Читать книгу Die Chroniken Aranadias I - Die Tochter des Drachen - Daniela Vogel - Страница 11

Kapitel 5

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Es klopfte an der Tür.

»Herein!« Ruben lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. In der Tür erschien Marcus, dicht gefolgt von einem Greis.

»Entschuldigt die Störung, Kapitän. Aber, dieser Mann möchte Euch unbedingt sprechen!« Ruben betrachtete den Mann, der nun hinter Marcus den Raum betrat. Er trug schäbige, zerschlissene Kleidung. Seine Haare waren schlohweiß und sein Gesicht von tiefen Falten zerfurcht.

»Lukas, wir setzten unser Gespräch später fort. Ich werde mich zu erst einmal um diesen Mann hier kümmern.« Ruben fixierte den Alten. »Seid gegrüßt! Mein Name ist Ruben de Arosella. Ich bin der Kapitän dieses bescheidenen Schiffes. Was führt Euch zu mir?« Der Alte sah Ruben irritiert an und ließ seinen Blick dann in die Runde schweifen.

»Mein Name ist Edward de Tourance. Ich habe eine Nachricht für Euch, von einem jungen Mann, dem ich sehr viel zu verdanken habe. Er bat mich, Euch, für den Fall, dass er nicht zurück wäre, aufzusuchen. Meine Knochen wollen nicht mehr so schnell, wie früher, deshalb komme ich erst derartig spät. Außerdem war es schwierig, für einen Mann meines Alters, sich einen Weg durch die Menschenmasse vor Eurem Schiff zu bahnen. Ich wusste nicht genau, ob ich auch willkommen bin, deshalb wollte ich das Schiff zuerst gar nicht betreten, aber Euer erster Offizier war so freundlich, mich an Bord zu bitten und so bin ich dann doch noch gekommen.« Ruben beobachtete misstrauisch den Alten, der seiner Gebrechlichkeit zu Trotz eine Verbeugung versuchte. »Euer Freund bat mich, Euch dies zu überreichen, damit Ihr mir glaubt!« De Tourance kramte in seiner Tasche und zog einen breiten, goldenen Ring heraus, den er vor Ruben auf den Tisch legte, sodass das Siegel, das sich darauf befand, in seine Richtung zeigte. Ruben erkannte ihn sofort. Das Siegel zeigte einen Drachen, der sich um ein Schwert ringelte. Ähnlich, wie es auch bei dem Siegel seines Onkels der Fall war, nur dass sich bei seinem eine Rose zu dem Drachen gesellte. Dieser Ring gehörte eindeutig seinem Cousin. Er erinnerte sich noch genau daran, wie der damals Elfjährige ihn in einer feierlichen Zeremonie erhalten hatte. Anschließen war ihm, das Symbol, unter großem Geschrei, auf den Oberarm tätowiert worden. Sein Onkel meinte damals, der Kleine würde nie ein tapferer, edler Prinz, denn er hatte dem Zeremonienmeister dabei in die Hand gebissen und alle Anwesenden mit den schlimmsten, ihm bekannten Beschimpfungen bombardiert. Bei dem Gedanken an diese Geschichte, musste Ruben unweigerlich grinsen.

»Setzt Euch!« Ruben gab Lukas ein Zeichen. Der junge Mann erhob sich widerwillig von seinem Platz. Edward hingegen nahm Rubens Angebot dankend an.

»Es ist normalerweise nicht meine Art, vor Leuten, wie Euch, wie ein Vagabund zu erscheinen, aber die Umstände zwingen mich leider dazu. Mein Leben hat man mir gelassen, aber alles andere hat sie mir genommen. Ich hasse sie!«, Ruben war irritiert.

»Wen hasst Ihr?«

»Die Königin! Gott möge seine Heerscharen schicken und sie in die tiefste Hölle zerren.« Ruben sah den Alten nachdenklich an.

»Was hat sie getan, dass Ihr sie derartig verflucht?«

»Dinge, die so unbegreiflich sind, dass sie nur ...", Edward hielt inne.

»Erzählt uns Eure Geschichte. Vielleicht können wir Euch irgendwie helfen. Unsere Beziehungen reichen weit!« De Tourance zögerte.

»Genau das hat er auch gesagt. Zuerst habe ich ihm nicht geglaubt. Doch wenn ich mir Euch und Euer Schiff so ansehe ... Also gut! Ich werde erzählen! Aber es wird Euch nicht gefallen. Was geschehen ist, ist so unvorstellbar, dass Ihr mich nachher wahrscheinlich für verrückt haltet. Aber ich bin nicht verrückt. War es nie. Also hört zu:

Zu König Williams Zeiten war mein Vater bereits Hoflieferant des Palastes. Alle wichtigen Aufträge gingen an ihn. Ich, als sein ältester Sohn, sollte, nach seinem Tod, die Geschäfte weiterführen. Das habe ich auch getan. Alles entwickelte sich bestens. Ich baute unsere kleine Handelsflotte aus. Ich kaufte ein großes Haus, stellte viele Bedienstete ein, und heiratete schließlich. Im Laufe unserer Ehe bekamen wir zwei Söhne. Alles war nahezu perfekt. Bis vor einem Jahr. Damals geschah etwas, was mein ganzes Leben unwiderruflich aus der Bahn geworfen hat. Hätte es diesen verfluchten Tag bloß nie gegeben!« Er holte tief Luft, sammelte sich und sprach dann weiter.

»Ich wurde, wie schon so oft, in den Palast gerufen. Königin Roxane und Prinzessin Rilana waren gerade aus Barwall in die Stadt zurückgekehrt. Da ich unter anderem auch dafür bekannt war, immer mit der feinsten Seide zu handeln und mein Schneider sich auf die neuste Mode verstand, ließ mich die Königin jedes Jahr, zur selben Zeit rufen, um Kleider für sich und die Prinzessin anfertigen zu lassen. Mein Schneider, Peter, begleitete mich. Wir wurden, mit samt unserer Ware, in die Räumlichkeiten der Königin geführt. Prinzessin Rilanas Amme kam kurz zu uns und teilte uns mit, dass sich die junge Hoheit in ihre Gemächer zurückgezogen hätte. Die alte Arana erzählte uns, die Prinzessin sei, bleich und vollkommen entkräftet aus Barwall zurückgekehrt. Sie war sehr besorgt und meinte, dass es mit jedem Jahr schlimmer würde. Auch hätte sie große Angst um die Prinzessin, denn Barwall würde ihr nur schaden. Anders die Königin! Für sie wäre Barwall der reinste Jungbrunnen, denn sie würde jedes Jahr strahlender aus ihrem Winterquartier zurückkehren. Arana verabschiedete sich von uns und wir warteten in der Halle darauf, endlich unseren Geschäften nachgehen zu können. Wir breiteten die Stoffe aus und legten Bänder und Gürtel bereit, als wir laute Stimmen aus dem Schlafgemach hörten. Es waren Königin Roxane und Gregory de Beriot, die sich lauthals stritten. Wir hätten besser gleich die Flucht ergreifen sollen, dann wäre uns so Einiges erspart geblieben, aber, im Nachhinein ist man immer klüger.« Ruben, inzwischen hellhörig geworden, sah zu Marcus und Lukas hinüber. Auch die beiden anderen Männer beobachteten den Alten nun mit zunehmendem Interesse.

»Ich würde Euch ja auch nicht mit meiner Geschichte belästigen«, fuhr de Tourance fort, »doch, Euer Freund meinte, sie wäre für Euch von enormer Wichtigkeit. Er jedenfalls erteilte seinem Diener, kurz nach meiner Erzählung, den Auftrag nach Barwall zu reisen. Kurze Zeit später brach auch er dorthin auf, während er mich zu Euch sandte.«

»Erzählt weiter!«, forderte Ruben de Tourance auf. »Über unseren Freund können wir dann später noch reden.« Der Alte nickte.

»Darf ich Euch etwas anbieten? Wein? Oder ein paar Früchte?«

»Danke gerne! Es ist lange her, dass man mich so zuvorkommend behandelt hat.« Ruben füllte einen Becher mit Wein und reichte ihn dem Alten. Der Kaufmann trank genüsslich einen Schluck, dann lehnte er sich zurück.

»Ein guter Wein! Aus Baranagua habe ich recht?« Ruben grunzte, während Lukas sich ein Grinsen nicht verkneifen konnte. »Aber, wo war ich stehen geblieben?«

»Ihr erwähntet, dass Ihr in der Halle wartetet und hörtet, wie sich die Königin mit de Beriot stritt!«, meldete sich nun Marcus zu Wort.

»Ach ja! Ich stand also mit Peter in der Halle. Die Königin schrie de Beriot an, er solle sich genau an ihre Pläne halten. Die Zeit sei noch nicht reif. Sie müssten noch bis zu Rilanas achtzehntem Geburtstag warten, eh man es vollenden könnte. Arana würde mittlerweile misstrauisch. Sie hätte bemerkt, dass mit der Prinzessin etwas nicht stimmen würde. Die jährlichen Zeremonien würden sie zunehmend schwächen. Außerdem wüsste er nur zu gut, dass das Ritual nur durchgeführt werden könne, wenn die Hauptperson mindestens achtzehn Jahre alt und noch Jungfrau sei. Rilanas Geburtstag sei dafür geradezu gemacht. De Beriot war dagegen der Meinung, sie sollten das Ritual sofort vollziehen. Er könne nicht mehr lange dafür garantieren, dass Rilana ihnen nicht auf die Schliche käme. Seine Tränke wären nicht mehr so wirksam, wie noch vor einem Jahr und er habe Angst, die Prinzessin würde bei einer der Zeremonien aufwachen und so die ganze Wahrheit erfahren, ohne darauf vorbereitet zu sein. Roxane schrie de Beriot daraufhin immer lauter an und nannte ihn einen erbärmlichen Wurm, der besser weiter kriechen solle, als sich den Kopf über Dinge zu zerbrechen, die ihn im Grunde genommen nichts angingen und auch nicht direkt betrafen. Er wäre ein elender Feigling, wenn ihn schon solche Kleinigkeiten aus der Fassung bringen könnten.«

Ruben schluckte. Roxane hatte also wirklich etwas mit Rilana geplant. Sie nannte es »das Ritual«. Was konnte diese Hexe nur mit dem Mädchen vorhaben und welche Zeremonien fanden schon seit Jahren statt, ohne dass Rilana etwas davon bemerkte? Ruben konnte sich keinen Reim darauf machen. So sehr er auch grübelte, ihm fiel keine Antwort auf seine Fragen ein. Aus den Augenwinkeln nahm er wahr, dass sich Lukas auf ihn zu bewegte.

»Hast du das gehört? Etwas liegt in der Luft und wir haben nicht mehr viel Zeit herauszufinden, was es ist! Rilana feiert noch in diesem Jahr ihren 18ten Geburtstag, dann erfüllen sich die Voraussetzungen für dieses, wie nannte der Alte es noch gleich, ach ja, »Ritual«. Gott gebe, dass uns schnell etwas einfällt, andernfalls ist es wohl möglich zu spät. Dein Vater hätte bestimmt Rat gewusst. Er war immer derjenige, der aus solch einer Situation einen Ausweg fand. Aber, leider weilt er schon seit Jahren nicht mehr unter uns. Gott, sei seiner Seele gnädig.« Ruben zuckte bei der Erwähnung seines Vaters unwillkürlich zusammen, dann nickte er und Edward fuhr fort.

»De Beriot verteidigte sich. Das wäre es nicht allein. Sie solle auch bedenken, dass das Versprechen König Williams noch immer Gültigkeit hätte. Rilana sei jetzt in dem Alter, in dem man es schon längst hätte einlösen können und müssen. Dementsprechend würde König Samuel immer öfter Boten nach Aranadia entsenden. Er könne nicht mehr lange verhindern, dass die Prinzessin etwas davon erführe. Noch hätte er alles fest in der Hand, aber, wenn Samuel künftig damit fortführe, könnte er nicht garantieren, dass Rilana ahnungslos der Tatsache gegenüber bliebe, dass sie dem Prinzen von Baranagua als Braut versprochen sei. Er wollte wissen, was er der Prinzessin antworten solle, wenn sie ihn darauf anspräche, warum sie ihren zukünftigen Ehemann bisher noch nicht kennengelernt hätte, und warum ihre bevorstehende Hochzeit noch nie erwähnt worden sei. Roxane meinte daraufhin, er solle sich nicht so anstellen. Sie hätte nicht so lange gekämpft und all die Jahre die liebende Mutter gespielt, nur damit er, kurz vor dem Ziel den Schwanz einzöge. Er wüsste doch nur zu gut, was auf dem Spiel stünde. Außerdem hätte sie ja auch Mittel und Wege gefunden, sein kleines Geheimnis, wie sie es nannte, all die Jahre zu verbergen.

Peter und ich hatten genug gehört und wollten gerade den Raum verlassen, als die Königin wutentbrannt in den Saal stürmte. Zunächst nahm sie uns gar nicht wahr, doch dann sah sie uns. Etwas so Hasserfülltes, wie diese Augen, habe ich in meinem ganzen Leben noch nicht gesehen. Sie funkelte uns an, als wolle sie uns auf der Stelle töten, aber, weit gefehlt. Von einem zum anderen Moment änderte sich ihre Stimmung in jeder Hinsicht. Sie setze das zauberhafteste Lächeln auf, das ich je zu Gesicht bekommen habe, suchte Stoffe aus, ließ Maß nehmen und verabschiedete uns schließlich mit den Worten: »Ich hoffe für Euch beide, dass Ihr Euer verbleibendes Dasein zu schätzen wisst, denn Ihr könnt Euch doch denken, dass ich mich erkenntlich zeige und Eure Bemühungen entsprechend honorieren werde.« Dann lachte sie. Ich bekam eine Gänsehaut. Auch heute noch dröhnt es in meinen Ohren. Sie ist ein Teufel. Der Satan höchstpersönlich. Ich hoffe, sie fährt zur Hölle und schmort dort im ewigen Feuer!« De Tourance bekreuzigte sich. Die Männer waren, wie versteinert. Nur das Flackern der Kerze brachte Bewegung in den Raum.

»Wenn ich damals gewusst hätte«, begann der Alte von Neuem, »was sie mit mir vorhatte, hätte ich das nächstbeste Schwert genommen und mich hineingestürzt. So aber ging ich, mit einem merkwürdigen Gefühl im Magen, nach Hause.« Edward führte seinen Becher erneut an seine Lippen. Seine Hände zitterten. Ruben sah, dass der alte Mann, all seine Kraft zusammennehmen musste, um weiter zu erzählen.

»Das war eigentlich der harmlosere Teil meiner Geschichte. Soll ich weitererzählen?«

»Ich bitte darum!«

»Peter und ich eilten, so schnell wir konnten, zu meinem Haus. Wir redeten nicht über die Dinge, die wir gehört hatten. Wahrscheinlich aus Angst, etwas heraufzubeschwören, das wir nicht aufhalten konnten, oder um niemand anderen in Gefahr zu bringen. Ich glaube, uns war trotzdem durchaus bewusst, dass die Geschichte damit nicht beendet war. Peter verließ bei Sonnenuntergang mein Haus. Am nächsten Morgen fand man ihn, mit durchgeschnittener Kehle und abgetrennten Ohren, in einer belebten Straße dieser Stadt. Meine Frau und meine beiden Söhne befanden sich, zu diesem Zeitpunkt, gerade bei Verwandten. Ich war froh, dass sie so weit entfernt und in Sicherheit waren, denn meine Angst steigerte sich nahezu stündlich.« Edward ergriff seinen Becher Wein und leerte ihn in einem Zug. »Ich war vollkommen unfähig einen klaren Gedanken zu fassen, denn Peters Tod ging mir außerordentlich nahe. Genau genommen arbeitete er nicht nur für mich, sondern war auch einer meiner engsten Freunde. Gegen Mittag traf ein Bote der Königin bei mir ein, der mir ein Geschenk von ihr überbrachte. Ich ahnte, dass es nichts Gutes beinhalten konnte, aber, was ich dann zu sehen bekam, ließ mein Herz für einen Bruchteil einer Sekunde aussetzen. Sie schickte mir doch, wirklich und wahrhaftig, Peters Ohren. Ich geriet in Panik. Mir wurde zunehmend klar, dass auch ich nicht mit heiler Haut davonkäme. Ich wollte fliehen, aber wohin? Außerdem hätte ich vermutlich nur meine Familie in Gefahr gebracht. Also wartete ich ab. Eine Woche lang geschah nichts. Ich wähnte mich schon in Sicherheit. Dann kamen sie. Drei Männer aus der Leibgarde der Königin. Sie brachten mich in die Burg und führten mich in das Verlies. Ich beteuerte immer wieder, ich hätte nichts verbrochen und sie sollten mich freilassen, doch die Männer zeigten keinerlei Regung. Sie sperrten mich in eine Zelle zu einigen heruntergekommenen Gestalten, die vor lauter Schwäche kaum in der Lage waren zu sprechen. Dort ließen sie mich eine Nacht. Als der Morgen hereinbrach, kamen vier weitere Männer in die Zelle und zerrten mich in ein Gewölbe, tief unter der Burg. Die Kammer, in die sie mich nun brachten, war nur halb so hoch, wie normale Räume. Ihre Wände waren rau und feucht. Von außen gelangte kein Lichtstrahl in das düstere Loch, denn nirgendwo befand sich ein Fenster. Ich hatte schon des Öfteren davon gehört, dass die Königin für spezielle Gefangene extra Räume in den untersten Kellergewölben hatte bauen lassen. Doch als ich jetzt solch eine Kammer mit meinen eigenen Augen sah, hoffte ich, es handele sich nur um meine Wahnvorstellungen. Jetzt ergriff mich wirklich und wahrhaftig die Panik. Ich schrie und wehrte mich, aber gegen die Übermacht der Soldaten war ich machtlos. Einer versetze mir einen Schlag auf den Hinterkopf, und als ich erwachte, lag ich angekettet und fast nackt auf dem kalten Boden in der Kammer hinter einer fest verschlossenen Tür. Ich befand mich in vollkommener Dunkelheit. Mein Kopf dröhnte. Ich zerrte an meinen Ketten. Dann schrie und flehte ich die verschlossene Tür an. Ich rief, sie sollen mich herauslassen. Ich hätte niemandem etwas getan. Ich hätte Familie. Alles wäre nur ein dummes Missverständnis. Aber niemand reagierte auf meine Schreie. Ich konnte mich nicht hinstellen, geschweige denn laufen. Als ich merkte, dass all mein Bestreben keinen Sinn hatte, kauerte ich mich in eine Ecke und heulte, wie ein kleines Kind. Einmal, vielleicht auch zweimal am Tag, ging eine kleine Luke in der Tür auf und man schob mir Wasser und etwas zu Essen durch die Öffnung. Einzig und allein der Gedanke an meine Frau und meine beiden Söhne hielt mich am Leben.

Die erste Zeit versuchte ich noch, die Tage zu zählen, aber man verliert schnell den Überblick, wenn man scheinbar endlos in völliger Dunkelheit sitzt.« Marcus ging auf den alten Mann zu, dem jetzt Tränen in den Augen standen. Tröstend legte er eine Hand auf dessen Schulter.

»Junger Mann«, Edward sah ihm tief in die Augen. »Wärt Ihr so freundlich und würdet mir Euer Alter verraten?«

»Ich?« Marcus sah zu Ruben hinüber, der ihm wohlwollend zunickte.

»Siebenundzwanzig!«

»Wie alt schätzt Ihr mich?« Edward warf seinen Blick in die Runde. Die drei Männer wirkten irritiert und schwiegen.

»Ihr seht so aus, als habe Euch die Anzahl Eurer Jahre zu einem weisen Mann gemacht.«, es war Ruben, der die Stille durchbrach.

»Blumig umschrieben, aber weit gefehlt, junger Mann. Wenn ich Euch so betrachte und Euer Alter schätzen müsste, dann würde ich sagen, dass Ihr nur unwesentlich jünger seid als ich.« Ruben war verwirrt. Er wusste zwar, dass eine lange Kerkerhaft, Menschen altern lassen konnte, aber, dass sie aus einem Mann, der in der Blüte seiner Jahre stand, einen Greis machte, war ihm neu. Edward bemerkte den Gesichtsausdruck seines Gegenübers. »Glaubt mir, ich habe mich selbst nicht wieder erkannt, als ich mich das erste Mal, nach meiner Kerkerhaft, sah. Aber lasst mich meine Geschichte zu Ende erzählen, dann werdet Ihr verstehen.

Ich weiß nicht,« sprach er weiter, »wie lange ich in diesem Loch gesessen habe. Wie schon gesagt, hatte ich langsam den Überblick verloren. Mein Verstand schwand ebenfalls. Meine Gedanken kreisten um meine Familie. Was würden sie sagen, wenn sie mich hier so sehen könnten? Ich wollte meiner Frau die Schmach ersparen, jemals zu erfahren, was mit mir geschehen war. Da ich sowieso die Vermutung hatte, die Königin ließe mich in diesem Loch verrotten, beschloss ich ihr zuvorzukommen und einfach zu sterben. Ich verweigerte die Nahrung, denn ich wusste, dass das die einfachste und einzige Methode war, meinem Leben ein Ende zusetzen. Mit jedem Tag wurde ich schwächer, aber auch glücklicher, denn nun hatte ich endlich die Fäden selbst in meiner Hand. Aber dann, als ich schon fast vollkommen kraftlos, mich meinem Schicksal ergeben hatte, ging die Tür auf. Die Fackeln des Ganges warfen gleißendes Licht in meine Kammer. Ich war geblendet. Meine Augen tränten und brannten. Ich bemerkte, wie jemand in den Raum kroch, mich von den Ketten befreite und dann an den Füßen aus der Kammer zog. Ich war nicht fähig zu stehen, geschweige denn zu laufen. Zwei Männer ergriffen mich, zerrten mich auf meine Füße und schleiften mich dann durch die Gewölbe. Ich hörte, wie sie mehrere Türen öffneten.

Unser Ziel war ein hell erleuchteter Raum. Sie drückten mich auf einen Hocker und ließen mich dort allein zurück. Meine Augen brannten noch immer, aber es gelang mir zunehmend, meine Umgebung wenigstens schemenhaft wahrzunehmen. Ich hatte Angst. Mit meinem Tod hatte ich mich ja bereits abgefunden, aber anscheinend hatte man mit mir etwas anderes vor und das bereitete mir Entsetzen. Ich hörte leise Schritte, die langsam lauter wurden und schließlich vor mir zum Stehen kamen. »Schön Euch wieder zu sehen. Wie ist es Euch in all der Zeit ergangen? Ich hoffe Ihr habt meine Gastfreundschaft genossen! Ihr seht schlecht aus! Hat man Euch nicht zuvorkommen behandelt? Es würde mir leid tun, zu erfahren, dass meine Gäste mit ihrer Unterbringung nicht zufrieden waren!« Diese Stimme kannte ich genau. Sie gehörte der Königin. Ihre höhnischen Worte raubten mir den letzten Rest meines Verstandes. Ich wollte mich auf sie stürzen. Noch immer fast blind, versuchte ich sie zu erreichen, aber meine Beine versagten ihren Dienst und ich fiel mit dem Gesicht auf den Boden. Arme griffen mich von hinten und setzen mich zurück auf den Schemel. Roxane lachte. Sie lachte wieder so, als wäre sie der Teufel in Person. Ich zuckte zusammen. »Ihr wart lange Zeit mein Gast! Mal sehen ... ich glaube, es sind neun Monate.« Ich spürte, dass sie jedes ihrer Worte genoss und ich konnte einfach nur hilflos da sitzen und ihr zuhören. »Wie ich hörte, geht es Eurer Familie bestens!« Gott Lob, sie hatte meiner Frau und meinen Söhnen nichts angetan. Tränen liefen mir über die Wangen. »Tränen? So glücklich? Ich werde Euer Glück noch vergrößern. Eure Frau hat im letzten Monat einer kleinen Tochter das Leben geschenkt. Ich möchte Euch dazu gratulieren. Es wäre doch so schön dieses kleine, zerbrechliche Geschöpf in den Armen halten zu können! Nur schade, dass Ihr die kleine Edwina nie zu Gesicht bekommen werdet!« Da war es wieder, dieses Lachen. »Ihr wollt Eurer Frau doch nicht etwa die Ehre erweisen, wieder in ihr Leben zu treten, zumal ich ihr, mein tiefes Bedauern über Euren Tod ausgesprochen habe. Außerdem ist sie, Dank meiner freundlichen Hilfe, seit Kurzem die Frau meines neuen Hoflieferanten. Ihr wollt doch keine Dummheit begehen und meine Worte Lügen strafen.« Ich bekam eine Gänsehaut. Ich war Vater geworden und wusste es nicht einmal. Meine Frau hatte erneut geheiratet in der Annahme ich sei tot. Und ich saß hier, vor dieser Hexe und musste mir so kurz vor meinem Ableben ihre Ausführungen anhören. Nichts schien mir noch wichtig. Meine Familie war für mich verloren. Ich war so gut, wie tot, aber was mich am meisten kränkte, warum hatte diese Hexe mich nicht einfach so in meiner Zelle sterben lassen, warum musste sie mir vor meinem Ende das alles noch erzählen?«

»Habt Ihr nachgeprüft, ob die Königin Euch auch die Wahrheit sagte, als sie Euch über diese Vorkommnisse in Kenntnis setzte?«

»Wie könnt Ihr mich so etwas nur fragen?«, Edward war außer sich. »Sicher sprach sie die Wahrheit. Es war nicht einmal schwer, alles nachzuprüfen. Schaut mich doch an! Als mich meine Frau zuletzt sah, war ich ein junger Mann, jetzt bin ich ein Greis, den nicht einmal seine eigene Mutter erkennen würde. Ich ging zu unserem Haus. Dort sah ich sie und die Kinder. Sie trug die Kleine auf dem Arm. Ihr Mann trat aus dem Haus und küsste sie zärtlich. Es brach mir fast das Herz, sie mit einem anderen in unserem Haus zu sehen. Meine Frau schien glücklich zu sein. Ich beobachtete sie eine ganze Weile vom Tor unseres Hauses aus. Als sie mich sah, warf sie mir einen Dukaten zu. »Hier Alter«, rief sie, »geh und kaufe dir etwas zu essen und trink dir einen, auf unser Wohl.« Alles, was ich noch tun konnte, war einfach zu gehen. Ich konnte und wollte ihr nicht sagen, wer in Wahrheit vor ihr stand. Ich wünschte mir, die Erde würde sich öffnen und mich in die Tiefe ziehen. Ich fühlte mich so erbärmlich.«

Ruben schlug mit der Faust auf den Tisch.

»Wieso fühlt Ihr Euch erbärmlich? Sie müsste sich erbärmlich fühlen. Überlegt doch einmal, was sie Euch alles angetan hat. Roxane spielt mit den Menschen. Es ist so ihre Art. Das Schlimme daran ist, dass sie auch die Macht dazu besitzt. Sie hatte niemals vor, Euch zu töten und sie wollte Euch auch nicht in diesem Loch verrotten lassen. Alles, was sie wollte, war Euch zu zerbrechen. Doch anscheinend ist ihr das nicht vollständig geglückt.« Ruben sah Edward in die Augen. Der Andere erwiderte seinen Blick und nickte.

»Das, mein junger Freund, wird ihr niemals gelingen.« Jetzt war es Ruben, der nickte. Dann beendete de Tourance seine Geschichte.

»Meine Augen gewöhnten sich zunehmend an das Licht. Ich konnte nun einzelne Personen in dem Raum erkennen. Roxane war nicht allein. Neben ihr stand de Beriot, selbstgefällig grinsend. Auch die Königin verzog ihr Gesicht zu einem höhnischen Grinsen. Ich war ihnen ausgeliefert und das wussten sie nur zu gut. Roxane stand im Schein einer Fackel, in deren Licht ihre Haare wie Feuer glühten. Sie sah aus, wie eine Ausgeburt der Hölle, mit dem Gesicht eines Engels. Entsetzt starrte ich sie an, dann bekreuzigte ich mich. Meine Angst lähmte mich. Ich fragte mich, was sie wohl noch mit mir vorhatte, denn eines war mir klar, ihre Ausführungen waren erst der Anfang und nicht das Ende. Wieder ertönte ihr schrilles Lachen. »Habt Ihr Angst? Das ist auch berechtigt und gut! Ihr glaubt gar nicht, wie die Angst den Geist beleben kann. Es ist mir eine Freude, Euch mitzuteilen, dass Ihr es gleich überstanden habt!« Ich dachte, endlich bringt sie es zu Ende und lässt mich sterben. Aber, ich irrte mich. »Wisst Ihr eigentlich, welch stattlicher junger Mann Ihr seid. Gut, Eure Haare sehen jetzt ein bisschen wild aus und Euer Gesicht wird etwas von diesem schrecklichen Bart, der Euch während Eures Aufenthaltes hier gewachsen ist, verunstaltet, aber noch vor neun Monaten, hätte ich Euch ohne zu zögern in mein Bett gelassen.« Ich verstand absolut nichts mehr. Was wollte sie wirklich von mir. Langsam kam sie auf mich zu, ergriff meine Haare und zog meinen Kopf in den Nacken, sodass ich ihr in die Augen blicken musste, dann küsste sie mich wild und fordernd auf den Mund. De Beriots Lachen tönte durch den ganzen Raum. »Armer, kleiner Kaufmann! Ihr ward zur falschen Zeit am falschen Ort. Ich kann nicht zulassen, dass Ihr mein kleines Geheimnis überall herum erzählt. Aber keine Sorge, so schlimm wird es nicht werden.« Sie küsste mich erneut. Ich hoffte inständig, dass sie dem Ganzen endlich ein Ende setzen würde, und meine Hoffnungen wurden, so dachte ich jedenfalls, erfüllt. De Beriot übergab ihr einen Kelch, aus dem es verdächtig dampfte. Gift, dachte ich. Gott war gnädig mit mir. Sie wollte mich anscheinend vergiften. »Trinkt das!« Sie setzte den Becher an meine Lippen. Gierig ließ ich den Trank durch meine Kehle laufen. Mit jedem Schluck spürte ich, wie er tiefer in meinen Körper eindrang. Meine Haut begann zu glühen. Ich betete zu Gott und dankte ihm, für die schnelle Erlösung. Als ich den Kelch vollständig gelehrt hatte, gab Roxane ihn zurück an de Beriot. Beinahe liebevoll wischte sie mir über den Mund, dann küsste sie mich erneut. »Ich wünsche Euch, dass Euer weiteres Leben, etwas anders verläuft, als die letzten neun Monate. Genießt es, denn lange, wird es nicht mehr dauern!« Mit diesen Worten drehte sie sich um, und ging auf de Beriot zu, dann betrachteten die beiden mich schweigend. In diesem Moment rebellierte mein Körper. Er verkrampfte sich und ich konnte mich nicht länger auf meinem Hocker halten. Ich fiel auf den Boden und krümmte mich vor Schmerzen.

»Endlich!«, hörte ich de Beriot sagen. »Warum machst du immer so ein Theater darum? Du hättest ihm den Trank auch einfach in den Schlund schütten können, dann wäre alles schon lange erledigt!«

»Lass mir mein Vergnügen! Es ist wesentlich aufregender, wenn man ihnen vorher die Angst vor dem Tod nimmt. Sie wissen ja nicht, was man wirklich mit ihnen vorhat, diese armen Schafe!« Trotz meines Kampfes verstand ich jedes ihrer Worte. Ich schrie. Ich wollte sie Fragen, was sie mir angetan hatten, aber aus meinem Mund kamen nur noch gurgelnde Laute. Ich war nicht mehr fähig, zu sprechen. Mir wurde zunehmend bewusst, dass das, was sie mir gegeben hatte, mich nicht umbringen würde, aber, was geschah dann mit mir. Kalter Schweiß brach mir aus. Mein Körper wurde durch die Krämpfe immer heftiger geschüttelt. De Beriot und Roxane starrten mich derweil immer erregter an. Ich begriff einfach nicht, was mit mir vor sich ging. Ich bat Gott, er solle mir gnädig sein und fügte mich in mein Schicksal. Wie lange mein Kampf gedauert hat, kann ich nicht mehr sagen, denn irgendwann verlor ich das Bewusstsein.

Als ich wieder zu mir kam, lag ich in Lumpen gekleidet im Schnee auf einer Straße in Andrass. Ich lebte, aber, irgendwie hatte ich dennoch das Gefühl, dass etwas nicht mit mir stimmte. Ich fühlte mich müde. Meine Glieder waren schlaff und schmerzten. Benommen rappelte ich mich auf. Ich beschloss, zum Hafen hinunter zu gehen. Dort, so dachte ich, würden sich vielleicht einige Leute finden lassen, die mich erkannten. Ich war ja noch nicht einmal ein Jahr fort gewesen. Aber, als ich am Hafen ankam, erkannte mich niemand. Ich verstand das alles nicht, zumal ich selbst einen großen Teil der Anwesenden kannte. Ich sagte ihnen: »Schaut her, ich bin zurück! Erkennt Ihr mich etwa nicht? Ich bin es, Edward!« Sie, aber, brachen in Gelächter aus und nannten mich einen senilen Alten, der nicht mehr wüsste, wovon er überhaupt spräche. Ich traf alte Freunde und Bedienstete, doch, egal wem ich meine Geschichte auch erzählen wollte, alle hielten mich für verrückt. Sie meinten, Edward sei ein junger Mann gewesen, ich aber wäre ein alter Greis, ich solle keine Geschichten erzählen und mich sputen, sonst würden sie die Dinge auf ihre Art regeln. Resigniert schlich ich davon. Nach einer Weile entdeckte ich einen Zuber voll Wasser. Die Sonne brach sich in der glatten Oberfläche und ich konnte mein Spiegelbild erkennen. Ich bekam einen solchen Schreck, dass ich wütend gegen den Holztrog trat. Die Flüssigkeit ergoss sich über den Boden und lief mir über die fast nackten Beine. Ich beobachtete das Rinnsal, wie es sich seinen Weg über meine Füße suchte, über den Boden lief und dann in der Erde versickerte. Genauso war ein Teil meines Lebens versickert. Innerhalb eines Augenblicks, war nur noch ein letztes Rinnsal davon übrig. Das war doch alles nicht möglich. Wie konnte so etwas nur geschehen. Ich dachte, ich hätte mich vielleicht etwas verändert, aber, das, was ich dort im Wasser gesehen hatte, war nahezu unmöglich. Wie konnte ich in dermaßen kurzer Zeit, um so viele Jahre altern? Es gab dafür keine Erklärung. Ich war zu nichts mehr zu gebrauchen. Meine Gedanken rasten durch meinen Kopf. Ich dachte, ich hätte den Verstand verloren. Dann kam mir der Idee, Roxane hätte mich nicht richtig über die Dauer meiner Gefangenschaft aufgeklärt. Aber, wieso war sie dann nicht gealtert? Daraufhin schlich ich mich zu meinem Haus, wo ich dann auch meiner Frau und den Kindern begegnete. Alle waren nur unwesentlich älter. Als sie mir dann auch noch einen Dukaten zuwarf, war es mit meiner Selbstbeherrschung endgültig vorbei. Ich war ein gebrochener Mann. Ich wollte nur noch sterben, aber, selbst das war mir nicht vergönnt. Ich schlich durch die Straßen und bettelte die Reisenden an. Dort fand mich dann schließlich Euer Freund. Er gab mir etwas zu Essen und nahm mich mit in seine Herberge. Ich glaube, er war der erste Mensch, der mir das Gefühl gab, mir meine Geschichte zu glauben. Er behandelte mich nicht, wie einen verrückten Aussätzigen.« Edward schwieg. Auch Ruben und die anderen schwiegen. Nur das Klatschen der Wellen und das Knarren der Schiffsplanken unterbrach hin und wieder die bedrückende Stille.

»Ich glaube, jetzt habe auch ich einen Schluck nötig!« Lukas brach als Erster das Schweigen. Er verließ die Kabine und kehrte, kurze Zeit später, mit einer Flasche Rum zurück. »Ich schätze, das hier«, er hielt die Flasche in die Höhe, »hilft besser, als jeder noch so gute Wein!« Daraufhin entkorkte er sie und verteilte ihren Inhalt auf vier Becher. Drei schob er vor die anderen Männer, den Vierten behielt er in seiner Hand. Schließlich hob er ihn theatralisch empor. »Auf unseren Freund! Möge er jeden Tag eine gute Tat vollbringen!«

»Wollt Ihr ihn verspotten? Das hat er nicht verdient!« Edward sprang, so schnell es seine alten Knochen zuließen, wütend von seinem Stuhl. Er wollte den Raum verlassen, doch Marcus hielt ihn zurück.

»Ihr könnt Euch beruhigt wieder setzen! Lukas fehlt das nötige Feingefühl. Selbst wenn seine Bemerkung Euch gegolten hätte, so hätte er sie mit Sicherheit nicht so gemeint! Das ist eben seine Art, mit Geschichten dieses Schlages umzugehen! Der eine wird schwermütig, der andere nachdenklich. Unser Freund hier hingegen versucht es mit Sarkasmus!« Edward wirkte nachdenklich, dann jedoch setzte er sich erneut.

»Ach ja, da ist noch etwas, was ich Euch sagen soll. Ich hätte es jetzt beinahe vergessen! Euer Freund lässt Euch ausrichten, Ihr sollt hier auf ihn warten. Er rechnet damit, dass er für sein Vorhaben ungefähr zwei Wochen benötigt. Da er vor zehn Tagen abgereist ist, nehme ich an, dass er in spätestens vier Tagen wieder hier in Andrass eintrifft. Nachdem er seinem Diener den Befehl gegeben hatte, als Bote nach Barwall zu reisen, hörten wir einige Tage später Gerüchte über das Verschwinden eines Boten. Er wollte sich Gewissheit verschaffen und den Dingen selbst auf den Grund gehen. Er meinte, ich solle mir keine Sorgen machen, aber, es gäbe da etwas, was keinen Aufschub mehr duldet. Er könne beim besten Willen nicht länger warten. Was er mir genau damit mitteilen wollte, kann ich Euch auch nicht sagen. Er hat nicht weiter mit mir über diese Angelegenheit gesprochen, und immer wenn ich auf dieses Thema lenken wollte, kamen nichts als Ausflüchte über seine Lippen. Ich habe ihn gewarnt, förmlich angefleht, nichts zu überstürzen, doch, egal welche Argumente ich auch vorbrachte, er wollte nicht auf mich hören. Er ist noch in derselben Nacht aufgebrochen.«

»Habt Ihr in der Stadt die Berichte der Herolde gehört?«

»Ihr meint, was sie über die Vorfälle in Barwall verkünden? Sicher, wie hätte ich auch meine Ohren davor verschließen können? Die ganze Stadt ist in Aufruhr. Alle reden von nichts Anderem … Meint Ihr etwa ...? Verdammt! Er bricht nach Barwall auf und kurze Zeit später versucht jemand die Königin zu ermordet und entführt die Prinzessin. Wenn man dann eins und eins zusammenzählt, …! Könnte er es gewesen sein? Ihr kennt ihn schließlich wesentlich länger und somit, so hoffe ich wenigstens, auch sehr viel besser als ich!« Ruben runzelte die Stirn. Er war sich dessen nicht mehr so sicher.

»Nachdem, was Ihr uns erzählt habt, müssen wir wirklich mit dem Schlimmsten rechnen.«

»Würdet Ihr ihm eine solche Tat zutrauen?«

»Ich weiß es nicht! Bei Gott, ich wünschte, ich könnte das Eine oder das Andere mit Bestimmtheit behaupten, doch meine Zweifel wachsen stetig!« Der alte Kaufmann schluckte, während er nervös auf seinem Stuhl hin und her rutschte.

»Würdet Ihr mir einen Gefallen tun?« Ruben sah ihm ins Gesicht. Edward legte seine Stirn in Falten und fixierte den Jüngeren. »Es soll Euer Schaden nicht sein!«, fügte dieser schnell hinzu.

»Junger Mann, was haltet Ihr von mir? Mache ich den Eindruck, als wären Gefälligkeiten für mich nur eine bequeme Einnahmequelle? Wäre ich dann einfach so, auf Euer, sagen wir einmal, ungewöhnliches Schiff gekommen, nur um Euch eine Nachricht zu übermitteln?« Edward sprang auf. »Ich hätte genauso gut meinen Lohn nehmen und verschwinden können. Nachdem, was in Barwall geschehen ist, hätte doch keiner von Euch von meiner Existenz gewusst. Ebenso wärt Ihr Euch weiterhin im Unklaren darüber, wo Euer Freund steckt und sein Siegel hätte mir bei den ansässigen Goldschmieden wahrscheinlich ein Vermögen eingebracht. Glaubt mir, es wäre ein Leichtes für mich gewesen, einfach zu verschwinden. Ihr habt es Euch offenbar zur Aufgabe gemacht, mein Ehrgefühl zu verletzen! Ich habe es nicht nötig ...!«, er lief zur Tür.

»So habe ich das nicht gemeint!«, lenkte Ruben ein. »Es tut mir leid, dass ich Euch beleidigt habe.« Edward hielt kurz inne, drehte sich Ruben zu und funkelte ihn wütend an. »Wirklich«, ergänzte Ruben noch. »Es ist normalerweise nicht meine Art, anständige Leute zu verletzen, aber im Moment bin ich nicht ganz ich selbst. Ich ...«

»Na schön! Es sei Euch verziehen!«, Edward machte langsam auf dem Absatz kehrt und ließ sich erneut auf dem Stuhl nieder. »Diesmal noch und nur um Eures Freundes willen! Was kann ich für Euch tun?« Ruben atmete auf.

»Wie mir scheint«, begann Ruben nun zögernd, »vertraut Euch mein Vetter!«

»Er ist Euer Vetter? Ich war mir von Anfang an sicher, dass er kein gewöhnlicher Kaufmann ist. Und da Ihr ebenfalls keine Kaufleute seid, wird mir so Einiges klar!«

»Wie, in Gottes Namen, kommt Ihr auf die Idee, dass wir keine Kaufleute sind?«

»Junger Mann, ich habe auf meinen verschiedenen Reisen so manches gesehen. Unter anderem auch die Schiffe der unterschiedlichsten Handels- und Kriegsflotten. Und eines kann ich Euch deshalb mit Bestimmtheit sagen: Euer Schiff hier zählt normalerweise nicht zu den Ersteren! Ihr seid keine Händler, das wusste ich bereits, bevor ich dieses Schiff betrat. Nur, wer seid Ihr wirklich? Warum dieser ganze Aufwand? Was steckt hinter Eurer, wie soll ich es nennen, Tarnung?«

»Wie kommt Ihr darauf, dass wir uns nur tarnen wollen?«

»Was meint Ihr, wofür Eure Luken benutzt werden? Wie viele sind es? Achtzig? Oder, einhundert? Ihr wollt mir doch nicht weiß machen, dass es sich bei ihnen, um Luken zur Belüftung der Ladung handelt?«

»Auch Eure Handelsschiffe fahren mit Kanonen an Bord!«, warf Ruben ein.

»Ja, aber sie sind nicht auf jedem ihrer Decks von Schießscharten durchlöchert! Wo wollt Ihr bei solch einem Gewicht noch Waren einlagern? Sagt mir, was Ihr hier in Aranadia wirklich treibt?«

»Nein, vorerst nicht! Es könnte uns alle in Gefahr bringen!«

»Ich bin ein alter Narr, auf dessen Worte kein Wert gelegt wird, und dem niemand zuhört. Was sollte ich schon groß erzählen können?«

»Vertraut mir, wenn die Zeit dafür reif ist, werdet Ihr alles Nötige erfahren. Mein Vetter vertraut Euch, denn sonst hätte er Euch wohl kaum sein Siegel überlassen! Es wäre für ihn viel zu gefährlich! Nicht nur sein, sondern unser aller Leben, aber auch die Zukunft unseres Landes hängt vom Gelingen unserer Mission ab. Allem Anschein nach sind unsere Gegner dieselben. Da Ihr hier aufgewachsen seid, und jeden Winkel dieser Stadt kennt, könntet Ihr, wenn Ihr wollt, für uns sehr nützlich sein! Verzeiht, aber so, wie Ihr jetzt ausseht, fallt Ihr unter den hiesigen Bettlern nicht sonderlich auf. Ihr könntet Euch, ohne große Schwierigkeiten, unter sie mischen. Ich weiß, aus meiner Erfahrung, dass sie meist diejenigen sind, die irgendwelche Neuigkeiten als erste aufschnappen, zumal ihr Leben oft genug davon abhängt. Ihr könntet meine Männer auf diese Weise über jede Meldung informieren, bevor sie an die allgemeine Öffentlichkeit gelangt. Würdet Ihr uns dahin gehend unterstützen? Es ist Euer Risiko. Ich kann Euch zu nichts zwingen, aber ich verspreche Euch, wenn wir hier mit heiler Haut davonkommen, dann werde ich sehen, was ich für Euch tun kann! Ich möchte nicht, dass Ihr mich wieder falsch versteht, denn ich würde mich glücklich schätzen, Euch dann auch einen Gefallen zu erweisen! Wollt Ihr einschlagen?« Ruben streckte dem Alten seine Hand entgegen. Edward zögerte, dann grinste er breit. Seine Zähne waren, wieder Erwarten, makellos weiß und noch vollständig vorhanden, was in solch einem alten Gesicht äußerst seltsam aussah.

»In Anbetracht der Tatsache, dass ich sowieso nichts mehr zu verlieren habe ...!«, er nickte. Schließlich ergriff er Rubens ausgestreckte Hand.

»Vorerst habe ich noch keine Ahnung, womit wir beginnen sollen, deshalb bitte ich Euch, bleibt unser Gast! Wir werden sehen, wohin uns das alles hier führt! Marcus zeige dem Mann sein Quartier. Ihm soll es an nichts fehlen!«

Die Chroniken Aranadias I - Die Tochter des Drachen

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