Читать книгу Ishama - Daniela Jodorf - Страница 13

Siebtes Kapitel

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Das Gespräch mit Irene, zu dem ich Victor und Ian gebeten hatte, war unerfreulich verlaufen. Sie war uneinsichtig gewesen und mehrfach laut geworden. Als sie gemerkt hatte, dass niemand ihre Ausreden akzeptierte, war sie in unechte Tränen ausgebrochen. Schwester Baquiya hatte ausgesehen, als wollte sie gleich mit weinen, obwohl sie gestern noch das Ziel von Irenes unverständlichen Angriffen gewesen war, die Victor als religiös diskriminierend bezeichnet hatte. Er hatte Schwester Irene deshalb offiziell abgemahnt, doch das schien ihr nichts auszumachen. Sie hatte sich von der Disziplinarmaßnahme ungerührt gezeigt und glaubte sich offenbar zu Unrecht bestraft. Immer wieder hatte sie mir verächtliche Blicke zugeworfen. Offenbar gab sie mir die Schuld an der Situation, die allen unangenehm war. Aufgeregt hatte ich das Besprechungszelt verlassen und heftig gegen den aufkommenden Schwindel gekämpft. Doch an der frischen, kühlen Luft war mein Geist unvermittelt ruhig und still geworden. Ich war wieder der reine Beobachter aller Erfahrungen gewesen und kurz hatte ich aus dieser Perspektive in Irenes Zukunft gesehen. Es war nur ein flüchtiges Bild gewesen, das wie ein Dia vor meinem inneren Auge aufgeblitzt war, viel weniger klar und wesentlich schlechter zu greifen als die intuitive Einsicht, die mich in Frankfurt erfasst hatte. Dieses innere Bild hatte Irene am Bett einer Frau gezeigt, die sie flehentlich um ein Schmerzmittel bat, das Irene ihr rigoros verweigerte ...

Auf dem Weg in mein Zelt – ich wollte mich eine halbe Stunde ausruhen, bevor der OP-Marathon dieses Tages beginnen würde – hatte ich dann auch noch eine kurze unpersönliche Nachricht von Niki empfangen. „Zelte sind unterwegs. Nik!“

Jetzt lag mein Körper schwer auf dem schmalen Feldbett und ich starrte auf die Handy-Nachricht, die für die Menschen in Muzzaffarabad eine frohe Botschaft war. Doch was bedeutete sie für mich, fragte ich mich. Fest stand: Sie war mein letzter Kontakt zu Nik. Jetzt verband uns nichts mehr. Unsere Beziehung, etwas, das ich über viele Jahre für fest und vollkommen beständig gehalten hatte, eine wichtige Säule meines Lebens, löste sich urplötzlich auf. Ich beobachtete diese eigenartige Auflösung still und in mich gekehrt mit einem Gefühl des Staunens. Ich sah mein Bewusstsein plötzlich als Raum, der sich von einem fundamentalen Inhalt, einer Beziehung, die mir Halt und Identität gegeben hatte, leerte. Aber das war noch nicht alles. Mein Bewusstsein leerte sich nicht nur von Niki und meiner emotionalen Bindung an ihn, sondern von jeglichen Inhalten: Menschen, Dingen, Erinnerungen, Gedanken, Gefühlen – wie ein übervolles Gefäß, das ausgeschüttet wurde. Nun saß ich da mit einem leeren Geist, mit meinem leeren Geist, und blickte mich in meinem Zelt um. Dabei wurde mir bewusst, dass es einen inneren und einen äußeren Raum gibt. Der innere Raum war nun leer und ich blickte völlig ohne Gedanken und Gefühle auf den äußeren Raum, der noch immer mit unzähligen Gegenständen gefüllt war. Für einen Moment nahm ich alles direkt und unmittelbar wahr. Dann zog sich mein Bewusstsein aus dem äußeren Raum zurück. Es zeigte nicht das geringste Interesse für die Objekte, die mich umgaben, weil es keinen kognitiven Bezug zu ihnen fand. Auch das ließ ich geschehen, erlaubte der Leere, sich weiter in mir auszubreiten, und driftete immer tiefer in sie hinein. Unbeschreibliche Stille umfing mich. Innere und äußere Bewegungslosigkeit. Erst kaum wahrnehmbar und dann immer deutlicher stieg eine andere, eine objektlose Bewusstseinsqualität in mir auf. Ich war ihr auf einem ganz anderen Weg schon in Naishas kleiner Hütte begegnet – der Seligkeit. In mir und um mich herum war nichts als vibrierendes seliges Bewusstsein, ohne jegliche Form, ohne Inhalt. Die Spiegelungen an der Oberfläche des Lebens verschwanden ohne mein Tun. Ich hätte nicht gewusst, wie ich diesen Zustand erzeugen sollte. Er kam einfach über mich und ich ließ es geschehen.

Nach einer zeitlosen Ewigkeit fand der Zustand der Leerheit und der Glückseligkeit von sich aus ein Ende. Automatisch driftete ich auf umgekehrte Weise heraus, wie ich hereingeglitten war. Zuerst nahm ich raumlose Leere wahr, dann den Raum selbst, meinen Körper im Raum und erst danach Gedanken und Gefühle, die den inneren Raum wieder zu füllen begannen. Ich betrachtete sie wie Wolken am Himmel, wie Schiffe am Horizont, die ohne Sinn und Bedeutung an mir vorübersegelten. Noch immer war mein Herz erfüllt von Seligkeit. Mir war, als wäre ich zu Hause angekommen, doch zu Hause war eigenartiger Weise kein äußerer Ort, wie ich immer geglaubt hatte. Zu Hause war innen, in mir, in der tiefsten Tiefe meines Seins.

Da fiel mir mein erstes Gespräch mit Iman wieder ein. Ich dachte daran, wie sie auf leise, unaufdringliche Weise versucht hatte, die Erinnerung an das wahre Selbst in mir wachzurufen. Iman hatte von Transzendenz gesprochen, von etwas, das in der Welt der Dinge, der Beziehungen nicht zu finden war. Heute ahnte ich zum ersten Mal, was sie wirklich gemeint haben könnte.

Ian wirkte mürrisch und unkonzentriert.

„Was ist los?“, fragte ich in einer kurzen OP-Pause.

„Ach, ich weiß auch nicht. Ich hab mich über diese Schwester aufgeregt. Ich hab schlecht geschlafen. Ich bin müde. Heute stimmt einfach nichts.“

„Willst du dich hinlegen? Ich schaff das auch allein.“

Es überraschte mich, dass er mein Angebot annahm. Ian war eigentlich ein Typ, der in jeder Verfassung arbeitete. Er gab mir einen freundschaftlichen Klaps auf den Po, als er das OP-Zelt verließ.

Als Ian gegen sechs noch immer nicht wieder aufgetaucht war, suchte ich nach ihm. Er lag in seinem Zelt und sah mich verschlafen an, als ich seinen Namen rief und in das Zelt hineinsah. „Geht es dir besser?“, fragte ich besorgt.

„Hm“, grunzte er nur.

„Kann ich etwas für dich tun?“

„Nein, nein, danke. Es ist schon in Ordnung. Morgen bin ich wieder der Alte.

„Darf ich dich um einen Gefallen bitten, Ian?“

„Was hast du auf dem Herzen?“

„Würdest du mich zu einer Patientin in die Stadt begleiten?“

„Du hast eine Patientin in der Stadt?“

Ich nickte.

„Du weißt, dass das gegen die Regeln ist?“

„Gegen welche Regeln? Wir sind hier, um zu helfen.“

„Ja, aber wir arbeiten für DoctorsAid. Wir sind keine Straßenärzte.“

„Die Mutter hat mich um Hilfe gebeten. Ich konnte nicht Nein sagen.“

Auf der Rikscha-Fahrt erzählte ich Ian von meinen nächtlichen Streifzügen durch Muzzaffarabad und wie ich in Naishas furchtbare Geschichte hineingeraten war.

„Mir ist dieses Land so nah, Ian. Seine Menschen und ihre Schicksale berühren mich, ja sie scheinen mich selbst zu betreffen. Ich kann nicht einfach wegsehen. Je mehr ich auf den Straßen umherlaufe, desto stärker fühle ich mich als Teil dieses Landes, seiner Geschichte und seiner Konflikte, aber auch seiner Möglichkeiten. Mir scheint hier so viel verborgen. Wenn nicht all dieses Leid wäre, wäre ich glücklich, hier zu sein.“

Ian sah mich lachend an. „Na, das nenne ich Fortschritt, meine Liebe. Wow. Kannst du mir vielleicht erklären, wie du das gemacht hast?“

Naisha begrüßte uns auf dem Boden sitzend und ich nahm erfreut zur Kenntnis, dass ihre Haut wieder ein bisschen Farbe angenommen hatte. Sie sah Ian ängstlich an und auch ihre Mutter schien nicht erfreut, dass ich einen Mann mit hierher gebracht hatte.

This is doctor Ian. I need his help. Ich brauche seine Hilfe“, erklärte ich den beiden Frauen. „He will not touch Naisha. Er wird sie nicht anfassen.”

Thik hai. Okay!“

Die Mutter wackelte mit dem Kopf und ließ uns mit Naisha allein. Das Mädchen hatte kein Fieber mehr und konnte sich schon ein wenig bewegen, war sogar allein auf der Toilette gewesen, berichtete es stolz. Das war bei der Schwere der Verletzung ihrer Genitalien wirklich eine medizinische Sensation. Ich hatte Ian gebeten, sich die Verletzungen und Naishas Verhalten ganz genau anzusehen, weil ich einfach nicht glauben konnte, wie gut es ihr nach so kurzer Zeit ging. Sie wirkte wie eine ganz normale junge Frau, die schlimmstenfalls einen Unfall gehabt hatte, aber nicht wie ein Opfer von Folter und Gewalt.

„Du kommst jetzt ohne mich klar. Aber wenn es dir irgendwie schlechter geht, nimmst du eine Rikscha und kommst ins Nothospital.“ Ich legte ein paar Rupien auf ihren Nachttisch. Genug Geld für zwei Fahrten. „No, no. Doctor Ellen. Sie haben schon so viel für mich getan.“

Ich bestand darauf, dass sie das Geld annahm.

„Sie haben eine besondere Kraft, Doctor Ellen, wissen Sie das?“

Ich sah Ian irritiert an. Er lachte. Und doch nahm er Naishas Worte offenbar ernst. „Ja, Sie haben recht. Im Hospital hat Dacta Ellen auch schon Wunder gewirkt.“

„Meine Mutter hat Sie in der Nacht geholt, weil sie ein paar Tage vorher von einer weißen Ärztin geträumt hatte. Sie wusste, dass Sie mir helfen können. Sie und niemand sonst.“

„Aber Naisha ...“

„Doctor Ellen, hören Sie mir zu! In unserer Kultur ist das spirituelle Leben Teil des Alltags. Wir alle kennen Heiler und Heilige und vertrauen ihnen blind. Ich vertraue ihnen blind. Sie sind ein spiritueller Mensch. Gott ist mit ihnen und sie wissen es nicht einmal.“

Ian sah mich fragend an. „Wer bist du wirklich, Ellen?“, schien er sich und mich zu fragen.

In diesem Moment wusste ich selbst nicht mehr, wer ich war. Zu viele Dinge waren geschehen, die meine Identität in Frage stellten; zu viele Menschen waren mir begegnet, die mehr in mir sahen als ich selbst.

Ishama

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