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Kapitel 4

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Rilana starrte in die immer schwächer werdende Glut des Feuers. Die anderen wandten sich nun erneut ihren mit Wein gefüllten Bechern zu. Raoul lag inzwischen bewegungslos, etwas abseits, neben dem Feuer. Nur das leichte Heben und Senken seiner Brust verriet, dass er noch lebte. Sie hatte ihn zwar vor der Kälte gerettet, aber dennoch war sein allgemeiner Zustand besorgniserregend. Die Pfeilspitze steckte noch immer in seinem Bauch, und da er auf diesem lag, nahm sie an, dass sie sich, durch sein Körpergewicht, immer tiefer ins Fleisch bohrte. Sie musste dringend etwas unternehmen. Rilana erhob sich und näherte sie sich zögernd dem Gefangenen auf dem Boden.

»Was tut Ihr da?« Es war Wilburs Stimme, die sie aus ihren Gedanken riss.

»Ich sehe nach dem Gefangenen!«, erklärte sie. »Er hat sich noch immer nicht gerührt und ich möchte bloß feststellen, ob er noch lebt!«, mit diesen Worten setzte sie ihren Weg fort.

»Das seht Ihr doch! Er atmet! Reicht das nicht als Beweis?«

»Lasst ihn in Ruhe! Er braucht Eure Hilfe nicht. Verschwendet Eure Energie nicht an ihn. Er ist es nicht wert!«

»Das lasst nur meine Sorge sein!«, sie war wütend. Was bildete sich dieser grobe Kerl eigentlich ein, somit ihr zu reden.

»Ich habe gesagt, Ihr sollt da weggehen. Habt Ihr vergessen, was er Euch angetan hat. Er verdient Eure Hilfe nicht.«

»Und ich habe gesagt, dass es meine Entscheidung ist!«, erwiderte sie bissig. »Haltet Euch da raus.« Archibald grinste vor sich hin, während er der Unterhaltung scheinbar teilnahmslos folgte.

»Wie Ihr wollt.« Rilana atmete aus, dabei kniete sie sich neben den bewusstlosen Raoul.

»Könnt Ihr mich hören? Ihr müsst aufwachen!« Zaghaft berührte sie eine seiner Schultern. Er war eiskalt. Dunkelrote Linien zogen sich wie ein Gitternetz über seinen Rücken. An einigen Stellen hatte das Leder des Riemens so tief in die Haut geschnitten, dass feines Muskelgewebe zu erkennen war. Vorsichtig löste sie die Stofffetzen des Hemdes von den verklebten Striemen und fuhr mit ihren Fingern gedankenverloren sanft über jede Einzelne. Selbst unter dieser Berührung regte er sich nicht. Er lag weiterhin, wie eine bleiche, kalte Marmorstatue, neben ihr.

Archibald beobachtete sie aus seinen Augenwinkeln. Er hatte recht gehabt. Irgendetwas stimmte nicht! Innerlich grinsend und zufrieden mit sich selbst, beobachtete er Rilanas weitere Bewegungen. Mein Gott, dachte er, sie ähnelt ihrem Vater mehr, als ich es zunächst angenommen habe. Diese Entführung war im Grunde der reinste Segen. Er musste nur weiterhin abwarten. Vielleicht löste sich auf diese Weise sein Problem von ganz allein.

Rilana war so in Gedanken versunken, dass sie die Blicke des alten Haudegens gar nicht bemerkte. Großer Gott! Was hatten sie ihm nur angetan?

»Können wir ihm nicht das Joch abnehmen? In diesem Zustand kann er doch sowieso nichts gegen Euch ausrichten!«

»Was soll das denn schon wieder? Wollt Ihr es nicht begreifen, oder könnt Ihr es nicht? Er hat Euch entführt und hätte Euch töten können!«

»Hat er aber nicht!«

»Wir wissen nicht, woher er kommt! Wir wissen noch nicht einmal seinen Namen und Ihr verlangt allen Ernstes, dass wir ihm die Fesseln abnehmen? Kommt nicht infrage!«

»Ich meine ja auch nicht, dass Ihr ihn ganz freilassen sollt. Ich rede nur davon, ihm das Joch abzunehmen. Er ist viel zu schwach, um zu fliehen. Wer weiß, vielleicht übersteht er nicht einmal diese Nacht.« Sie wurde noch wütender. »Wenn wir ihn hier weiter so liegen lassen, dann hätten wir ihn auch gleich im Schnee erfrieren lassen können. Wäre doch schade, wenn er stirbt, ohne vorher noch etwas gesagt zu haben.«

»Das geht über meinen Verstand. Ihr wollt, glaube ich, wirklich, dass wir ihn losbinden! Seit Ihr von Sinnen, Frau?« Wilbur sprang entsetzt auf.

»Ihr vergesst Euch! Dieser Ton mir gegenüber ist vollkommen unangebracht. Seht ihn Euch doch selbst an!« Ihre Wut wandelte sich allmählich in Verzweiflung.

»Also gut, aber nur das Joch!«, diesmal war es Archibald, der sich einmischte. »Sie gibt vorher ja doch keine Ruhe. Aber wirklich nur das Joch. Ich habe nämlich nicht die leiseste Lust darauf, dass der Kerl hier im Morgengrauen verschwindet.« Archibald gab Werfried ein Zeichen. Sichtlich erleichtert atmete Rilana auf. Das war geschafft.

Werfried entfernte nun den Holzklotz von Raouls Schultern, dann zog er einem weiteren Lederriemen aus seiner Tasche und fesselte erneut die Hände des Gefangenen, anschließend drehte er den jungen Mann auf seinen Rücken, sodass Rilana auch die Vorderseite ihres Entführers untersuchen konnte. Sorgfältig zog sie die Reste seines Hemdes auseinander, das steif an seinem Körper klebte. Die Stelle, in der noch immer die Pfeilspitze nebst einem Teil des Schaftes steckte, sah nicht besonders gut aus. Das Metall steckte tief in seinem Körper. Die Wundränder hatten sich bereits dunkelrot verfärbt. Sie blutete zwar nicht mehr besonders stark, aber dafür bildete sich mittlerweile an den Rändern eine gelbliche Flüssigkeit. Auch das noch, dachte sie.

»Wir müssen die Pfeilspitze entfernen. Die Wunde eitert bereits. Noch ist er kalt, aber, ich schwöre euch, dass er im Laufe der nächsten Stunden fiebern wird. Er bekommt Wundbrand, wenn wir nicht etwas unternehmen!«, keinerlei Reaktion auf ihre Worte. »Ich habe gesagt, ...«

»Ist ja schon gut, ich habe gehört, was Ihr gesagt habt!« Archibald rollte mit seinem gesunden Auge und erhob sich scheinbar widerwillig von seinem Platz. »Lasst mich einmal sehen, ob es wirklich so schlimm mit ihm steht!« Er begutachtete mit fachmännischem Blick Raouls Wunden. Dann befühlte er seine Stirn. »Ihr habt recht! Lasst uns sein Hemd ausziehen und holt eine Decke!« Rilana sah, wie der Ältere Raoul von den letzten Resten seines Hemdes befreite, in dem er sie mit einem Dolch vom Körper des Gefangenen schnitt, während sie eine Decke von ihren Schultern nahm und neben Archibald auf dem Boden ausbreitete. Dieser schob Raoul mit erstaunlicher Leichtigkeit auf die Unterlage. »Was ist? Wollt Ihr Wurzeln schlagen? Gebt mir noch eine Decke. Ich brauche noch eine! Es reicht nicht, den Untergrund abzudecken. Wir müssen ihn aufwärmen.« Archibalds Ton wurde fordernder. Werfried reagierte sofort. Er warf ihm eine weitere zu, dann wandte er sich erneut seinem Wein zu.

»Ihr steht da, als wärt Ihr zu einer Salzsäule erstarrt! Ihr wollt, dass wir ihm helfen, dann tut auch etwas dafür! Geht und holt Wasser! Wir werden es brauchen. Es ist eilig!«, Archibald funkelte sie aus seinem einen Auge herausfordernd an. Was erwartete er von ihr? Dass sie sich weigern würde? Hielt er sie für solch eine verwöhnte Göre? Oder wollte er nur herausfinden, ob sie bereit wäre, sich für etwas, das sie wirklich wollte,die Finger schmutzig zu machen? Egal was es auch war, dass Eile geboten war, konnte auch Rilana sehen. Eilig suchte sie ein Gefäß, mit dem sie Wasser holen konnte. Sie fand einen Kessel, in dem Werfried am Abend das Essen zubereitet hatte. Sie griff danach und stampfte in die dunkle Nacht hinaus. Dabei hörte sie noch, wie Archibald seine Männer anfuhr. »Wir haben übertrieben. Das ist so sicher, wie das »Amen« in der Kirche. Ich hoffe nur, dass es noch nicht zu spät ist. Habe ich euch nicht gesagt, ...!«, seine letzten Worte konnte Rilana nicht mehr verstehen, denn sie lief, völlig verstört durch den Schnee, der bereits knöchelhoch den Boden bedeckte. Sie war froh, endlich eine Weile alleine zu sein. Auch, wenn die Männer sie nur beschützen wollten,so kam sie sich doch eher wie eine Gefangene vor. Es war schon merkwürdig, während ihrer Entführung, als sie mit Raoul alleine und auf der Flucht gewesen war, da hatte sie sich freier gefühlt, als jetzt. Nicht nur als jetzt, ergänzte sie, sondern eigentlich seit der Zeit, als sie begonnen hatte, selbstständig zu denken.

Rilana atmete tief durch und genoss die Kälte, die ihr das Gesicht kühlte. Während sie so zu dem kleinen Gebirgsbach lief, schossen ihr Tränen in die Augen. Das alles war wirklich ein bisschen zu viel für sie.

Hätte sie doch jemanden, mit dem sie reden könnte, schoss es ihr durch den Kopf. Ihr Vater hätte vielleicht dieser jemand sein können, aber sie hatte ihn ja kaum gekannt. Sie konnte sich nur noch an sein Lächeln erinnern, das jedes Mal auf seinem Gesicht erschienen war, wenn er sie auf seinen Schoß hob. Doch leider starb er bereits, als sie vier Jahre alt war. Damals gab es viele Schlachten, die meist dazu dienten, Aufstände niederzuschlagen oder die Grenzen zu sichern. Ihr Vater war deshalb nur selten im Schloss und wenn, dann widmete er sich vorwiegend seinen Regierungsgeschäften. Ihre Mutter erzählte ihr einmal, dass seinerzeit Baranagua, das Land, das im Gebirge an das ihre grenzt, von wilden Horden beherrscht wurde. Ihr Anführer, König Samuel, wäre der Schlimmste von allen. Seine Horden fielen in regelmäßigen Abständen in Aranadia ein, um plündernd und brandschatzend ihr Volk in Angst und Schrecken zu versetzen. Ihr Vater hatte verzweifelt versucht, die Angriffe der Wilden, wie er sie zu nennen pflegte, zurückzuschlagen, doch selbst er konnte sich gegen diese Übermacht nicht durchsetzen. Er war in einer dieser Schlachten ums Leben gekommen. Doch sein Tod blieb nicht ungesühnt. Seither waren die Grenzen ihres Landes sicher und ihr Volk hatte endlich die Ruhe gefunden, die es verdiente.

Andererseits wurden aber auch hin und wieder Stimmen laut, die verkündeten, die Schlacht sei nur ein Vorwand gewesen, um ihren Vater aus dem Weg zu räumen. Samuel hätte niemals versucht, Aranadia anzugreifen, denn warum sollten Freunde, die einander seit ihrer Kindheit kannten, Krieg gegeneinander führen? Außerdem wäre es doch offensichtlich, dass William von einem seiner eigenen Leute im Schlachtgetümmel hinterrücks erstochen worden wäre. Der mutmaßliche Schuldige wurde jedoch nie gefunden. Rilana war zu jener Zeit noch viel zu jung, um zu begreifen, was das zu bedeuten hatte.

Sie kannte diese Geschichten nur vom Hörensagen. Allerdings gab es etwas, an das sich Rilana trotz ihrer damaligen Jugend genau erinnern konnte. Das war die Tatsache, dass Archibald von Arosa, derjenige war, der ihren toten Vater auf das Schloss zurückbrachte. Er hatte blutüberströmt neben der Bahre ihres Vaters in der großen Halle gestanden und ihnen den Leichnam übergeben. Für Trauer war nicht die Zeit, deshalb übernahm ihre Mutter unverzüglich die Regierungsgeschäfte. Was Archibald mit der ganzen Geschichte zu tun hatte, wusste Rilana bis heute nicht, aber er hatte anscheinend für ihren Vater gekämpft, denn seit dieser Zeit war der grobe, bärtige Mann ein fester Bestandteil ihres Lebens. Sie hatte zwar nicht sehr viel mit ihm zu schaffen, aber dennoch war er, wie ein großer, dunkler, einäugiger Schatten fortwährend präsent.

Da sie selbst, noch nicht alt genug gewesen war, um die Nachfolge ihres Vaters anzutreten, wurde ihre Mutter automatisch zur Regentin bestimmt, so lange, bis sie selbst ihr achtzehntes Lebensjahr vollendet hätte. Nach der Thronbesteigung ihrer Mutter, kurz nach dem Tod ihres Vaters berief sie, Gregory de Beriot, zu ihrem Großkanzler. Seit her berieten sie sich in allen wichtigen Regierungsangelegenheiten. Da es danach kaum noch Kämpfe im Land gab, die Grenzen waren sicher und auch von Aufständen wurde selten berichtet, hielt Rilana dies für den Verdienst ihrer Mutter und de Beriots. Außerdem war de Beriot seitdem der ständige Begleiter ihrer Mutter und mit Sicherheit noch etwas darüber hinaus, sodass Rilana allmählich, wenn auch widerwillig, anfing in ihm eine Art Vaterersatz zu sehen.

Doch obwohl Roxane anscheinend so viel für ihr Land getan hatte, war sie nicht bei jedem ihrer Untertanen beliebt. Sie redeten hinter vorgehaltenen Händen von der roten Hexe aus dem Norden, die nicht einmal vor Mord zurückgeschreckt war, um ihre Ziele zu erreichen. Ihre Mutter eine Hexe! Auf welche Ideen die Leute kamen, wenn sie keine sinnvolle Erklärung mehr bereithatten. Es war schon richtig, dass ihre Mutter aus einem fernen Land im hohen Norden kam. Und es war auch richtig, dass ihr Vater sie von einer Reise mitbrachte. Außerdem besaß ihre Mutter feuerrote Haare. Nicht das sanfte kupferrot Rilanas, nein, die Haare ihrer Mutter glühten scheinbar, wenn sie im Feuerschein einer Kerze oder im Sonnenlicht stand. Es sah jedes Mal so aus, als umgebe sie der dunkelrote Schein der Flammen. Aber war sie infolge dessen gleich eine Hexe? Das Volk, in seiner Unwissenheit, erklärte sich viele Dinge mit Magie. Eine Hexe! Einfach lächerlich! Es gab nicht das geringste Anzeichen dafür, dass Roxane mit den finsteren Mächten in Verbindung stand. Warum sollte sie auch? Wenn ihre Mutter wirklich eine Hexe wäre, hätte sie selbst nicht auch diese Fähigkeiten und Neigungen? Könnte dann nicht auch sie Magie ausüben? Hätte sie dann nicht schon längst einige dieser besonderen Fähigkeiten an sich selbst bemerkt? Dem Volk war es vielleicht zu ruhig. Zu Zeiten ihres Vaters wurde andauernd gekämpft. Heute jedoch bestellten die Bauern nur noch ihre Äcker, die Köche kochten die Speisen, und selbst das Heer hatte eigentlich nur noch die Aufgabe, hin und wieder die Grenzen zu kontrollieren. Kein Wunder, also, dass sich die Menschen in ihrem Land, diesen sprunghaften Wandel nur durch Zauberei erklären konnten. Wenn nichts weiter half, war das eben das Beste, und Langeweile kann zu wirklich komischen Gedanken führen.

Sie erreichte das Ufer des Gebirgsbaches. Noch immer kreisten ihre Gedanken um die Vergangenheit. Mutter eine Hexe! So ein Wahnsinn! Außerdem war Archibald immer derjenige, der Probleme für ihre Mutter löste. Roxane musste nur rufen und er war zur Stelle. Archibald! Von ihm behaupteten Einige, er wäre derjenige gewesen, der in Roxanes Auftrag den König ermordet hätte. Denn wenn nicht er, wer dann? Wodurch hätte er sonst so schnell das Vertrauen der neuen Königin erlangen können. Rilana konnte sich, von dem Mann, der sie nun schon einige Zeit begleitete, Einiges vorstellen, aber nicht, dass er ein einfacher Mörder war. Archibald hatte Prinzipien und diese bildeten offensichtlich die Grundlage für sein Handeln. Er war zwar rau und wild, auch brutal, aber alles, was er tat hatte Sinn und Verstand. Er hätte niemals, nur um sein Fortkommen zu sichern hinterrücks einen Mord begangen, das wäre einem Verrat an sich selbst gleichgekommen. Rilana führte sich noch einmal die Ereignisse des Tages vor Augen. Raoul war bestraft worden, zum Einen, weil er sie entführt hatte und zum Anderen, weil er Archibald nicht den nötigen Respekt gezollt hatte; Beides gute Gründe, Männer wurden für weitaus weniger hingerichtet. Dennoch versuchte Archibald gerade in diesem Moment, das Leben ihres Entführers zu retten. Verhielt sich so ein vermeintlicher Mörder? Oder jemand, dem sein Erfolg mehr bedeutete, als ein Menschenleben? Nein! Solch ein Halunke hätte auf keinen Fall ihrer Bitte entsprochen. Er hätte den Gefangenen einfach seinem Schicksal überlassen. Hatte Archibald nicht auch den Eindruck gemacht, dass es ihm nicht ganz gleichgültig war, was sie von ihm dachte? Denn sonst hätte er wohl kaum auf der Lichtung so lange auf sie eingeredet!

Je mehr sie über ihn nachdachte, desto mehr kam sie zu dem Entschluss, diese Reise für ihre Zwecke zu nutzen. Er allein war der Einzige, der ihre Fragen beantworten konnte. Er allein wusste, was an diesem schicksalsreichen Tag wirklich geschah und ob ihre Mutter dafür verantwortlich war. Sie beschloss Archibald, auf ihrer weiteren Reise, auf all diese Dinge anzusprechen. Sie wollte endlich wissen, ob vielleicht doch ein Funken Wahrheit darin lag. Ihre unerwartete Reise war eine gute, vielleicht sogar die einzige Gelegenheit mit ihm darüber zu reden.

Lag es an ihrer Entführung, oder an all dem, was danach geschehen war, dass sie sich jetzt an diese Dinge erinnerte? Geistesabwesend füllte sie den schweren Kessel mit dem frischen Wasser des Gebirgsbaches, dann atmete sie tief durch und stellte den Kessel neben sich in den Schnee. Langsam ließ sie sich auf die Knie sinken und tauchte schließlich ihre Arme bis zu den Ellbogen in das kalte Wasser. Benommen schloss sie ihre Augen. Die Berührung war angenehm, fast so, wie seine. Ein leichtes Prickeln fuhr durch ihren Körper; Raoul! Sie sah ihn vor sich. Sein Lächeln, seine Augen, sein Mund. Seine Küsse brannten wie Feuer auf ihren Lippen. Zaghaft streifte ihre Hand ihren Mund. Ich verstehe nicht, was mir an diesem Kerl liegt. Er ist dreist. Er hat mich entführt. Er hat mich einfach ... Schon wieder dachte sie an ihn! Verdammt! Sie wollte nicht an ihn denken. Nicht daran wie er sie berührt hatte. Nicht daran wie er sie ansah und erst recht nicht daran, wie er sie geküsst hatte. Was war nur mit ihr los? Normalerweise scherte sie sich nicht um die Laffen im Schloss, die ihr, wie kleine Hunde folgten und ihr jeden Wunsch von den Augen ablasen. Diese dummen Jungen konnten ihm doch nicht das Wasser reichen! Schon wieder! Ich denke schon wieder an ihn! Vergleich ihn mit den anderen. Sie war eigentlich jemand, den man nicht so leicht aus der Fassung brachte. Er, aber, hatte es nun schon mehrfach geschafft. Verdammt, dachte sie, soll ihn doch der Teufel holen! Wütend über sich selbst, schlug sie mit der flachen Hand auf die Wasseroberfläche. Das kalte Wasser spritze ihr ins Gesicht. Das brachte sie auf den Boden der Tatsachen zurück. Sie nahm sich vor, egal, was noch kommen sollte, ihn aus ihren Gedanken zu verbannen. So viel anders, als all die anderen war er auch nicht. Warum sollte sie sich, wegen ihm, ihren Kopf zerbrechen? Vehement griff sie sich den Kessel und machte sich dann auf den Rückweg.

Als sie die Nische fast erreicht hatte, hörte sie leise Stimmen.

»Schneidet ihm einfach die Kehle durch, dann ist Ruhe!«, Rilana erkannte Wilburs Stimme. Sie blieb stehen und lauschte. »Wollt Ihr nicht ...! Könnt Ihr nicht ...!«, er amte ihren Tonfall nach. »Es ist bald nicht mehr auszuhalten! Was findet sie an dem Kerl?«

»Das verstehst du nicht, alter Freund!«

»Was verstehe ich nicht? Meint Ihr, ich bin schwachsinnig? Ich habe schon verstanden, was los ist, aber ich begreife es nicht!«

»Siehst du, genau das, habe ich dir gerade sagen wollen!«, es entstand eine Pause.

»Jetzt sag mir schon, was wirklich los ist!«

»Meine Güte, Wilbur, dein Verstand hat sich anscheinend schon schlafen gelegt! Bist du so schwer von Begriff oder tust du nur so? Ich habe weiß Gott nicht die geringste Lust dir heute Nacht zu erklären, was zwischen Männern und Frauen vorfallen kann!«

»Du glaubst doch nicht etwa ...?«

»Doch das glaube ich!«

»Friedward, Wilbur, es reicht! Wir haben kein Recht, uns ein Urteil darüber zu bilden! Haltet die Klappe! Keiner von uns kann mit Bestimmtheit sagen, was vorgefallen ist! Mutmaßungen nutzen uns nichts!« Archibalds Stimme klang wütend. »Ich will nichts mehr über dieses Thema hören. Haltet euch da raus! Es geht euch nicht das Geringste an!«

»Hauptmann, versteht Ihr sie wohl möglich?« Archibald brummte etwas vor sich hin. Sie konnte jedoch nicht verstehen, was es war. »Sagt uns schon, was das ganze Theater zu bedeuten hat!«, keine Antwort. Archibald schwieg beharrlich. Rilana hätte zu gerne sein Gesicht gesehen, doch eine innere Stimme hielt sie davon ab, sofort in die Nische zu treten. Welches Theater meinten die Männer? Gespannt lauerte sie auf die Fortsetzung der Unterhaltung.

»So, wie ich die Sache sehe,« das war Werfried, »wird es bestimmt wieder zu keiner Hinrichtung kommen!«

»Wie kommst du denn darauf? Habe ich etwas verpasst? Hat sie nicht verkünden lassen, dass sie ihn öffentlich aburteilen und hinrichten lassen will?«

»Selbst wenn, du glaubst doch nicht allen ernstes, dass es dazu kommen wird. Zum Einen wird die Prinzessin es auf keinen Fall zulassen, es müsste mit dem Teufel zugehen, wenn sie nicht eingreift. Und zum Anderen, selbst, wenn sie nicht eingreift, überlegt doch einmal, was in den letzten Jahren geschehen ist, wenn wir ihrer Mutter die vermeintlich Schuldigen brachten! Könnt ihr euch noch an den Kerl erinnern, den wir vor gut einem Jahr, auf ihr Geheiß ins Schloss bringen sollten? War glaube ich ein Kaufmann oder so etwas Ähnliches! Hatte seinen Schneider umgebracht. Der Fall hat damals großes Aufsehen erregt, zumal man die Leiche mit abgetrennten Ohren in einer belebten Straße von Andrass gefunden hat!«

»Ja, genau! Ich kann mich erinnern! Hab mich damals schon gefreut! Dachte ich bekäme endlich wieder einmal etwas zu tun. Doch nichts dergleichen geschah. Es gab noch nicht einmal eine öffentliche Verhandlung. Der Kerl ist einfach aus dem untersten Verlies verschwunden. Keiner wusste wohin, oder wie es ihm überhaupt möglich war, sich von den Ketten und aus dem Loch zu befreien. Soweit ich weiß, war er aber nicht der Einzige! In den letzten Jahren gab es bestimmt zehn oder zwanzig weitere Fälle. Merkwürdig, als ich die Königin darauf ansprach, meinte sie nur, die Gefangenen wären in ihren Löchern krepiert und ich solle mich nicht weiter darum kümmern! ... Doch wisst ihr, was das Eigenartigste daran war. Ihr kennt doch bestimmt Walter. Er ist der Totengräber des Kerkers. Er sagt, er hat niemals eine Leiche von diesen Männern zu Gesicht bekommen, geschweige denn verbuddelt!«

»Es grassieren Gerüchte, Roxane und de Beriot kümmern sich jetzt selbst um diese Angelegenheiten!«

»Keine Sorge, diesmal geht das nicht so leicht. Sie hat das Volk über alles informiert, also muss sie ihm auch etwas bieten! Hier geht es nicht nur um einen einfachen Schneider, sondern um die Prinzessin und sie selbst. Sie kann den Schuldigen nicht einfach verschwinden lassen. Sie ist es der Bevölkerung schuldig, den Kerl vor allen Augen abzuurteilen, oder meinst du, sie will einen Aufstand riskieren?«

»Wisst ihr, was ich noch komisch finde? Es waren alles gesunde, junge Kerle, die aus dem Verlies verschwanden! Die Alten und Kranken hingegen verrotten dort meist Jahrzehnte lang. Wie geht das? Wieso sterben kräftige, junge Männer an der Kerkerhaft und schwache, alte stecken sie einfach so weg? Umgekehrt wäre es doch viel logischer!«

»Zu König Williams Zeiten hätte es so etwas nicht gegeben!«, Friedward meldete sich nun zu Wort.

»Aber, das ist es nicht allein! Früher machte unsere Aufgabe noch Sinn. Heute ..., Ach, ihr wisst doch selbst, wovon ich rede!«

»Spielst du eventuell auf unsere Aufträge an?«

»Ja, genau! Wilbur, du bist der Einzige unter uns, der wenigstens hin und wieder seinem Gewerbe nachgehen kann. Wir hingegen beschäftigen uns hauptsächlich damit, harmlose Bauern von ihren Ländereien zu vertreiben. Deshalb bin ich nicht in die königliche Garde eingetreten! Ich wollte kämpfen und unseren König schützen!«, Rilanas Augen weiteten sich im Verlauf dieser Unterhaltung. Was meinten diese Männer damit? In ihrem Land wurde niemand einfach nur so von seinem Grund und Boden vertrieben und geheime Verhandlungen fanden schon gar nicht statt. Ihre Mutter hätte so etwas niemals zugelassen!

»Was willst du damit sagen?«, Wilburs Stimme klang wütend. »Denkst du etwa, mir macht es Spaß, jemanden hinzurichten, der gar nicht bei der Sache ist? Die letzten Auspeitschungen und Enthauptungen waren eine Farce!«, er schrie förmlich. »Ich weiß nicht, was diese Hexe mit ihnen angestellt hat, aber keiner von denen hat so richtig mitbekommen, was ich mit ihnen gemacht habe! Da war nichts in ihren Augen! Rein gar nichts! Sie waren vollkommen leer! Ich hätte genauso gut eine Strohpuppe richten können! Hast du schon jemals in leere Augen geblickt? Es ist beängstigend, das kann ich dir flüstern! Heute war das anders. Er wusste, was ich mit ihm vorhatte! Er hat begriffen, dass ich sein Leben in meinen Händen hielt. Und ich konnte seine Angst fühlen, ja, beinahe sogar riechen! Das nenne ich, mein Gewerbe ausüben, aber nicht das, was während dieser lächerlichen Schauspiele geschieht! Es würde mich nicht wundern, wenn auch er, in ein paar Wochen, nicht mehr in der Lage ist, seiner Verhandlung zu folgen. So ist es doch immer. Wir bringen ihr die Kerle und dann, nach einigen Tagen in ihrem Verlies ist nichts mehr von ihnen übrig. Sie verfallen dem Wahnsinn, oder noch schlimmer, sie werden zu seelenlosen Hüllen! Wie geht das? Selbst unter der Folter kannst du die Menschen zwar brechen, aber ihnen niemals ihre Seele oder ihren Geist rauben! Ich wüsste nur zu gerne, wie sie es macht! Aber, die Verliese, mit den zum Tode Verurteilten werden von ihren Leuten besser bewacht, als die Prinzessin! Ich kann, obwohl ich im Kerker ein und aus gehe, nichts darüber in Erfahrung bringen. Sie lassen mich erst gar nicht bis zu den Zellen vordringen! Vielleicht stimmen die Gerüchte ja doch und sie ist wirklich eine Hexe!«

»Männer,« Archibald, der die ganze Zeit geschwiegen hatte, ergriff nun das Wort. »Kein Sterbenswort darüber zu der Prinzessin! Ich will nicht, dass ihr sie auch noch mit euren Angelegenheiten belästigt! Wir finden schon eine Lösung für eure Probleme! Ihr müsst mir nur weiterhin vertrauen! Die Prinzessin hat keine Ahnung, was in diesem Land wirklich vor sich geht! Wir müssen sie behutsam auf das alles vorbereiten! Wenn wir sie damit überfallen, würde sie einen Schock bekommen und wir können unseren Plan vergessen! Ich werde es ihr schon erklären! Zeit genug habe ich ja jetzt! Der Schneesturm und ihre Entführung war Gottes Fügung! Eine bessere Gelegenheit wird sich nie mehr ergeben. Alles Weitere wird sich zeigen! Nun gebt endlich Ruhe! Sie wird bald zurückkommen!« Rilana hatte genug gehört. Fürs Erste! Also ging wirklich etwas in diesem Land vor sich, von dem sie keine Ahnung hatte. Doch, dass ihre Mutter die Schuld an allem trug, daran konnte und wollte sie nicht glauben. Dann schon eher de Beriot! Nur mit bloßen Mutmaßungen kam sie nicht weiter und mehr hatte sie im Moment nicht.

Rilana atmete noch einmal tief durch. Schließlich aber setzte sie sich in Bewegung und betrat, bevor ihre Begleiter die Unterhaltung fortsetzen konnten, die Nische, sodass die Männer endgültig verstummten.

Die Chroniken Aranadias I - Die Tochter des Drachen

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