogen in alle Richtungen davon.

„Nicht mehr weit“, antwortete der Krieger. „Wir befinden uns zurzeit am Boden des Abgrunds, über den die große Hängebrücke hinein nach Aldostris führt. Wenn wir sie durchquert haben, ist es nur noch ein kurzer Weg, bis eine starke Steigung beginnt, die uns hinauf an die Oberfläche bringt. Warum willst du das wissen?“

Der Blutskorpion hatte die Eiche zur Hälfte durchtrennt.

„So wie ich das sehe, ist dieser Skorpion mit den weißen Scheren eine Art Anführer, zumindest haben die anderen Respekt vor ihm. Also wird es vermutlich auch ihm zustehen, uns zu töten und unsere Reste fallen seinen Artgenossen zu. Es muss uns nur gelingen...“

In diesem Moment ertönte ein lautes Bersten, denn der riesige Blutskorpion hatte sich nicht die Mühe gemacht, den Stamm vollständig zu durchtrennen, sondern ihn einfach abgebrochen, und nun hob er ihn in seinen Scherenarmen weit über die Köpfe der anderen Kreaturen in die Höhe. Seine Kraft musste gewaltig sein, denn die Eiche mochte gut mehrere Tonnen wiegen. In einer triumphalen Bewegung warf er den abgestorbenen Baum in die Höhe und das feuchte Geäst krachte wenige Sekunden später auf den harten Boden der Schlucht.

Die Gefährten blieben bis auf einige Schrammen weitestgehend unverletzt, was bei der Fallhöhe einem kleinen Wunder gleichkam. Wie Yala es vorhergesagt hatte, begannen die Blutskorpione nun, sie einzukreisen, machten aber keine Anstalten, zum Angriff überzugehen. Nur die größte der Kreaturen ging auf sie zu und ließ ihre Scheren auf die drei niederkrachen. Diese konnten sich gerade noch mit einem waghalsigen Sprung zur Seite in Sicherheit bringen.

„Was wolltest du uns vorhin auf dem Baum noch sagen?“, fragte Lukdan an Yala gewandt.

„Wenn wir den Anführer irgendwie verletzen können, bietet sich uns vielleicht eine Möglichkeit zur Flucht“, antwortete sie.

„Ich glaube nicht, dass das funktionieren wird“, meinte Tado. „Die anderen Skorpione werden uns nicht entkommen lassen, auch wenn ihr Anführer versagt hat.“

„Solange du keinen besseren Vorschlag unterbreitest, ist dies unsere einzige Möglichkeit“, entgegnete Lukdan.

Die Gefährten wichen nun immer weiter vor ihrem übergroßen Gegner zurück, dicht an den Rand des Skorpionkreises. Dann teilten sie sich auf, damit wenigstens einer von ihnen die Chance zu einem Angriff erhielte. Leider erzielte dies nicht den erhofften Erfolg: Der Blutskorpion besaß außer seinen beiden Scheren natürlich noch einen Giftstachel, und so vermochte er es, alle drei gleichzeitig in Schach zu halten. So trafen sie sich nach einigen Minuten wieder.

„Alle Versuche, an ihn heranzukommen, sind sinnlos. Außerdem werden unsere Kräfte bald erschöpft sein“, sagte Lukdan schließlich.

„Dann bleibt uns nichts mehr übrig, als zu fliehen“, erwiderte Yala.

„Wie willst du das anstellen? Ungefähr fünfzig Skorpione haben uns umzingelt. Sie würden uns niemals passieren lassen“, gab Tado zu bedenken.

„Aber sie werden uns auch nicht angreifen“, entgegnete sie. „Noch sind wir die Beute des Anführers.“

Der riesige Blutskorpion stieß seinen Stachel in Lukdans Richtung. Dieser wehrte ihn mit gekreuzten Säbeln ab, wurde durch den Impuls jedoch einige Meter weit zurückgedrängt und befand sich nun in unmittelbarer Nähe zum Kreis ihrer Feinde. Er gab den Befehl, Yalas Vorschlag auszuführen und versuchte im nächsten Moment, zwischen zwei Skorpionen den Kreis zu durchbrechen. Die Scherenarme der Kreaturen versperrten ihm umgehend den Weg und er wich einige Schritte zurück. Gleiches geschah auch bei Tado. Yala hingegen ignorierte das Hindernis: Sie sprang auf die gewaltige Schere eines Skorpions und lief von dort aus über dessen Rücken. Das Wesen wand sich, um sie abzuschütteln und versetzte ihr schließlich einen Stoß mit seinem Schwanz. Sie nutzte die Gelegenheit, sich daran festzuklammern und auf der anderen Seite des Skorpions wieder hinunterzuspringen. Tado versuchte gar nicht erst, es ihr gleichzutun, er wusste, dass er es nicht geschafft hätte. Im Moment bereitete ihm allerdings etwas ganz anderes Sorgen. Der Anführer war über das Entkommen eines Teils seiner Beute so sehr erzürnt, dass er einen lauten Schrei ausstieß, woraufhin sich der Kreis aus Skorpionen in Bewegung setzte. Allerdings nicht, um Yala zu fangen, sondern um die verbliebenen Gefährten kampfunfähig zu machen. Die Riesenkreatur benutzte stattdessen ihre gewaltigen weißen Scherenarme, um das Exemplar, das für das Entkommen der Beute verantwortlich war, zu packen und in hohem Bogen davon zu schleudern. Vermutlich hatte es der Anführer jedoch nicht gemacht, um seinen Artgenossen zu bestrafen, sondern um Platz für die Verfolgung zu schaffen, denn er lief der Flüchtenden mit ungeheurer Geschwindigkeit hinterher.

Für Tado und Lukdan hätte sich jetzt aufgrund des Gewimmels die Gelegenheit zur Flucht ergeben, wäre nun nicht ausnahmslos jeder Blutskorpion darauf bedacht, sie um jeden Preis zu töten. Dutzende Scherenarme griffen nach ihnen, doch aufgrund ihrer Größe behinderten sie sich gegenseitig, ihre gewaltigen Klauen verfingen sich, die Giftstachel trafen meist nur den Panzer eines anderen Skorpions. Ein Konkurrenzkampf um die Beute begann, und so gelang es den beiden verbliebenen Gefährten, sich Stück für Stück aus dem Gewimmel der riesigen Kreaturen herauszuarbeiten, bis sie schließlich vor sich nichts als den freien, zum größten Teil von Nebel verdeckten Weg erkannten. Als sie losstürmten, gewannen sie ein wenig Zeit, da die Skorpione gleichzeitig zur Verfolgung ansetzten und ihnen erneut ihre enormen Jagdwerkzeuge die Fortbewegung erschwerten. Es dauerte einige Zeit, bis sie endlich in geordneter Weise hinter den Gefährten herliefen.

Tado und Lukdan sahen vor sich einen Schatten im Nebel auftauchen. Der Riesenskorpion hatte Yala wie erwartet eingeholt und lieferte sich nun mit ihr einen recht einseitigen Kampf. Sie musste unentwegt dem Giftstachel und den beiden Scherenarmen ausweichen und vermochte mit ihrer schlechten Bewaffnung der Kreatur nicht einmal einen Kratzer zuzufügen. Die Schlucht verengte sich hier ein wenig, sodass man sowohl links als auch rechts die Felswände sehen konnte. Was die drei nun wieder beisammen befindlichen Gefährten dort jedoch sahen, erfreute sie in keiner Weise. Offenbar hatte die Skorpionarmee das Problem des Platzmangels in der Klamm lösen können, denn der Teil, der am Boden keine freie Stelle mehr fand, war auf die Felswand ausgewichen. Dort liefen die Kreaturen in geordneten Reihen bis in mehreren Metern Höhe entlang. Ihre Zahl musste bereits einige hundert betragen. Sollten sie sie erneut einkreisen, dann wäre es diesmal um sie geschehen. Noch einmal würden die Skorpione sich einen solchen Fehlschlag nicht erlauben.

Die Gefährten wichen derweil vor den Angriffen des Anführers Stück für Stück zurück und erreichten schließlich das Ende der großen Schlucht. Hier führte ein Pfad, der so schmal war, dass höchstens drei Blutskorpione ihn gleichzeitig nebeneinander durchqueren konnten, ein Stück weit nach links, um gleich danach wieder nach rechts abzubiegen. Eine deutliche Steigung ließ sich am Boden feststellen. Leider kam dies so überraschend, dass die Gefährten stürzten, denn viel Geröll lag auf der Erde und sie bewegten sich schon seit geraumer Zeit rückwärts, um nicht von einem unerwarteten Schlag des Riesenskorpions getötet zu werden. Dieser stand nun praktisch über ihnen und starrte gierig auf sie herab. Seine Artgenossen hatten sie ebenfalls erreicht, und wollten sogleich mit der Bildung eines Kreises beginnen, doch dazu kam es nicht mehr. Bevor ihr Anführer die Gefährten mit seinem Giftstachel ausschalten konnte, warf Yala ihren Dolch in dessen ungeschützte Gesichtspartie. Die riesige Kreatur schrie auf, denn die Waffe bohrte sich tief in eines der Augen. Das Wesen schlug wild um sich, verletzte zahlreiche Artgenossen und räumte Felsen von der Größe eines Menschen mit unkontrollierten Schlägen seiner Scherenarme aus dem Weg. Die Gefährten nutzten die Gelegenheit, die sich ihnen bot, und rannten den steilen Pfad hinauf. Es zerrte sehr an ihren Kräften und die Skorpione würden, sobald sich ihr Anführer beruhigt hätte, sie wohl innerhalb kürzester Zeit eingeholt haben. Der Nebel wurde mit zunehmender Höhe dünner und das Sichtfeld der drei erweiterte sich. Schwaches, morgendliches Sonnenlicht durchdrang den Dunstschleier. Hinter ihnen raste die schwarze Armee der Skorpione heran, doch als das erste Sonnenlicht ihren Panzer berührte, schrien sie auf und blieben wie vor einer unsichtbaren Wand stehen. Als die Gefährten dies registrierten, hielten auch sie für einen Moment an und blickten ihren Feinden entgegen, die vor der aufkommenden Helligkeit nun ihrerseits flüchteten.

Noch eine gute Viertelstunde dauerte es, bis die drei endlich wieder die Oberfläche erreichten und die Klippen von Aldostris hinter sich ließen.

Die Eisenfestung

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