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Drittes Kapitel

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Ich hatte höchstens zwei Stunden unruhig geschlafen. Meine Gedanken kreisten ohne Unterlass um die wundersame nächtliche Begegnung. Die wichtige Aufgabe, für die ich hergekommen war, verblasste vollständig neben dem drängenden Gefühl, Iman unbedingt wiedersehen zu müssen.

Ian beäugte mich brüderlich besorgt, als ich mich zu ihm und Victor an den Frühstückstisch setzte. Ian war feinfühliger, als seine große körperliche Erscheinung vermuten ließ. Er spürte, dass ich innerlich aufgewühlt war, doch er stellte keine Fragen.

Auch Victor wirkte besorgt. Die Organisation des Nothospitals war der härteste Job von allen hier. „Wir brauchen dringend mehr Zelte, Decken und Öfen. Die Leute brauchen ein eigenes, stabiles Dach über dem Kopf, bevor der Winter beginnt.“

Wir schwiegen betroffen, nicht wissend, ob wir rechtzeitig ausreichend Hilfe mobilisieren konnten.

„Was ist mit den Psychologen?“, drängte ich erneut.

„Frühestens im November ...“

„Das ist zu spät, Victor. Die Menschen sind gelähmt. Sie sind vor Schock erstarrt. Medizinische Betreuung reicht nicht aus“, sagte ich aufgeregt, obwohl ich wusste, dass Victor alles tat, was in seiner Macht stand.

Die Erinnerung trug mich zurück zur vergangenen Nacht. Ich sah Iman, den Mann und die Frau an ihrer Seite. Sie bewegten sich sicher und souverän durch den eingestürzten Kellerraum. Sie redeten kaum, taten nur wenige absolut präzise gesetzte Handgriffe – und die Verletzten erfuhren Linderung, die Traumatisierten erwachten aus der Lethargie des Schocks. Ich wünschte mir verzweifelt, Victor und Ian erklären zu können, was ich erlebt hatte. Doch mir fehlten die Worte für die Erfahrung der vergangenen Nacht. Die Hilfe, die ich in dieser Nacht erlebt hatte und von der ich ein Teil gewesen war, war so viel effektiver und heilsamer als alles, was wir hier jeden Tag unter dem Aufgebot all unserer Kräfte taten.

Victor nickte ernst. „Du hast vollkommen recht, Ellen. Ich werde noch einmal Druck machen“, versprach er und erhob sich. „Zeit für die Visite, Kollegen.“

Es war schon dunkel, als ich dem letzten Patienten eine Tetanus-Spritze gab. Ich aß nur eine Suppe im Stehen und lief dann hinaus in die Stadt, diesmal auf der Suche nach Iman und ihren Freunden. Weil ich nicht wusste, wo ich beginnen sollte, kehrte ich zurück zu dem Kellerraum, in dem am Abend zuvor die Familie verschüttet worden war. Leise schlich ich mich heran. Heute war der Raum von der gelben Flamme einer Kerosinlampe hell erleuchtet. Als ich hineinblickte, sah ich die Familie lachen. Ich fühlte mich wie ein Voyeur, ein aufdringlicher Eindringling, doch meine Neugier war stärker als meine angeborene Zurückhaltung. Da entdeckte mich schon eines der Kinder am eingestürzten Treppenaufgang.

Vahan! Dort!“ Es zeigte mit dem Finger auf mich. Es war zu spät, den Kopf zurückzuziehen und davonzulaufen. Die ganze Familie sah mich an und erkannte mich als eine der gestrigen Helfer. Ich errötete.

Der Vater stand auf und winkte mich herein. „Aana. Come!“ Ich zögerte schüchtern. Er winkte wieder und kam auf das Kellerloch zu. Eine Leiter ersetzte provisorisch die eingestürzte Treppe. Ich überwand meine Scheu und kletterte zu der Familie herab.

Salam. Hello. Shukriya. Danke“, sagte ich.

Eines der Kinder brachte mir ein gefülltes Fladenbrot. Die Mutter schenkte eine Tasse Tee ein und reichte sie mir. Ich kauerte mich, wie die anderen auch, um den kleinen Ofen auf den Boden. Dann ließ ich meinen Blick über die Anwesenden gleiten. Erst jetzt sah ich den Jungen, der gestern auf der Bahre davongetragen worden war. Sein Kopf war mit einem leichten Verband umwickelt, der strahlend weiß leuchtete. Ich suchte nach Zeichen der schweren Blutung von letzter Nacht, doch die Wunde musste vollkommen trocken sein. Verzweifelt rang ich nach Worten. Mir fiel nur das Einfachste ein. „Thik hai? Okay?“, fragte ich und deutete auf meinen Kopf.

Die Augen der Mutter strahlten. „Yes. Thik hai! Okay!“

Der Junge stand auf und lief, als wäre ihm nie etwas geschehen. Er wirkte nur noch etwas blass und schlapp. Ich konnte nicht glauben, was ich mit eigenen Augen sah. Wie war das möglich? Was hatte Iman mit ihm gemacht? Die Fragen drehten sich wie ein wildes Karussell in meinem Kopf und immer wieder gab ich mir selbst die einzige Antwort, die mir logisch erschien: „Das ist unmöglich!“

„Who were these people? Where do I find them?“, fragte ich aufgeregt.

Der Vater schüttelte den Kopf. Er wollte mir helfen. Aber er verstand mich nicht, oder er wusste nicht, wer Iman und ihre Begleiter waren. Es herrschte absolute Stille in dem Kellerraum. Alle Blicke richteten sich gespannt auf mich und die Tränen, die plötzlich unkontrollierbar über meine Wangen liefen. Wie ein kleines Kind wischte ich sie mit dem Ärmel meiner Jacke ab. Dann sah ich mutig, fast trotzig, in die Runde. Eines der Mädchen brachte mir ein kleines glänzendes Heiligenbildchen, um mich zu trösten. „Iman“, sagte sie. In ihren Augen war Iman eine Göttin. Was war sie für mich? Wer war sie wirklich?

Als die Mutter damit begann, die Kinder auf einem einfachen Bodenlager, das die ganze Familie teilte, zu Bett zu bringen, war es Zeit für mich zu gehen. Noch einmal zogen die Bilder der Erinnerung an den gestrigen Abend vor meinem inneren Auge vorbei. Iman und die beiden anderen, ihre Gesten, ihre Anmut, ihre innere Sicherheit, ihre Zärtlichkeit, ihre Bewusstheit und ihre Kraft ... Wieder fühlte ich diese unbeschreibliche Liebe, die sie umgeben hatte. Die Erinnerung schien sie irgendwie wachzurufen. Plötzlich füllte sie den Kellerraum wie am Abend zuvor durch Imans Gegenwart. Sie war von einer anderen Dichte als die normale Luft, leichter und doch viel komprimierter. Sie füllte den Raum und ebenso den eigenen Körper, den Geist und das Herz. Für einen Moment glaubte ich, diese Kraft als diffuses, überirdisches Licht wahrzunehmen.

Da fing ich den Blick der Mutter auf. Auch sie nahm die Liebe wahr, die uns plötzlich umgab. Bevor ich ging, berührte sie mich vertraut, wie ich es bei den pakistanischen Frauen bisher nur gegenüber ihren Schwestern beobachtet hatte.

Zurück an meinem Arbeitsplatz unternahm ich gar nicht erst den mit Sicherheit vergeblichen Versuch zu schlafen, sondern machte gleich eine nächtliche Visite im Zelt der verletzten und operierten Kinder. Mehr als die Hälfte von ihnen suchte noch nach ihren Eltern. Sie schliefen unruhig, wälzten sich hin und her. Manche wimmerten im Schlaf. Mein Herz krampfte sich angesichts dieses körperlichen und seelischen Elends zusammen. Ich versuchte, mir vorzustellen, wie sich Imans Gegenwart auf die Atmosphäre in diesem Zelt ausgewirkt hätte. Sicher wären augenblicklich Ruhe und Frieden eingekehrt. Die Kinder hätten tief und gleichmäßig geatmet, und ihre Wunden wären besser, wenn nicht gar augenblicklich geheilt.

Leise und langsam bewegte ich mich durch die Reihen der unruhig Schlafenden. Was hatte Iman getan? Was war das für eine Kraft, die sie begleitete und augenblicklich Heilung brachte? Gab es diese Kraft wirklich oder ließen mich Erschöpfung und Verzweiflung wünschen, ihr in dem eingestürzten Kellerraum begegnet zu sein? Wenn es diese Kraft jedoch – entgegen jeder Vernunft und jeder Erfahrung – wirklich gab, warum verfügte Iman über sie, Ian und ich, die perfekt ausgebildeten Ärzte, jedoch nicht? Warum stießen wir hier so unvermittelt an unsere Grenzen, während diese Katastrophe für andere nicht die geringste Herausforderung oder Ausnahmesituation zu sein schien?

Ich hatte alle Bettenreihen durchwandert, doch meine Fragen waren noch lange nicht versiegt und schon gar nicht beantwortet. Immer neue Aspekte dieses einen Erlebnisses kamen mir zu Bewusstsein. Mein Blick glitt mitfühlend und zärtlich über jedes der Kinder und kam immer wieder zu dem Mädchen, das ich am Tag zuvor operiert hatte. Es schlief ruhig und tief. Nur manchmal stöhnte es im Schlaf leicht auf.

Es war schon weit nach Mitternacht, doch ich verspürte nicht die leisesten Anzeichen von geistiger Müdigkeit, nur mein Körper wurde langsam schwer und meine Beine begannen zu schmerzen. Ich setzte mich auf einen kalten weißen Plastikstuhl, der in einer Ecke des Kinderzeltes stand, doch meine Augen glitten weiter mitfühlend über die schlafenden Kinder, und in meinem Geist suchte ich nach der Lösung des Rätsels, das mir die Begegnung mit Iman aufgegeben hatte. Auch ich wurde nun langsam ruhiger. Die Gedanken entschleunigten sich, rasten nicht mehr hintereinander her wie wilde, ungezähmte Pferde. Was ist Heilung eigentlich, dachte ich plötzlich, und dieser eine Gedanke stach so klar und deutlich aus allen anderen hervor wie eine beleuchtete Straße aus Tausenden von dunklen Wegen. Ja, das war die eine wirkliche Frage, die mir die magische Begegnung im Keller stellte. Was war Heilung? Diese eine elementare Frage hatte ich mir in dieser Klarheit und Nüchternheit bis heute nicht gestellt, obwohl sie doch die Grundlage meines Berufes war. Aber nicht nur ich hatte sie mir nie gestellt, auch Lehrer, Professoren, Ausbilder und Kollegen hatten mich nie gefragt, was ich für die wirkliche Ursache von medizinischen Heilungserfolgen hielt. Und plötzlich war ich sicher, dass auch sie sich diese Frage nie in aller Konsequenz gestellt hatten und deshalb die Antwort nicht kannten.

Als unsere deutsche Schwester wie üblich um sechs die Kinder weckte, fand sie mich schlafend auf dem unbequemen Stuhl. „Dr. Ellen, was machen Sie denn hier? Haben Sie etwa die ganze Nacht bei den Kindern verbracht?“

„Irene!“ Ich streckte mich. Jeder einzelne Knochen meines Körpers machte sich schmerzhaft bemerkbar. „Ich konnte nicht schlafen und habe noch einmal nach den Kindern gesehen. Ich hatte das Gefühl, sie brauchten jemanden.“

„Die Kinder müssen lernen, allein mit ihrer Situation fertigzuwerden, und Sie müssen auf sich Acht geben. Sie brauchen Ihre Kraft tagsüber beim Operieren. Ich kann Ihnen gerne heute Abend ein Schlafmittel geben.“

Obwohl Schwester Irene scheinbar fürsorglich sprach, hörte ich eine eigenartige Kälte in ihrer Stimme, die mich erschreckte. Ich fröstelte und stand auf. „Danke, Schwester Irene. Das wird nicht nötig sein.“

Victor führte den Ärztetross an, der fast im Gleichschritt zur Visite in das Kinderzelt marschierte. Einige wenige Eltern hatten sich inzwischen eingefunden. Sie hatten ihre vermissten und vielleicht sogar tot geglaubten Kinder erst an diesem Morgen auf den Listen, die wir am Nothospital aushängten, identifiziert. Die Eltern wirkten äußerlich ruhig und sahen uns ehrfürchtig an, doch ich glaubte hinter der kontrollierten Fassade Beunruhigung und Angst zu erkennen. Sie begegneten hier einer fremden Welt: die ausländischen Ärzte, die sie nicht verstanden und die ihre Weltsicht nicht kannten; die Höhe der Behandlungskosten, die sie niemals aufbringen konnten; die Angst, ihre Kinder vielleicht doch noch zu verlieren oder von uns gebeten zu werden, das Nothospital zu verlassen, das einzige Dach über dem Kopf, das sie im Moment hatten. Ich fühlte mit diesen Menschen, teilte für einen emotionalen Augenblick ihre Sicht auf uns und ihre Sorgen, als ich Schwester Irenes taxierenden Blick auffing. Sie sah mich kurz durchdringend an und blickte dann kalt durch mich hindurch.

Wir gingen von Patient zu Patient. So machten wir am Bett des gestern operierten Mädchens Halt. Victor sah sich die Unterlagen an und fragte Ian nach dem Verlauf der OP und seiner Prognose. „Das sieht aber schon sehr viel besser aus, Ian“, bemerkte er.

Ian untersuchte das Mädchen sehr genau. Ich hielt mich im Hintergrund und beobachtete die Szene. „Tatsächlich, die Wundheilung sieht sehr gut aus. Fast wie nach einer Woche und nicht wie nach einem Tag.“

Mir wurde heiß und ich errötete, denn mir war sofort klar, dass diese unglaubliche Verbesserung des Gesundheitszustandes unserer kleinen Patientin in irgendeinem Zusammenhang mit meinem nächtlichen Besuch im Kinderzelt stehen musste. Ich versuchte, mich hinter Schwester Baquiya zu verstecken, um nicht in den Fokus der allgemeinen Aufmerksamkeit zu geraten, doch dann hörte ich Schwester Irenes Stimme: „Dr. Jansen war heute Nacht bei den Kindern.“

Sie schien eine sehr feine Antenne für meine Ängste zu haben und sie gnadenlos für alle sichtbar machen zu wollen. Es traf mich wie ein Schlag, als sich alle Blicke fragend auf mich richteten. Die schmerzhafte Erinnerung an meinen letzten Arbeitstag in Frankfurt flammte auf. Wieder – genau wie in Frankfurt vor wenigen Monaten – betrachteten mich alle mit diesem Blick aus Unverständnis und Unglauben.

Ich habe nichts getan, wollte ich zu meiner Verteidigung sagen. Ich habe nur hier bei den Kindern gesessen und mich gefragt, was Heilung ist und was sie bewirkt. Ich bin gestern einer Kraft begegnet, die scheinbar augenblicklich die stärksten Verletzungen heilt. Ich kann es selbst kaum glauben, obwohl ich es mit eigenen Augen gesehen habe. Ich habe sie in anderen gesehen und nur versucht, ihr Wesen zu verstehen – wie sie wirkt und wie man sie nutzt. Ich weiß rein gar nichts über diese Kraft, ich bin nicht Herrin über sie … Doch alle diese Gedanken konnte ich nicht aussprechen. Niemand hätte sie verstanden. Alle hätten mich für verrückt erklärt. Und so schwieg ich. Meine Erleichterung war unbeschreiblich, als Ians Humor mich erlöste: „Ellen, ich wusste gar nicht, dass du so eine Wirkung auf Kinder hast ...“

Ishama

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