Читать книгу Ishama - Daniela Jodorf - Страница 12

Sechstes Kapitel

Оглавление

Obwohl ich im Nothospital dringend gebraucht wurde und keine freie Minute hatte, stahl ich mich gegen elf am nächsten Vormittag einfach davon. Ich informierte nur Ian, dass ich zwei Stunden fort sein würde.

Die meisten Gassen waren inzwischen weitestgehend geräumt. Tatsächlich herrschte schon wieder ziemlich reger Verkehr. Mopeds und Vespas rasten durch die engen Straßen und transportierten allerlei Lasten. Mehr als einmal musste ich zur Seite springen, um nicht von einem rasenden Zweirad erwischt zu werden. Ohne mich zu verlaufen, fand ich den Weg zur Hütte und klopfte laut an die provisorisch zusammengezimmerte Tür. Es dauerte eine Weile, länger, als ich bei der Größe der Hütte erwartete hätte, bis ich Geräusche im Inneren hörte. Doch niemand sprach oder öffnete. Ich begriff, dass es aus Furcht war.

„Ich bin die Ärztin. Doctor!“

Langsam öffnete sich die Tür – nicht mehr als wenige Zentimeter. Ein Mann blickte mich misstrauisch an. Er wirkte vollkommen erschöpft und war sehr blass.

„Betii. Daughter. I want to help.“

Zögerlich öffnete er die Tür ganz und winkte mich schweigend hinein. Das Mädchen lag mit geschlossenen Augen gut zugedeckt in frischen Laken auf der Pritsche, auf der ich es gestern Abend versorgt hatte. Ich musste herauskriegen, ob es während der letzten zwölf Stunden das Bewusstsein wiedererlangt hatte. Wenn die Verständigung doch nicht so schwierig wäre, dachte ich. „War sie heute schon wach?“

Der Mann verstand mich nicht. Ich suchte verzweifelt nach einem Urdu-Wort. „Awake. Badaar?“

„Bedaar!“ korrigierte er mich und nickte.

Ich machte eine Geste, die Trinken bedeuten sollte. Er lächelte fast ein wenig stolz.

„Chai! Tea!“

Sie hatte getrunken. Wunderbar! Ich fühlte den Puls der jungen Frau, er ging noch sehr langsam, doch regelmäßig und war deutlicher zu spüren als in der Nacht. Sie hatte leichtes Fieber, doch offenbar hatten sich die inneren Wunden nicht weiter entzündet. Ich musste sie ausziehen, um die schlimmsten Verletzungen zu untersuchen. Der Vater verließ den Raum durch eine hintere Tür, die mir gestern Abend nicht aufgefallen war.

Die Wunden waren in einem außergewöhnlich guten Zustand. Ich arbeitete schnell und konzentriert und nahm die extreme Besserung – ganz anders als bei dem Mädchen im Kinderzelt – als Tatsache und nicht als persönliche Bedrohung wahr. Der Raum schien mit einer hellen Kraft erfüllt zu sein, die ich nur aus einer einzigen Begegnung meines Lebens kannte: der mit Iman. Doch außer mir war niemand hier.

Das Mädchen wachte auf, als ich ihm eine Spritze gab. Es sah mich ängstlich mit großen schwarzen Augen, die von tiefen Ringen umgeben waren, an.

„Ich bin Ärztin“, sagte ich erklärend und beruhigend auf Englisch. „Ich bin hier um zu helfen. Sie sind sehr schwer verletzt.“

„Ich weiß“, flüsterte sie unter großer Anstrengung. „Sie waren gestern Abend schon hier, hat mir meine Mutter erzählt.“ Ihr Englisch war hervorragend. Dennoch benutzte ich die Urdu-Worte, die ich kannte.

„Meraa naam Ellen hai! Mein Name ist Ellen. Wie heißen Sie?“

„Naisha.“

„Können Sie sich erinnern, was passiert ist, Naisha?“

Sie schwieg lange, um Kraft für das Sprechen zu sammeln. „Meine Mutter hat mir erzählt, was passiert ist. Sie hat gesagt, sie ist bis zum Krankenhaus gelaufen, um Sie zu holen. Danke, Misses Ellen.“

„Ich versuche, morgen wiederzukommen“, sagte ich, um die Kräfte Naishas zu schonen. „Wir haben sehr viel Arbeit. Ich weiß nicht, ob und wann ich aus dem Krankenhaus weg kann.“ Sie schlief bereits wieder und das war gut, sehr gut.

Ich legte einige Tabletten auf den Nachttisch und schrieb die Dosierung darauf, dann verließ ich die Hütte. Als ich durch den Spalt der Tür noch einen letzten Blick auf Naisha warf, sah ich wieder dieses eigenartige Licht um sie herum. Gleichzeitig löste sich jeglicher Druck in mir auf, für Naishas Genesung kämpfen zu müssen. Tiefe Ruhe ergriff Besitz von mir. Ich musste nichts tun, wusste ich plötzlich. Naishas Gesundheit lag nicht in meiner Hand, aber auch nicht in meiner Verantwortung und doch würde sie sich vollständig erholen, weil ich bei ihr gewesen war. In meinem gesamten Berufsleben hatte ich mich in meiner Rolle als Ärztin noch nie so frei gefühlt.

Beflügelt von dem Gefühl der Freiheit lief ich zurück durch die Gassen einer zerstörten Stadt, die sich atemlos um Wiederaufbau bemühte, und genoss den Ausflug bei Tageslicht, obwohl mein Blick fast ausschließlich auf Schutt und Asche fiel. Doch an einigen Ecken hatten bereits geschäftstüchtige Händler wieder eröffnet. An notdürftig aufgestellten Ständen gab es alles zu kaufen, was man zum täglichen Leben brauchte – von Drogerieartikeln über Chips und Cola bis hin zu Obst und Gemüse. Zufällig hatte ich ein paar Rupien dabei und kaufte mir an einem Stand in der Nähe des Krankenhauses eine Cola. Ich hatte noch über eine Stunde Zeit und genoss das Gefühl der nie zuvor so sehr geschätzten Freiheit, den eigenen Impulsen zu folgen. Ich stand einfach am Straßenrand und trank die Cola mit einem Strohhalm. Koffein und Zucker belebten meine Stimmung und ich verspürte ein tiefes Gefühl des zarten Glücks. In diesen Tagen waren es die einfachen Dinge, die mich mit Wohlbehagen erfüllten. Plötzlich hörte ich eine sanfte Stimme neben mir.

„Du bist eine gute Ärztin!“ Mein Herz raste vor Aufregung und Freude. Iman!

„Nicht so gut wie du“, entgegnete ich spontan und unüberlegt.

„Ich bin keine Ärztin“, gab Iman bestimmt zurück.

„Entschuldigung.“ Ich kam mir entsetzlich dumm vor, doch Iman fasste meinen Arm freundschaftlich. Ihre Berührung war warm und kühl zugleich. Sie glich dem eigenartigen Kribbeln eines elektrischen Energiestroms. Diese Energie linderte jedes Leid. Auch das kleine Leid der unnötig empfundenen Scham.

„Woher solltest du das wissen“, sagte sie sanft. Ich schwieg, weil es nichts zu erwidern gab.

„Darf ich dich zum Mittagessen einladen?“

Ich war auf diese Frage nicht vorbereitet, obwohl ich doch zuletzt nichts lieber gewollt hatte, als dieser Frau erneut zu begegnen, Zeit mit ihr zu verbringen und von ihr zu lernen. Doch in ihrer Gegenwart hatte ich nun die eigenartige Empfindung, viel zu langsam zu sein. Mir war, als denke und handele sie schneller als ich – und vor allem, als begriffe sie Zusammenhänge schneller als ich. Mühsam stammelte ich: „Gerne, aber, äh ...ich ...Ich habe nur eine Stunde Zeit.“

Iman lachte ein sehr freies, wunderschönes Lachen. „Eine Stunde ist eine Ewigkeit! Komm!“ Sie hielt mich noch immer am Arm. Ich stellte die leere Colaflasche in einen Kasten neben dem Verkaufsstand und folgte ihr. Wir liefen wieder durch Gassen und über Straßen weiter Richtung Osten. Es wurde immer enger, ich verlor die Orientierung. Dann erreichten wir einen Teil der Stadt, der vom Beben völlig unversehrt geblieben war. Eine ganze Häuserzeile stand dort, ohne nennenswerten Schaden genommen zu haben. Nur ein paar Risse zogen sich durch die Außenwände der Mauern. Iman blieb vor einem dieser Häuser stehen und öffnete eine schwere Holztür, die in einen sauber gefegten Innenhof führte. Wir überquerten den kleinen, vielleicht vier Quadratmeter großen Hof und betraten über eine überdachte Terrasse gegenüber der Eingangstür einen Salon.

Im halbdunklen Raum umfing mich absolute Stille. Kein Geräusch drang von der Straße herein. Der Raum wirkte fast schalldicht auf mich. Irritiert blickte ich umher. Doch Iman lächelte beruhigend und bedeutete mir, ihr zu folgen. Gleich darauf rückte ein weiterer Sinneseindruck in den Vordergrund meiner Wahrnehmung: der Geruch von Rosenwasser und Sandelholz. Die zarten orientalischen Düfte lösten ein Gefühl der Geborgenheit und der tiefen Entspannung in mir aus. Erst jetzt empfand ich die eigenartige Stille als angenehm und schützend. Iman legte ihren Schleier ab und zum ersten Mal sah ich ihr Gesicht. Doch alles, was ich in diesem Augenblick wahrnahm, war ihr gütiger Blick. In ihren Augen lagen tiefes Verständnis und die beruhigende Aussage, dass es nichts im Leben gab, das ich fürchten müsste. Als ich in Imans Augen blickte, war mir, als kenne sie mich, wie niemand mich zuvor gekannt hatte – meine Eltern nicht, meine besten Freunde nicht. Niki nicht. Imans Blick linderte jede Form von Leid, der ich jemals begegnet war. Mir war, als erinnerte ich mich gleichzeitig an dieses Leid und vergäße es im selben Moment, als Imans Wahrnehmung es wie ein zarter Windhauch berührte und mich auf einer Ebene tröstete, auf der noch niemand zuvor mit mir kommuniziert hatte.

Erst jetzt war ich in der Lage, die Feinheiten ihrer klassischen Gesichtszüge zu erkennen. Iman war eine sehr schöne Frau. Sie erinnerte mich an Benazir Bhutto, obwohl ihr Gesicht jünger, viel klarer und ebenmäßiger geformt war. Mir war, als kannte ich dieses Gesicht schon mein Leben lang, ja sogar über mein Leben hinaus. Gab es so etwas? Konnte man mit einem anderen über die Grenzen des eigenen Lebens hinaus bekannt und verbunden sein?

Lautlos tauchte eine Dienerin auf und verneigte sich vor uns. Iman gab klare Anweisungen für das Mittagessen, dann verschwand das Mädchen. Ich wagte nicht, mich neugierig umzusehen, denn auch hier geschah, was schon im Keller der verletzten Familie geschehen war: Durch Imans Gegenwart veränderte sich der Raum, er wurde irgendwie heilig.

Iman schwieg und mir war, als schweige nicht nur ihr Mund, sondern auch ihr Geist und ihr Herz. Sie setzte sich anmutig vor einen festlich gedeckten Holztisch auf den Boden.

„Hast du Besuch erwartet?“, fragte ich. Meine eigene Stimme klang viel zu laut und viel zu blechern. Ich erschrak, als mir bewusst wurde, dass mir in diesem Moment Imans Zartheit und ihr Feingefühl fehlten, obwohl ich kein grober Mensch war.

„Setz dich zu mir, Ellen!“ Ich folgte ihrer Bitte wie einem inneren Befehl. „Ich habe dich zum Essen erwartet.“

„Mich? Aber wir kennen uns doch kaum.“

„Du hast mich gesucht und nun ist der Zeitpunkt gekommen, dir einige deiner Fragen zu beantworten.“

Da brachte das Mädchen schon das köstlich duftende Mittagessen. In aller Ruhe stellte es verschiedene Schalen auf den Tisch. Reis, Lamm, Linsen, Blumenkohl. Nachdem es uns Wasser eingeschenkt hatte, blickte das Mädchen Iman an. Erst als diese zufrieden nickte, verließ es geräuschlos den Raum auf nackten Füßen.

Iman nahm meinen Teller und tat mir mit einem silbernen Löffel von allen Speisen auf. Nachdem sie auch sich selbst genommen hatte, sah sie mich wieder an. „Du hast uns nicht zufällig und grundlos getroffen. Nichts in unserem Leben ist Zufall. Ebenso wenig bist du heute zufällig in Kashmir.“

„Das ist bestimmt kein Zufall, denn ich habe gerade erst meinen Krankenhausjob in Deutschland verloren“, platzte es aus mir heraus.

„Warum?“, wollte sie wissen. Ich erzählte ihr die ganze Geschichte, die zu meiner Kündigung und der plötzlichen Abreise nach Kashmir geführt hatte, und ließ diesmal auch die Details nicht aus, die ich Ian nicht berichtet hatte. Wenn jemand verstehen konnte, was mir geschehen war, dann war es Iman, glaubte ich.

„Wenn der Zeitpunkt gekommen ist, dass wir zu uns selbst zurückfinden müssen, geschehen wunderbare Dinge, die uns viele schmerzhafte Entscheidungen ersparen!“

War das so, fragte ich mich. Waren mir viele schmerzhafte Entscheidungen erspart worden? Litt ich nicht vielmehr deshalb, weil ich alles verloren hatte und als Helferin im größten Leid gebraucht wurde, das mir je begegnet war?

„Alles ging sehr schnell, das ist wahr.“ Mehr konnte und mehr wollte ich nicht zugeben.

„Ja, und wenn du nicht von den Umständen dazu gezwungen worden wärest, dich bei DoctorsAid für einen längeren Zeitraum zu bewerben, hättest du es nicht getan“, konstatierte Iman.

„Natürlich nicht.“ Meine Stimme wurde lauter als ich wollte. „Ich war glücklich mit meinem Job und mit meiner Beziehung.“

„Erzähl mir von ihm!“

„Wir sind seit über zehn Jahren zusammen.“

„Seid ihr es noch?“ Sie sah mich durchdringend an.

Ich blickte an Iman vorbei in den Hof. Diesmal war auch meine Stimme leise: „Nein.“

„Seit wann?“ fragte Iman. Wieso wollte sie alles so genau wissen?

„Seit dem Tag, an dem ich das Krankenhaus verlassen habe.“

„Was ist da mit euch passiert? Kannst du das beschreiben?“

„Ich glaube, ich war an diesem Tag plötzlich eine andere. Es war, als hätte ich eine andere Welt betreten. Weder meine Kollegen noch Niki konnten oder wollten diese Welt mit mir betreten.“

Iman sah mich ruhig an. Erst nach einer Weile sagte sie leise: „Ja, so ist es!“

Das Essen war scharf und salzig, manchmal ein wenig süß und die eine oder andere Speise auch säuerlich. Ich schmeckte Koriander heraus, Ingwer und Kreuzkümmel. Nach dem Essen tauchte das Mädchen wieder lautlos aus dem Hintergrund auf, um den Tisch abzudecken und uns Schälchen für den Nachtisch sowie kleine Teegläser zu bringen. Fasziniert beobachtete ich das stumme Zusammenspiel von Hausherrin und Dienerin, das einem perfekten Tanz glich.

„Wenn ich nicht zufällig hier bin, warum dann?“, wagte ich Iman endlich zu fragen, als wir wieder allein waren. Sie nahm einen Schluck Tee, bevor sie leise antwortete. „Du bist hier, um dein geistiges Erbe anzutreten!“

Ich empfand irgendetwas zwischen furchtbarem Schock und absolutem Hochgefühl. Imans Worte schienen mir so bedeutungsvoll, dass ich immer wieder nur eines denken konnte: dein geistiges Erbe. Ich hatte keine Vorstellung davon, was Iman mit diesen drei Worten meinte. „Mein geistiges Erbe?“

„Du hast dich viel zu lange in der Welt der Illusion und der Projektion verstrickt. Du hast vergessen, wer du wirklich bist. Nicht, weil du es nicht weißt, sondern weil die Illusion in der Welt, in der du gelebt hast, sehr stark war. Dort, wo du bisher gelebt hast, wusste niemand, wer du wirklich bist. Niemand wusste, wer er wirklich ist. Jeder sah Dinge, die nicht da waren, weil er von Wünschen getrieben und von Angst gequält wurde. Doch diese Zeit ist nun vorbei. Deine Zeit der Blindheit ist vorbei. Du bist hier, weil du beginnst, dich an dein wahres Wesen zu erinnern, und weil wir hier sind, die Menschen, zu denen du immer gehört hast und immer gehören wirst – deine geistige Linie.“

„Was ist eine geistige Linie?“, musste ich wissen.

„Eine geistige Linie ist eine ewige, unendliche und untrennbare Kette von inneren Verbindungen zwischen Menschen mit den gleichen geistigen Fähigkeiten und Aufgaben.“

„Welche Fähigkeiten und Aufgaben sollten das sein?“

Iman ließ sich mit der Antwort viel zu lange Zeit.

„Ich spreche von den geistigen Qualitäten der Wahrheit, der Weisheit und der Liebe.“

Ein Schauer lief mir über den Rücken und breitete sich zu einer Gänsehaut auf meinem ganzen Körper aus. „Das sind große Worte, Iman. Vielleicht die größten, die ich je gehört habe. Ich würde nicht einmal wagen, sie auszusprechen. Und ich glaube kaum, dass diese zu meinen persönlichen Fähigkeiten zählen.“

„Wie ich bereits sagte, du hast vergessen, wer du wirklich bist.“

„Was bedeutet es, ein Mensch der Wahrheit zu sein, wahrhaftig zu sein?“

„Es bedeutet, in der Wirklichkeit gegründet zu sein, jenseits des individuellen Geistes, jenseits von Vorstellungen, Wünschen und Ängsten. Wir nennen die Wahrheit das Selbst, die Natur des Lebens und des Menschen. Die Wahrheit ist reines bewusstes Sein.“

„Seid ihr Philosophen?“

„Nein“, Iman lächelte, ohne mehr erklären zu wollen.

„Und Weisheit? Wie zeigt sich diese Weisheit in einem Menschen?“

„Wer die Wahrheit kennt, wer das Selbst verwirklicht hat, kennt die Wirklichkeit. Er ist frei von der Notwendigkeit des Denkens, deren Bruder der Zweifel ist, weil er mit Augen jenseits des Verstandes sieht. Er weiß, wer er ist. Diese Kenntnis, diese Selbsterkenntnis, hat ihm das Geheimnis des Lebens enthüllt. Allein dieses Wissen wird seine Handlungen leiten. So wird er niemals fehlgehen.“

So wie meine Entscheidung, nicht zu operieren, und später die Entscheidung, nach Kashmir zu reisen. Ich nickte schweigend.

„Doch die Liebe ist ein sehr großes Wort, Iman. Ich glaube nicht, dass ich eine besondere Liebesfähigkeit besitze.“

Iman sprang auf. Es war das erste Mal, dass sie eine heftige emotionale Reaktion zeigte. Sie wirkte wütend, doch selbst in ihrer Rage noch anmutig und fein. „Du bist wirklich blind, Ellen. Du hast dich viel zu lange mit viel zu wenig zufriedengegeben. Hast du nie das Gefühl gehabt, dass dir etwas fehlt? In deinem Job, in deiner Familie, in deiner Beziehung?“

„Nein, ich war sehr glücklich. Mein Leben war erfüllt. Ich habe mich geliebt gefühlt und die Menschen in meiner Umgebung geliebt.“

„Ich will dir sagen, was Liebe ist“, Iman sprach noch immer laut und überdeutlich. Nichts schien ihr so wichtig zu sein wie dieses Thema. Ihre Leidenschaft steckte mich irgendwie an. Sie durchdrang mich wie loderndes Feuer. Eine fremde Aufregung ergriff Besitz von mir. Wissbegierig hing ich an Imans Lippen. „Liebe ist unser Wesen. Sie ist das ungeteilte Sein. Sie ist die Wirklichkeit, die sich durch Weisheit ausdrückt. Wer nicht liebt, wird sich selbst niemals erkennen, so wie der Liebende keiner Übungen und Selbsterforschungen bedarf, um sich seines Wesens bewusst zu sein. Du glaubst, wenn man eine Wohnung und ein Bankkonto teilt und die gleiche Tageszeitung liest, hat man genug gemeinsam, um sich zu lieben. Wie konntest du dich von deiner oberflächlichen Kultur nur so täuschen lassen!“

Ihre Erschütterung war echt. Ich spürte die Aufrichtigkeit ihrer Worte und deshalb keine Wut. Sie wusste besser, wer ich wirklich war, als ich selbst. Und sie hatte recht. Es war der richtige Zeitpunkt. Heute war ich bereit, mich durch ihre Augen zu sehen. Das, was sie sah, hatte die Macht, jede falsche Vorstellung zu zerstören. Und doch schien mir ihr Bild von mir zu schön, um wahr zu sein.

„Beziehung ist Arbeit“, gab ich nüchtern zurück, ohne diesen stereotypen Satz wirklich zu glauben. Aber ich hatte das Gefühl, Imans Worten und ihrer tiefen Bedeutung irgendetwas entgegensetzen zu müssen.

„Nein, Ellen. Beziehung ist eine Illusion. Die Liebe ist zwischen allen Wesen, nicht nur zwischen Mann und Frau. Sie ist zwischen dir und allem, was du erblickst, allem was du fühlst, allem, was du riechst, allem, was du schmeckst, allem, was du hörst. Nur wenn du liebst, bist du du selbst, bist du weise und wahr, weil du dich selbst nur dann nicht als Subjekt erlebst, dass von dem Geliebten getrennt ist. Du bist hier in Kashmir, um zu lieben. Alles andere wird sich von selbst ergeben.“

Es war wie eine innere Bombe, die explodierte. Eine Bombe, die mit der gesamten Energie von Imans und meiner Gefühlswelt gefüllt war. Nein, mehr noch. Ihre Füllung ging weit über bloße emotionale Energie hinaus. Diese Bombe, die Imans Worte in mir zündeten, war gefüllt mit der Kraft der Wahrheit, der Selbsterkenntnis. Ich hatte tausend Einwände, sah tausend Gründe, warum Iman unrecht haben musste. Ich war hier, um Menschenleben zu retten, um pausenlos zu operieren, um zu helfen und zu heilen. Mir blieb keine Zeit für persönliche Gefühle – nicht für meine Patienten und nicht für andere. Ich war so beschäftigt und spürte so viel Leid, dass ich keinen Raum für Liebe sah. Ich kam nicht einmal auf die Idee, dass Iman eine ganz andere Form der Liebe meinte, als ich.

„Du glaubst mir nicht. Das zeigt, wie sehr du dich von dir selbst entfernt hast, Ellen.“

Iman kannte nicht nur mich, sie kannte sich selbst und sie hätte jeden anderen ebenfalls gekannt. Iman wusste, was zutiefst menschlich war. Allein diese Tatsache löste ein so erhebendes, beruhigendes Gefühl aus, dass ich nicht den leisesten Impuls verspürte, mich zu verteidigen. Iman blickte so tief auf den Grund der menschlichen Existenz, dass sie das Größte sah, zu dem der Mensch fähig war. Ich war ihr dankbar, dass sie diese Größe auch in mir sah. „Ich möchte dir so gerne glauben, Iman“.

Sie lächelte sanft. „Ich weiß. Es wird die Zeit kommen, wenn du dich mit meinen Augen siehst.“ Wieder sah sie mich mit ihrem sanftmütigen, gütigen Blick an, während sie sich von ihrem Kissen erhob. „Doch jetzt ist es Zeit, dass du gehst.“

Ich sah auf die Uhr. Es war viertel vor eins.

„Du wirst pünktlich im Hospital sein. Mein Mädchen ruft dir eine Rikscha.“

Ich erhob mich schwerfällig vom Boden. So gerne wäre ich hier in Imans wissender Nähe geblieben, um nicht zu vergessen, wie sie mich sah. Doch sie hatte recht: Ich musste gehen.

Als sie das Tor des Hofs öffnete, hatte ich für einen Augenblick Angst, der Welt da draußen nicht mehr gewachsen zu sein. Ich glaubte, nicht mehr Teil des Überlebenskampfes sein zu können, dessen Zeuge ich täglich aufs Neue wurde. Schwer fühlte ich meine Knochen in meinem Körper und noch schwerer wog mein melancholisches Herz. Als die Rikscha kam, musste Iman mir einen leichten Stups geben, damit ich mich von ihr losriss. Alles ging so schnell, dass ich kaum Zeit fand, mich zu verabschieden. Iman nickte nur stumm und als die Rikscha losfuhr, war es zu spät, die eine Frage zu stellen, die mich beschäftigte: Wann werden wir uns wiedersehen?

Während ich wieder im Nothospital Knochenbrüche richtete, Arme und Beine schiente und verband, Spritzen aufzog und setzte, Trost spendete und Mitgefühl zeigte, kam mir immer wieder Niki zu Bewusstsein. Ich erinnerte mich an mein Gespräch mit Ian, der mir geraten hatte, noch einmal mit Nik zu sprechen und die Beziehung ausdrücklich zu beenden, und an Imans überdeutliche Worte: „Du glaubst, wenn man eine Wohnung und ein Bankkonto teilt und die gleiche Tageszeitung liest, hat man genug gemeinsam, um sich zu lieben. Wie konntest du dich von deiner oberflächlichen Kultur nur so täuschen lassen!“ Ja, so hatte ich mit Niki gelebt, wurde mir plötzlich klar, und es war wie ein schmerzhaftes Erwachen aus einem Traum, den ich für Glück gehalten hatte.

Als ich das Läuten am anderen Ende der Leitung hörte, sah ich unsere Wohnung vor mir. Es klingelte einige Male, bevor Niki das Gespräch entgegennahm. Wahrscheinlich aß er gerade zu Abend. „Ja, bitte.“

„Niki, hier spricht Ellen!“

„Ellen, rufst du wegen der Zelte an? Ich kann dir erst morgen sagen, ob ich sie kriege.“

„Nein, Nik. Nicht wegen der Zelte. Wegen uns ...“

Er reagierte nicht.

„Wir müssen über uns reden, Niki.“

„Was gibt es da zu reden?“

„Ich möchte, dass du mich verstehst!“

„Wie soll ich dich verstehen? Du hast deinen Job verloren und zerstörst deine Beziehung gleich mit. Nein, ich verstehe dich nicht. Ich erkenne dich nicht einmal mehr. Ich hätte nie gedacht, dass du so egoistisch sein könntest.“

„Genau das meine ich, Niki. Du verstehst nicht, was mir wirklich passiert ist.“

„Was ist mit dir passiert, Ellen? Einmal in deinem Leben laufen die Dinge nicht so, wie du sie dir vorgestellt hast, und schon schmeißt du alles hin und zerstörst alles? Das ist krank. Das verstehe ich.“

„Aber so war es nicht, Nik. Ich habe Dinge erlebt, die man nur schwer erklären kann. Ich konnte plötzlich sehen, was passieren wird, und ich wusste, dass es kein anderer sah und dass niemand meine Entscheidung, nicht zu operieren, akzeptieren würde. An diesem Tag in der Klinik war ich nicht mehr die Handelnde, sondern die Beobachtende. Ich wusste viel mehr, als ich wissen konnte, war klarer und bewusster als jemals zuvor. Meine Wahrnehmung hat sich verändert und hier in Kashmir ist das noch viel deutlicher. Ich weiß Dinge, die ich nicht wissen kann, habe Fähigkeiten, die ich nicht haben kann, ich begegne Menschen, die mich inspirieren, die mir eine ganz neue, wunderbare Art zu leben zeigen. Ich habe das Gefühl, jahrelang nicht gewusst zu haben, wer ich wirklich bin. Ich kann nicht mehr so leben wie vor dieser Erfahrung.“

„Ich, ich, ich ... Ellen, das ist eine Sinnkrise. Die kennt jeder. Aber nicht jeder reagiert so blindwütig darauf wie du und zerstört sein Leben und das eines anderen gleich mit.“

„So siehst du das?“

„Ja, so sehe ich das!“

„Du weißt, dass ich nicht nach Frankfurt zurückkommen werde?“

„Nein, das wusste ich nicht, aber ich nehme es zur Kenntnis.“

„Lebewohl.“

Niki hörte mich nicht mehr. Er hatte schon aufgelegt.

Der Schmerz war anders als nach unserem letzten Gespräch, weniger existenziell. Er war nicht mehr mit Verzweiflung gemischt, denn meine Begegnung mit Iman hatte mir einen neuen Halt gegeben und einen neuen Weg gezeigt – den inneren Weg. Iman glaubte, dass es richtig gewesen war, der inneren Stimme nach Kashmir zu folgen, und sie hatte mir Hoffnung gegeben. Plötzlich konnte ich mir vorstellen, dass das Leben mehr für mich bereithielt als das Alte und Bekannte, und ich wollte herausfinden, was das sein könnte.

Wie jeden Abend, seit der wundersamen Nacht, die ich im Kinderzelt geschlafen hatte, besuchte ich die Kleinen, bevor ich schlafen ging. Der kleine Ameen hatte uns inzwischen verlassen und das Mädchen, das Ian und ich operiert hatten, konnte schon aufstehen und mit den anderen spielen. Heute kam ich auf dem Weg zum Kinderzelt am Schwesternzelt vorbei. Dort war der Aufenthaltsraum für die Schwestern und ihr Büro. Ich hörte laute Stimmen und hielt automatisch inne.

„Was lehrt euch denn euer Gott über die Hilfe und über die Liebe?“

„Willst du mich provozieren, Irene?“ Das war Schwester Baquiya.

„Antworte mir doch, wenn du eine Antwort hast?“

„Was weißt du denn von Allah. Wenn du deinen Gott kennen würdest, dann würdest du nicht so reden.“

„Ich bin Christin, jawohl, und dafür werde ich mich nicht entschuldigen, nur weil ich in einem muslimischen Land arbeite.“

„Aber das verlangt doch niemand von dir, Irene.“

„Kennt ihr denn überhaupt so etwas wie Nächstenliebe? Wisst ihr, was es bedeutet, seinen Nächsten zu lieben wie sich selbst?“, fragte Irene bitter. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass Schwester Baquiya Anlass zu derartigen Vorwürfen gegeben hatte. Sie blieb erstaunlich gelassen.

„Wer Gott liebt, liebt auch die Menschen. Das ist Allahs Gesetz und er verlangt von jedem Gläubigen den Zakaat, eine Abgabe für die Armen und Bedürftigen. Jeder Moslem hat ein im Koran verbrieftes Recht auf diese Hilfe und er hat auch ein Recht auf die physische Hilfe, die wir hier leisten.“

„Pah, Hilfe! Ihr helft nicht, ihr bemitleidet.“

„Wie kannst du so etwas behaupten?“

„Das Leiden ist der Königsweg zu Gott. So hat es Jesus vorgelebt. Er hat gelitten und jeder Leidende ist mit ihm, hat die Chance, zu ihm zu werden und durch ihn zu Gott zu gelangen. Wer Leiden mit Mitleid lindern will, ist ein Narr, der dem Leidenden die Chance nimmt, im Leiden Jesus gleich zu werden.“

„Irene, hier gibt es niemanden, der Mitleid hat. Hier gibt es viele Menschen, die selbstlos helfen. Ärzte und Schwestern, die ein besseres Leben in ihrer Heimat haben könnten und dennoch bereit sind, die Leidenden zu trösten und zu tun, was getan werden muss, damit diese Gegend wieder auf die Beine kommt. Wir haben Mitgefühl, kein Mitleid. Diese Nächstenliebe zeichnet deinen Jesus, der übrigens auch in unserem Koran eine Rolle spielt, besonders aus. Er war der Erste, der zu den Armen und Kranken ging und viele heilte. Er war es, der sich den Sündern zuwandte. Wie kannst du behaupten, ein Mensch könne Gott nur im Leiden nahekommen? Wenn das der Fall wäre, hätte Jesus die Leidenden niemals geheilt. Das ist Irrsinn, was du da redest! Leiden ist nicht edel. Wach auf!“

Ich hatte genug gehört und betrat das Schwesternzelt schweigend. Ernst sah ich zuerst Schwester Baquiya und dann Irene an. Beide verstummten augenblicklich und Schwester Baquiya wollte sich entschuldigen.

„Schon gut, Schwester Baquiya. Bitte sehen Sie noch einmal nach den Kindern.“

Als sie das Zelt verlassen hatte, wandte ich mich Irene zu. „So etwas werde ich hier in diesem Nothospital nicht dulden, Schwester Irene. Bitte kommen Sie morgen um zehn ins Besprechungszelt!“

Dann folgte ich Schwester Baquiya zu den Kindern. Sie beugte sich gerade über ein Mädchen, das im Schlaf redete, und deckte es zu. Ich sah sie an und bedeutete ihr wortlos, mit mir vor das Zelt zu kommen, damit unser Gespräch die Kinder nicht weckte.

„Was war denn bloß los, Schwester Baquiya?“

„Ich weiß es nicht. Irene hat mich plötzlich angegriffen. Ich hatte gerade ein Lied gesungen, weil zwei der Kinder nicht einschlafen konnten.

„Bitte kommen auch Sie morgen um zehn ins Besprechungszelt. Ich werde den Vorfall mit Dr. de Man besprechen.“

„Muss das sein? Schwester Irene leistet sehr gute Arbeit.“

„Ja, das macht sie, aber es ist nicht das erste Mal, dass sie sich sehr auffällig verhält.“

Schwester Baquiya nickte und ich berührte sie leicht und freundschaftlich am Oberarm. Ein starker Energiestrom floss unvermittelt durch meine Hand zu Baquiya. Sie sah mich mit tränengefüllten Augen an.

„Ist alles in Ordnung, Baquiya? Kann ich noch etwas für Sie tun?“ Ihr Blick war eigenartig tief. Mir war, als schaue sie in die leere Ferne, als sie noch etwas zu mir sagte: „Eine Frau trug einen Eimer mit Wasser in der einen und eine brennende Fackel in der anderen Hand. Jemand trat zu ihr und fragte sie, was sie mit Feuer und Wasser vorhabe. ‚Ich werde das Wasser in die Hölle gießen und Feuer im Paradies legen, damit diese beiden Schleier verschwinden. Niemand soll mehr Gott aus Furcht vor der Hölle oder aus Sehnsucht nach dem Paradies anbeten, sondern einzig und allein aus Liebe zu ihm.‘ “

Am nächsten Morgen wachte ich zeitig auf. Ich wollte noch einmal nach Naisha sehen. Heute winkte ich auf der Straße eine Rikscha heran und der Fahrer brachte mich in einer Viertelstunde zu dem kleinen Haus. Ich bat ihn, auf mich zu warten, und klopfte zaghaft. Naishas Mutter öffnete mir. „Dacta, Misses! Come!“, rief sie erfreut.

Die ganze Familie saß zum Frühstück auf dem Boden beisammen. Ich erkannte mehrere Brüder von Naisha an der verblüffenden Ähnlichkeit und nickte stumm, während ich zu Naishas Krankenlager hinüberging. Die Männer sahen nur kurz auf. Naisha trank sitzend einen dampfenden Tee. Ich nahm den Fortschritt sofort wahr. Sie lächelte, als sie mich sah.

Shukriya, thank you for coming again. You have so much work. All people are ill. Sie haben so viel Arbeit, so viele Kranke.”

Don´t worry. I have the time to come here! Ich habe genug Zeit.”

Naisha wirkte energiegeladen und fröhlich. Sie wollte mir sofort berichten, dass es ihr viel besser ging. Sie habe fast keine Schmerzen mehr. Auch die Blutungen hätten aufgehört. Sie habe in den letzten beiden Nächten sehr tief geschlafen. So tief, als hätte sie das Bewusstsein völlig verloren. Wenn sie am Morgen aufwachte, habe sie nicht gewusst, wer sie war und wo sie war. Doch dann sei die Erinnerung zurückgekehrt, sie habe ihren Körper gespürt und die Schmerzen der Verletzungen ... Doch es sei ihr auch jeden Morgen viel, viel besser gegangen.

Vorsichtig fragte ich nach ihrem seelischen Zustand. Naisha sah mich an und Tränen bildeten sich in ihren Augen. Ich streichelte beruhigend über ihren Arm. Sie griff nach meiner Hand und drückte sie fest.

I am good, Misses Ellen. Es geht mir gut.” Sie könne sich noch nicht an alles erinnern, doch sie wisse, dass ihre Seele keinen Schaden genommen habe, erklärte Naisha mir. Ihr Körper sei geschlagen und verletzt worden, ihr Geist sei gedemütigt und sinnlos bestraft worden, aber ihre Seele habe den Tätern verziehen.

Ich wollte aufbegehren, wollte das junge Mädchen fragen, wie das möglich sei. Doch jegliche Frage löste sich auf, bevor sie mir über die Lippen kam. Ich fühlte, dass Naisha die Wahrheit sprach. Als sie das Wort „Vergebung“ aussprach, geschah etwas Merkwürdiges. Mein Herz dehnte sich aus, mein Geist leerte sich, die Kraft ihrer Worte übertrug sich auf mich. Und in diesem Moment sah ich, was Naisha fühlte und erlebte. Wirkliche Vergebung! Die Macht der echten Vergebung rollte auf mich zu wie eine gigantische Welle, schwappte über mich hinweg und vibrierte dann in jeder Zelle meines Körpers. Mein Herz wurde weich und für einen kurzen Augenblick erlebte ich ein Gefühl, das ich niemals zuvor erlebt hatte: Seligkeit.

Als es verebbte, bemerkte ich, dass Naisha mich mit großen Augen ansah. Auch ihre Mutter blickte erstaunt auf mich. Selbst die Männer schwiegen plötzlich und ihr Blick wirkte irgendwie berührt und ehrfürchtig. Ja, sie sahen mich fast ebenso an, wie ich Iman damals im Keller angesehen haben musste.

I have to go now. You will be fine!” sagte ich nüchterner als ich eigentlich wollte. „I will come back! Ich komme bald wieder.“

Die Mutter ergriff meine Hände und drückte sie fest.

Mein Kopf war noch immer leer und mein Herz weich und weit, als ich auf die Straße trat. Ich verstand nicht, was dort drinnen geschehen war, doch es war etwas Besonderes gewesen.

Als ich innerlich aufgewühlt auf die Straße trat, rief jemand meinen Namen. „Ellen! Hier! Komm hierher!“

Auf der gegenüberliegenden Straßenseite stand eine Motor-Rikscha, aus der sich eine verschleierte Frau winkend herausbeugte. Iman. Ich lief zu ihr.

„Was machst du hier, Iman?“

„Ich bringe dich zurück. Ich habe deine Rikscha bezahlt und fortgeschickt.“

Ich sprang auf das knatternde Gefährt und augenblicklich setzte es sich in Bewegung.

„Hast du überhaupt Zeit für Hausbesuche, Ellen?“

„Ach, Iman. Dieses arme Mädchen. Es war fürchterlich zugerichtet. Geschlagen, wund. Ich kann es dir gar nicht beschreiben. Wer macht so etwas?“

„Sie ist eine Hindu, nicht wahr?“

„Ja.“

„Der Konflikt zwischen Moslems und Hindus in Pakistan ist uralt. So alt wie die Religionen selbst. Obwohl die Gründung des Staates Pakistan 1947 helfen sollte, diesen Konflikt zu lösen, hat sie ihn nur verschlimmert. Zwischen dem weitgehend hinduistischen Indien und dem muslimischen Pakistan herrscht seit Jahrzehnten Misstrauen und Krieg. Und auch innerhalb beider Länder gibt es immer wieder Krawalle zwischen beiden Gruppen. Der Leidtragende ist Kashmir. Das Militär und die Milizen beider Fronten regieren unser Land. Kashmir war einst das Paradies auf Erden. Es war ein friedlicher Ort mit wunderschöner Natur und spiritueller Kraft. Ein Ort, an dem man das Göttliche spüren und finden konnte. Doch heute kann man nicht ohne Angst auf die Straße gehen. Viele Heiligtümer, zu denen früher Scharen gepilgert sind, sind unzugänglich oder zerstört. Weißt du, dass sich hier Heiligtümer aller Religionen finden? Hinduistische, muslimische, buddhistische, christliche, jüdische?“

„Nein.“ Das wusste ich nicht. „Welcher Religion gehörst du an?“

„Offiziell bin ich Muslimin.“

„Offiziell?“

„Ja, für die Behörden. Für meine Nachbarn.“ Mehr wollte Iman nicht sagen. Sie gab mir immer wieder Rätsel auf.

„Ich bin gekommen, um dir etwas Wichtiges mitzuteilen. Ich werde für eine Weile die Stadt verlassen. Ich weiß nicht, wann wir uns wiedersehen, deshalb die Eile. Du hast sehr viele, sehr weitreichende Veränderungen vor dir. Vor dir liegt eine Zeit des Erwachens und der Transformation. Du wirst viele Hüllen wie alte Gewänder ablegen, die dein Bewusstsein bisher verschleiert haben, und der Wahrheit täglich näherkommen, aber nicht immer jemanden an deiner Seite haben, der dir sagt, ob du auf dem richtigen Weg bist oder nicht.“

Ich versuchte zu verstehen, was Iman mir schon wieder Unfassbares erklärte, während die Rikscha in einem Höllentempo durch die engen Gassen Richtung Nothospital raste.

„Deshalb solltest du dich diszipliniert darin üben, eine Grundregel des inneren Pfades in jeder Lebenslage zu beachten: Bleib immer bei dir! Lerne zuerst, deine Projektionen auf die Welt der Erscheinungen zurückzunehmen. Sei bereit, den Menschen, den dein bisheriges Leben aus dir gemacht hat, im Spiegel der Ereignisse zu betrachten. Lerne die Sprache deiner Seele zu verstehen und zu sprechen. Erkenne im Spiegel des Lebens, wofür du dich und das Leben hältst, und bleib offen für die Möglichkeit, dass das Leben tatsächlich ganz anders sein könnte. Der Weg zur Selbsterkenntnis ist ein subjektiver Weg. Alles, was dir geschieht, hat auf diesem Weg vor allem für einen Menschen Bedeutung: für dich. Wenn du diese Grundregel immer beachtest, wirst du sehr schnell sehr große Fortschritte machen.“

Ich nickte stumm, ängstlich darauf bedacht, bloß kein Wort Imans zu vergessen. „Der Weg zur Selbsterkenntnis ist ein subjektiver Weg ...“ hörte ich Imans Worte in meinem Gedächtnis widerhallen. Da erreichten wir auch schon das Nothospital.

„Geh jetzt. Du wirst geführt und beschützt. Von wem oder was, wirst du bald erfahren.“

Ich hatte nicht einmal die Gelegenheit, mich zu bedanken oder zu verabschieden, so schnell raste Imans Rikscha davon. Lange stand ich regungslos an derselben Stelle und blickte ihr nach, auch als ich sie längst nicht mehr sehen konnte. Für mich war dies ein eigenartiger Moment von großer symbolischer Bedeutung. Mit einem Mal war ich ganz allein und mir dessen vollkommen bewusst. Nur ich. Hier war keiner, der mich ansah oder beurteilte, der mich verstand oder nicht. Hier war niemand, der mit mir war, der mir sagte, was und wie ich etwas tun sollte. In diesem Moment mochte mich keiner oder lehnte mich ab, niemand unterstützte oder beschützte mich. Ich stand völlig ohne äußeren Referenzpunkt da und genau deshalb spürte ich mich selbst zum ersten Mal. Bis zu diesem Moment hatte ich mich nie wahrgenommen. Iman warf mich mit aller Macht auf mich selbst zurück, und ich war absolut sicher, dass sie das sehr bewusst tat. Dieses Selbstgewahrsein musste sie gemeint haben, als sie mir geraten hatte, bei allen zukünftigen Ereignissen stets bei mir zu bleiben.

Ishama

Подняться наверх