Читать книгу Die Chroniken Aranadias I - Die Tochter des Drachen - Daniela Vogel - Страница 13

Kapitel 7

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Nachdem Marcus mit Edward den Raum verlassen hatte, richtete Ruben sein Wort an Lukas.

»Was hältst du von der Geschichte?« Lukas strich sich durch seine blonden Locken.

»Keine Ahnung! Es ist denkbar, dass Roxane diesen Mann fast ein Jahr gefangen gesetzt hat, nur weil er etwas gehört hat, was er besser nicht hätte hören sollen. Ich habe heute Morgen bereits von ähnlichen Vorfällen gehört. Aber der Rest der Geschichte ist äußerst merkwürdig. Ich kann mir beim besten Willen keinen konkreten Reim darauf machen!«

»Stimmt! Wenn sich der Vorfall tatsächlich so zugetragen hat, wie es uns der Alte erzählt hat, dann ließe das nur eine Schlussfolgerung zu: Die Königin steht wirklich und wahrhaftig mit den finsteren Mächten im Bunde und jedes Wort, das man über sie sagt, entspricht der Wahrheit. Ich frage mich nur, welchem Zweck diese Vorstellung diente. Ich glaube nicht, dass ihr einziger Grund darin bestand, den Kaufmann an den Rand des Wahnsinns zu treiben. Es steckt mit Sicherheit noch etwas anderes dahinter und ich werde, so wahr mir Gott helfe, herausfinden, was es ist!" Ruben verzog nachdenklich sein Gesicht. Im Zusammenhang mit Roxane wurden wirklich die merkwürdigsten Dinge behauptet, wie zum Beispiel ihre fast schon gespenstisch anmaßende Schönheit und ihre nahezu immerwährende Jugend. Diese Dinge konnten jedoch auch vollkommen natürliche Ursachen haben, denn Rubens Tante, die Mutter seines Vetters, besaß ebenfalls, trotz ihres fortschreitenden Alters, Schönheit und jugendlichem Aussehen, und es war offensichtlich, dass ihr gegenüber nicht der geringste Verdacht gehegt wurde, sie könnte mit Magie nachhelfen. Aber, anders als bei seiner Tante, schien der Glanz, der von Roxane ausging, völlig andere Wurzel zu haben. Und, was noch merkwürdiger war, warum wurde de Beriot immer in diesem Zusammenhang erwähnt? Welche Rolle spielte er? Was mochte zwischen den beiden vorfallen, denn vieles deutete darauf hin, dass ihre Beziehung nicht die Beziehung eines Großkanzlers zu seiner Königin war.

»Ich will die Pferde ja nicht scheu machen,« Lukas Stimme riss ihn aus seinen Gedanken, »doch eigentlich kam mir der Gedanke schon heute Morgen!«

»Welcher Gedanke?«

»Dass die Königin nicht das ist, was sie vorgibt zu sein! Wenn du nur einen Teil der Dinge gehört hättest, die ich in der Hafenspelunke ...!«, Lukas Worte erinnerten Ruben an ihre unterbrochene Unterhaltung.

»Ach ja!«, fiel er ihm ins Wort. »Wir wurden vorhin unterbrochen. Los, spann mich nicht länger auf die Folter. Wie geht dein Bericht weiter? Was hast du gehört?« Ruben lehnte sich zurück und verschränkte die Arme vor seiner Brust, während er Lukas gespannt ansah.

»Ich glaube, ich hatte dir schon erzählt, dass de Beriot sich vor Roxane rechtfertigte. Er hätte alles Erdenkliche unternommen, um zu verhindern, dass das Ehrenwort des verstorbenen Königs eingelöst werden müsste.«

»Genau! Fahre fort!«

»De Beriot versprach, sich jetzt gewissenhafter um diese Angelegenheit zu kümmern. Er hätte Mittel und Wege die Sache ein für alle Mal aus der Welt zu schaffen. Roxane solle Rilana ruhig schon einmal auf die Kommende, wie er sagte, »Zeremonie« vorbereiten, der Rest sei sein Metier. Wenn Rilana zur Sonnwendfeier bereit sein solle, wüsste sie nur zu gut, was sie zu tun hätte. Anschließend verließ er den Raum. Roxane blieb allein zurück. Die Bediensteten hörten sie noch bis spät in die Nacht hinein toben. Sie schrie immer wieder unverständliches Zeug in ihrer Muttersprache, worauf dann etliche Gegenstände auf den Steinboden polterten. Am Morgen fand man sie dann, vor dem großen Kamin in der Halle, auf dem Boden liegend, inmitten eines riesigen Chaos. Ihre Diener haben Stunden damit verbracht, das Schloss wieder in einen halbwegs passablen Zustand zu bringen. Mein Informant sagt, sie reagiert jedes Mal auf die gleiche Weise. Sobald etwas Unvorhergesehenes geschieht, oder sie einen heftigen Streit mit de Beriot hat, dreht sie im Anschluss daran geradezu durch. Sie zertrümmert alles, was ihr in die Hände fällt. Es ist, als sei sie nicht mehr Herr ihrer Sinne. Der Prophet sagt: »Selig sind die Sanftmütigen!« Roxane scheint das genaue Gegenteil davon zu sein!

Wie dem auch sei, an besagtem Morgen hatten sich auf jeden Fall die Wogen geglättet. Nein, das ist nur zum Teil richtig. Sie war vollkommen ausgewechselt und ruhig. Sie verbrachte die darauf folgenden Tage fast ausschließlich bei ihrer Tochter, während de Beriot im Verlies das Gleiche mit unserem guten Charles tat. Er hatte das unbestimmte Gefühl, dieser Bote sei anders, als all die anderen vor ihm. Deshalb hielt er sich fast drei volle Tage und Nächte im Kellergewölbe auf, um sich selbst um unseren Freund zu kümmern. Mein Informant sagt ...«

»Können wir deinem Informanten überhaupt trauen?«, unterbrach Ruben ihn.

»Ich denke schon! Er macht nicht den Eindruck, als würde er sich das alles aus den Fingern saugen. Und welchen Grund hätte er auch dazu?« Ruben nickte.

»Du hast recht. Wieso sollte er diese Dinge erzählen, wenn nicht ein Fünkchen Wahrheit darin stecken würde.«

»Wie sagt man so schön?«, entgegnete ihm Lucas. »Kinder und Betrunkene sagen immer die Wahrheit und glaube mir, nachdem, was der in sich hineingeschüttet hat, war der bestimmt nicht mehr nüchtern. Aber weiter: de Beriot wollte um jeden Preis den Gefangenen zum Sprechen bringen und jedwedes Mittel war ihm dazu Recht. In der Regel lässt er sich nur ab und an in den Verliesen blicken, da seine Lakaien dort unten die Arbeit für ihn erledigen. Diesmal jedoch hat er höchstpersönlich die Leitung des Verhörs übernommen. Nur, Charles hat sich lieber, im wahrsten Sinne des Wortes, die Zunge abgebissen, bevor er auch nur ein Sterbenswort über seinen Herrn verraten konnte. De Beriot verlor daraufhin den letzten Teil seiner Selbstbeherrschung und versetzte, all seinen guten Vorsätzen zum Trotz, Charles schließlich eigenhändig den Todesstoß. Möge Gott der Seele unseres Freundes gnädig sein!«

»Das wird er, mein Freund! Glaub mir, das wird er! Ich weiß nicht, ob ich es so ohne Weiteres gekonnt hätte!«

»Was denn?«

»Mir meine eigene Zunge abbeißen! Dieses verdammte Schwein! Ich will gar nicht wissen, was er mit Charles angestellt hat, dass er nur noch diesen Ausweg sah! Herr Gott noch mal! Wie weit können Menschen gehen, um andere zu quälen?« Ruben ließ seine Faust auf die Tischplatte donnern. Die Karaffe mit samt den Bechern landete unsanft auf der Holzoberfläche.

»Ich weiß nicht, wie es dir geht, aber je mehr ich über diesen Scheißkerl erfahre, umso rasender macht er mich! Erinnere mich bitte daran, wenn er mir jemals begegnen sollte!« Ruben hielt inne. Er griff nach einem der Becher, trank einen großen Schluck und knallte ihn anschließend mit voller Wucht auf den Tisch. Sein restlicher Inhalt schwappte über seinen Rand. Die Flüssigkeit benetzt die Kerzenflamme, die wütend auf zischte, unruhig flackerte und tanzende Schatten in das Gesicht seines Gegenübers warf.

»Stell dir vor«, fuhr er fort, »mein Onkel würde so mit Abgesandten seiner Nachbarländer verfahren. Was das im Einzelnen zu bedeuten hätte, brauche ich dir wohl kaum erklären. Die beiden müssen sich ihrer Sache äußerst sicher sein, so viel steht fest. Aber, ich schwöre dir, sie werden noch sehen, was es heißt, mit meinen Freunden zu spielen!« Ruben wurde lauter.

»Niemand, ich sage dir, niemand, nicht König, nicht Bettler oder vielleicht sogar Ausgeburt der Hölle, hat das Recht, mit Menschen so zu verfahren! Ich werde diese beiden Kröten dorthin schicken ...!«

»Beruhige dich!« Lukas unterbrach ihn. »Ich bin noch nicht fertig. Wenn ich dir alles erzählt habe, kannst du dich noch zur Genüge aufregen!«, Ruben holte tief Luft, während Lukas unbeirrt fortfuhr.

»Also, Roxane versuchte, von diesem Zeitpunkt an, Rilana den weiteren Aufenthalt in Barwall so angenehm, wie möglich zu machen. Sie ließ Gaukler kommen und feierte ein Fest nach dem anderen. Allerdings schien das Mädchen vollkommen unbeeindruckt von ihren Bemühungen zu sein. Kein Wunder, Rilana ist eine Gefangene in ihrem eigenen Zuhause. Ein goldener Käfig für einen goldenen Vogel ... Das Mädchen wurde immer ruhiger und melancholischer. Selbst die alte Arana, ihre Amme, wusste sich keinen Rat mehr. Mein Informant sagt, sie hätte ihm erzählt, jedes Jahr in der Woche vor der Sonnwendfeier gehe eine erschreckende Veränderung mit ihrem geliebten Täubchen, wie sie die Prinzessin nennt, vor. Aus dem sonst so aufgeweckten und fröhlichen Mädchen würde eine nahezu teilnahmslose, in sich gekehrte Stumme, die allem Anschein nach, der Welt den Rücken zukehre. Arana meinte noch, sie wäre sich sicher, dass Rilana diese Woche abgrundtief hasse, während die Königin förmlich aufleben würde.

Ihrer Meinung nach, sollte nicht Rilana durch all die Festlichkeiten abgelenkt werden, sondern bei dem ganzen Spektakel handele es sich nur um Roxanes Versuch, sich die Zeit, bis zu ihrer Abreise nach Andrass, so angenehm, wie nur eben möglich zu machen. Die alte Amme war es auch, die einen in Schwarz gekleideten Fremden, der offenbar weder zu den Gauklern, noch zu den übrigen Gästen zählte, in dem Trubel entdeckte. Er hielt sich immer abseits der Menschenmenge auf und beobachtete jeden Schritt der Prinzessin mit Argusaugen. Arana wies die Wachen daraufhin, doch niemand schenkte den Worten der Alten Beachtung. Nachdem, was vorgestern Abend geschehen ist, nehmen sie jetzt aber an, dass es sich bei dem Entführer, um eben diesen Fremden handelt.«

»Weiß man Näheres?«

»Keine Ahnung! So weit geht das Wissen meines Informanten nun auch wieder nicht! Er sagte nur, der Kerl wäre bestimmt nicht von hier gewesen. Er war nämlich nicht, wie ein Ortsansässiger gekleidet. Während die eine Hälfte der Schlossbewohner ihren Rausch ausschlief und die Andere weiterhin im Tanzsaal vergnügt feierte, schlich sich besagter Fremder in die Gemächer der Prinzessin. Er muss bereits in ihren Räumen gewesen sein, als Rilana das Fest verließ, denn Roxane lässt sie stets von mehreren Wachen begleiten. Nur, so weit geht selbst Roxanes Fürsorge nicht, als dass sie das Mädchen auch in ihren eigenen Räumlichkeiten unter direkter Aufsicht ließe. Dementsprechend betrat Rilana auch alleine ihre Gemächer, während die Wachen im Gang und vor ihrer Tür ihre Runden zogen. Kurze Zeit später vernahmen sie einen erstickten Schrei und dann das Schnauben eines Pferdes. Als sie schließlich die Tür öffneten und die Räume betraten, war die Prinzessin allerdings schon verschwunden. Von dem Balkon aus, konnten sie nur noch die Staubwolken eines wild davon galoppierenden Pferdes erkennen, das allmählich in die Dunkelheit eintauchte und verschwand!«

»Und der Mordversuch?«

»Der Mordversuch? Ach ja! Kannst du mir verraten, wie man versuchen kann, jemanden zu ermorden, der gar nicht anwesend ist? Ich kann dir sagen, das kann verdammt schwierig werden! Roxane befand sich nämlich zum Zeitpunkt der Entführung noch mit all den anderen Gästen im Ballsaal. Glaub mir, der Entführer wäre ein Idiot gewesen, wenn er versucht hätte, in der großen Halle, vor den Augen aller versammelten Gäste, einen Anschlag auf die Königin zu verüben und du kannst dir bestimmt auch vorstellen, dass er danach niemals, ohne Aufsehen zu erregen, die Möglichkeit gehabt hätte, mit der Prinzessin unter dem Arm zu fliehen. Die gesamte Armee wäre sofort zur Stelle gewesen. Der Mordversuch ist demnach nichts anderes, als ein Gespinst aus Roxanes und de Beriots kranken Gehirnen. Um ihn glaubhaft zu machen, haben sie die Entführung einfach ein paar Stunden später stattfinden lassen. Genau genommen gab Roxane ihren Wachen den Befehl zum Alarmschlagen erst im Morgengrauen. Da war der Entführer mit der Prinzessin aber schon längst über alle Berge.

Es ist schon erstaunlich, welch stoische Ruhe sie im Hinblick auf die Entführung ihrer Tochter an den Tag gelegt haben muss. Ich frage mich, was, in Gottes Namen, in ihrem Kopf vorgeht!«

»Und keiner der Anwesenden hat etwas gemerkt? Erstaunlich!«

»Das habe ich nicht gesagt. Sie haben schon etwas gemerkt, nur keiner hielt das, was er sah, für so wichtig. Einigen Gästen fiel auf, dass kurz, nachdem die Prinzessin das Fest verließ, der Hauptmann der Palastwache in der Tür erschien. Er verlangte, unverzüglich mit der Königin zu sprechen. Roxane, die unterdessen mit de Beriot tanzte, eilte ihm entgegen und verließ zusammen mit ihm den Saal. Wenig später erschien sie erneut im Ballsaal und tanzte, als sei nichts geschehen, weiter mit ihrem Kanzler. Während die beiden sich quer durch den Raum bewegten, strecken sie die Köpfe zusammen, tuschelten und schienen über irgendetwas angeregt zu diskutieren. Dies wurde von den Anwesenden zwar registriert, aber dennoch nicht für ungewöhnlich erachtet, denn unterschwellig heißt es schon lange, dass Roxanes und de Beriots Beziehung nicht nur dem Wohle des Landes diene. Wie dem auch sei. Danach verlief das Fest ohne weitere Zwischenfälle!« Lukas spielte nervös mit dem Becher, der vor ihm stand. Er beobachtete Ruben, dessen Augen im flackernden Kerzenlicht immer dunkler wurden. »Ich glaube,« setzte er erneut an, »Roxane und de Beriot haben die Gunst der Stunde sofort erkannt. Der Adel ist nicht gerade von Roxane begeistert. Auch de Beriot ist vielen ein Dorn im Auge, zumal sein Einfluss auf die Königin nahezu unbegrenzt zu sein scheint. Die beiden wussten genau, wie sie diese Geschichte zu ihrem Vorteil ausschlachten konnten. Zum einen werden sie auf diese Weise die unbequemen Adeligen, die ihnen das Handwerk legen wollen, los, und zum anderen bestärken sie so ihre Untertanen in dem Glauben, dass sie, sagen wir es einmal so, übernatürliche Fähigkeiten besitzen. Niemand wird mehr an der »Allmacht« ihrer »geliebten« Königin zweifeln und sie kann endlich tun und lassen, was sie will!« Ruben holte zum wiederholten Male tief Luft.

»Was ich allerdings noch immer nicht verstehe«, fuhr Lukas fort, bevor Ruben etwas erwidern konnte, »wie will sie es schaffen, dass der Entführer ihre Version der Geschichte bestätigt? Wie will sie ihn dazu bringen, in aller Öffentlichkeit Namen preiszugeben, die er vermutlich nicht einmal kennt? Gesetzt der Fall, er«, Lukas deutete auf den Siegelring, »war der Entführer, dann glaube ich nicht, dass er, egal, was sie auch mit ihm anstellen, bereit wäre, Unschuldige vor aller Augen ans Messer zu liefern. Das wäre doch eindeutig gegen seine Prinzipien. Eher würde er unseren guten Charles nachahmen, bevor er sich zu solcherlei Frevel herablassen würde. Du weißt, so gut, wie ich, dass er störrisch, wie ein Maultier sein kann. Das liegt bei euch in der Familie. Nur, wenn Roxane ihm öffentlich den Prozess machen will, dann muss sie sichergehen, dass er auch genau das sagt, was sie hören will, denn sonst wäre ihre Vorgehensweise vollkommen sinnlos!«

»Wir müssen unbedingt in Erfahrung bringen, welchen Adeligen Roxane so dermaßen verabscheut, dass sie ihn schnellstmöglich aus dem Weg schaffen würde. Hör dich um, vielleicht erfährst du ja irgendetwas! Aber vielleicht gehen unsere Gedanken ja auch in die falsche Richtung.« Erneut starrte Ruben auf die Karaffe, auf deren glänzender Oberfläche das Licht der Kerze einen Drachenkopf zeichnete. Ruben erschrak. Das konnte nicht sein! Er musste ihn sich nur eingebildet haben. Müde schloss er die Augen. Als er sie wieder öffnete, war das Bild verschwunden. Es war also wirklich nur Einbildung gewesen.

»Ruben!«

»Hmm?«

»Da ist noch etwas, was mir nicht aus dem Kopf gehen will! Was plant Roxane während der Sonnwendfeier mit Rilana? Bis dahin sind es noch genau drei Tage. Ich weiß nicht, was sie vorhat, aber anscheinend ist es für sie von enormer Wichtigkeit. Sie setzt alles daran, die Prinzessin noch vor dieser Nacht ins Schloss zu bekommen, sonst hätte sie niemals Archibald von Arosa losgeschickt. Es würde mich nicht wundern, wenn er dem Entführer bereits auf den Fersen wäre. Zum Henker! Er hat schon ...!«

»Meinst du, er war es?« Ruben zog es vor, seinen Gegenüber zu unterbrechen.

»Wer, Archibald?«

»Nein, er!«, Ruben deutete auf den vor ihm liegenden Ring.

»Könnte gut möglich sein! Was rede ich da? Es könnte nicht nur möglich sein, sondern ich bin mir fast sicher, dass er es war!« Ruben nickte.

»Zu diesem Schluss bin ich auch gekommen! Dieser verfluchte Idiot! Es reicht ihm ja nicht, dass seine bloße Anwesenheit in diesem Land schon gefährlich genug für ihn ist. Nein, anstatt sich im Verborgenen zu halten, spielt er sich hier als Entführer auf! Welcher Teufel mag ihn nur dazu getrieben haben?«

»Einer mit feuerroten Haaren befürchte ich!«

»Lukas lass das! Wir haben schon genug Probleme. Ich kann deinen Zynismus nicht auch noch ertragen! Weißt du, was an der ganzen Geschichte das Schlimmste ist? Ich war es, der meinen Onkel bedrängt hat, ihn ziehen zu lassen. Ich musste ihm schwören, seinen Sohn zu beschützen und koste es auch mein Leben. Und jetzt? Nicht einmal dieses Versprechen konnte ich halten! Wenn ihm etwas zustößt, werde ich meinen Onkel nie wieder unter die Augen treten können! Aber, wie, in Gottes Namen hätte ich auch damit rechnen können, dass er, sobald ich ihm den Rücken kehre, all unsere Pläne über den Haufen wirft und uns alle in Gefahr bringt! Bei Gott!«, Ruben schrie den Siegelring an. »Du musst wirklich gute Gründe für dein Handeln haben, sonst werden nicht sie, sondern ich dir den Rest geben! Du wusstest doch, dass dies hier kein Spiel ist! Es ist tödlicher Ernst. Ich hätte niemals für möglich gehalten, dass du so wenig Verstand besitzt!«

»Mach dir jetzt bloß keine Vorwürfe! Erstens wissen wir immer noch nicht genau, ob er es war. Wir vermuten es zwar, aber wir haben keine Gewissheit und irren ist menschlich! Zweitens waren wir zum Zeitpunkt des Geschehens noch auf hoher See und hätten es deshalb auch nicht verhindern können, und drittens: Du bist nicht seine Amme!«

»Nein, das bin ich wirklich nicht!«, Ruben seufzte. »Aber, wenn er es war, dann muss uns schnell etwas einfallen. Wir können ihn auf gar keinen Fall in den Klauen dieser Hexe und ihres Handlangers lassen. Es steht einfach zu viel auf dem Spiel. Was meinst du, was erst geschieht, wenn sie seine wahre Identität herausfinden?« Ruben starrte zum wiederholten Male auf den Siegelring. Auch Lukas richtete seine Augen auf das Schmuckstück. Die Stille, die sich nun ausbreitete, wurde nur noch durch das Plätschern des Wassers, das in unregelmäßigen Abständen gegen die Schiffsplanken klatschte, unterbrochen. Eine ganze Zeit verharrten die Männer in Schweigen, dann erhob Ruben erneut seine Stimme. »Geh jetzt und suche Marcus! Wir brauchen dringend einen Plan! Wenn du ihn gefunden hast, komm unverzüglich mit ihm hierher! Und ich sage das nicht nur so, ich meine das auch! Unverzüglich hörst du! Wir besprechen dann alles Weitere!« Lukas erhob sich zögernd von seinem Platz.

»Bist du dir sicher, dass ich dich hier alleine lassen kann?«

»Das geht schon in Ordnung! Ich brauche dringend etwas Ruhe, um meine Gedanken zu ordnen. Geh jetzt! Wir sehen uns später!« Lukas verließ den Raum. Kurz bevor die schwere Eichentür ins Schloss fiel, drehte er sich noch einmal um. Ruben starrte noch immer völlig geistesabwesend auf den Ring, der vor ihm lag. In deiner Haut möchte ich nicht stecken! Dann betrat er die Stiege und lief eilig hinauf, um Marcus zu suchen.

Als die Tür zufiel, zuckte Ruben unwillkürlich zusammen. Mein Gott, dachte er, das konnte doch einfach alles nicht wahr sein und wenn doch? Wie würde es dann enden? Vater, warum bist du nicht hier? Immer, wenn ich dich am Meisten brauchte, warst du nicht da, um mir beizustehen! Du und dein verfluchter Drang nach Gerechtigkeit! Warum musste ich gerade diese Eigenschaft von dir erben?

Das Bild seines Vaters erschien in seinen Gedanken. Er konnte ihn so deutlich vor sich sehen, als wäre er erst gestern verschwunden, obwohl diese schicksalsreiche Nacht bereits sechzehn Jahre zurücklag. Diese Nacht würde Ruben sein Leben lang nicht vergessen. Draußen tobte ein Unwetter. Es stürmte. Blitze erhellten den schwarzen Himmel. Donner ließen die Wände ihres Hauses erzittern und es goss in Strömen. Der Wind fuhr durch die hölzernen Fensterläden, sodass sie fortwährend klapperten. Jedes Mal, wenn er sich seinen Weg durch die Ritzen bahnte, heulte er unheimlich auf, während er mit den leichten Vorhängen spielte und sie in den Raum wehte. Ruben, damals vierzehnjährig, lag in seinem Bett. Er konnte nicht einschlafen. Jeder Blitz formte aus den Vorhängen, dunkle, mysteriöse Gestalten, die nach ihm zu greifen schienen. Ängstlich war er unter die Bettdecke gekrochen, in der Hoffnung, ihnen so vielleicht zu entgehen. Plötzlich hörte er entfernte Schritte. Sie hallten über den steinernen Fußboden, kamen näher und verstummten schließlich neben seinem Bett. Er hatte verzweifelt seine Augen zugekniffen und sich schlafend gestellt.

Mit einem Mal, fühlte er eine Hand, die behutsam seine Decke zur Seite schob und ihm dann sanft über seine Haare strich. »Lebe wohl, mein Sohn!« Es war die Stimme seines Vaters, die ihm leise in sein Ohr flüsterte. »Ich weiß nicht, ob du mich hören kannst, aber ich bin es dir schuldig, mich wenigstens von dir zu verabschieden. Vielleicht sehen wir uns niemals wieder, doch glaube mir, auch mir fällt es nicht leicht, dich hier allein zurückzulassen. Wenn du etwas älter bist, wirst du mich vielleicht verstehen. Glaube mir, es ist besser so, für uns beide. Ich habe, genau wie du, meiner Bestimmung zu folgen. Meine Aufgabe beginnt heute Nacht, während deine erst in ein paar Jahren auf dich wartet. Ich hoffe inständig, dass das Schicksal einen Weg findet, unsere Wege zu kreuzen. Aber, in diesem Moment haben wir leider keine Wahl. Die Gefahr, die uns bedroht, geht von einer Macht aus, die jenseits unserer Vorstellungskraft liegt und sie weiß, wie sie uns alle vernichten kann. Wenn ich jetzt nicht versuche, mich ihr entgegenzustellen, dann wird sie unser Ende sein. Bete, dass ich die Kraft besitze, das Schlimmste zu verhindern. Wenn nicht ...! Du musst dann das zu Ende führen, wozu ich nicht in der Lage war!« Er verstummte und streichelte vorsichtig, so als wollte er Ruben nicht wecken, über dessen Hinterkopf. »Ich habe es dir nie so deutlich gesagt, doch heute werde ich es dir sagen, weil dies hier meine letzte Gelegenheit ist. Ich liebe dich, Sohn, mehr als du jemals ahnen wirst und genauso, wie ich deine Mutter und deine Brüder geliebt habe. Ich weiß, ich habe nie viel über sie gesprochen, aber glaube mir, du bist ihnen ähnlicher als du denkst. Verzeih mir, ich glaube, ich war dir über all diese Jahre, niemals im wirklichen Sinne ein Vater, dafür habe ich dich viel zu oft alleine gelassen. Ich weiß, du hättest mich so oft gebraucht, doch ich habe meine Augen davor verschlossen. Hätte ich nur damals diese Gelegenheit nicht so oft vertan! Es zerreißt mir das Herz! Leila und Samuel werden sich ab heute, um dich kümmern. Ich habe alles geregelt. So groß wird die Umstellung für dich nicht sein, denn du warst ja schön des Öfteren ihr Gast. Außerdem lieben sie dich, wie ihren eigenen Sohn. Versprich mir, dass du mir keine Schande bereitest, und kümmere dich um deinen Vetter! Er braucht dich! Du wirst immer für ihn da sein, habe ich recht? Du musst wissen, Eure Schicksale sind eng miteinander verbunden. Wenn Ihr beide lernt, Euch zu vertrauen und euch gegenseitig zu schützen, dann werdet Ihr Großes schaffen. Aber seht Euch vor! Der Gefahr, die in ferner Zukunft Euer Leben bedroht, könnt Ihr nur gemeinsam entgegentreten. Du, als der Ältere, musst ihm den Weg weisen, damit sich alles zum Guten wenden kann. Und glaube mir, dieser Weg wird steinig werden und Ihr werdet oft kurz davor stehen, zu scheitern. Ich würde dir das hier gerne ersparen, doch ich habe keine Zeit mehr, dich besser auf deine Aufgabe vorzubereiten. Tu dein Bestes! Ich bin mir sicher, du wirst es auch so schaffen! Möge Gott dir dabei helfen!« Anschließend küsste er Ruben zärtlich auf den Kopf und verschwand. Seine Schritte hallten durch die menschenleeren Hallen ihres Hauses, entfernten sich immer schneller und schließlich verstummten sie. Ruben wusste nicht, ob er im Bett bleiben oder ihm folgen sollte. Er war drauf und dran aufzuspringen, um ihm hinterher zu laufen, doch eine innere Stimme hielt ihn zurück. Lange, viel zu lange für seinen Geschmack, hatte er daraufhin noch wach gelegen. Die Worte seine Vaters schwirrten unaufhaltsam durch seine Kopf und gruben sich in sein Gedächtnis, denn er konnte das eben Gehörte einfach nicht begreifen.

Selbst heute noch, nach so vielen Jahren, waren die Worte seine Vaters für ihn ein Rätsel und er konnte sich an jedes erinnern. Was hatte sein Vater ihm sagen wollen? Was hatte er gewusst, was kein anderer auch nur ahnte? Woher stammte dieses Wissen? Hatte sein Vater etwa das Zweite Gesicht besessen? Wenn nicht er, sondern ein anderer über diese Fähigkeit verfügt hatte, wer war dann dieser andere? Kannte er ihn oder sie vielleicht sogar? Was verbarg sich wirklich hinter der Geschichte? Ruben atmete tief durch. Sein Kopf fühlte sich völlig leer an. Wenn sein Vater recht behielt, dann waren vielleicht die Umstände, die ihn und seine Vetter hierher nach Andrass geführt hatten, der Anfang ihrer Bestimmung! War es möglich, dass er …? Ruben wischte den Gedanken fort. Hatte das Schicksal nicht auch seinen Vater hierher nach Andrass geführt und hatte er nicht, zusammen mit König William, hier den Tod gefunden. Drohte ihnen nun dasselbe Los? Vielleicht befand sich hier in Aranadia ja wirklich der Schlüssel zu dem seinerzeit Gesagten. Je mehr Ruben grübelte, desto verwirrter wurde er. Es gab nur eine Möglichkeit den Dingen auf den Grund zu gehen. Er musste abwarten und sich dem, was kommen würde stellen. Ruben schloss die Augen. So sehr er es auch hasste, die Fäden nicht selbst in den Händen zu halten, er hatte keine andere Wahl. Seinem Schicksal kann man nicht entrinnen, dachte er, egal, was man auch versucht, um ihm zu entgehen. Es holt einen früher oder später ein. Man kann nur hoffen, das Beste daraus zu machen. Das war er sich selbst einfach schuldig. Schon um seines Vaters willen! Sein Vater! Wieder formten seine Erinnerungen dessen Bild.

»Vielleicht«, murmelte er vor sich hin, »ergibt sich ja eine Möglichkeit, die näheren Umstände seinen Todes zu erfahren und vielleicht kann ich dann endlich dieses Kapitel vollständig für mich abschließen! Ich warte schon so lange darauf!«

Ruben erhob sich und lief nervös auf und ab. Ich muss mich jetzt zusammenreißen. Sie erwarten alle eine Lösung von mir. Sie vertrauen mir. Ich darf und will sie nicht enttäuschen. Nicht hier und nicht jetzt. Seufzend ließ er sich in seine Koje fallen, nur um sich, kurze Zeit später, erneut aufzurichten und letztendlich zurück auf sein Lager fallen zu lassen. Verdammt! Es muss einen Ausweg geben! Es gibt immer einen Ausweg! Es sei denn …! Er versuchte den trüben Gedanken zu verdrängen, was ihm aber nicht gelingen wollte, denn die Bilder seiner Kindheit, die nun auf ihn einströmten, machten es ihm nahezu unmöglich über sein eigentliches Problem nachzudenken. Das war haargenau das, was ihm heute noch gefehlt hatte. Diese verfluchten Erinnerungen kamen aber auch immer zur falschen Zeit. Etliche Jahre hatten sie ihn in seiner Jugend beherrscht. Immer wieder war er des Nachts schweißnass erwacht und hatte die Geschehnisse vor Augen, die sein Leben so entscheidend verändert hatten. Weitere schier endlos erscheinende Jahre hatte er daraufhin benötigt, sie allmählich verblassen zu lassen, um sie schließlich vollständig aus seinem Gedächtnis zu verbannen. Jedenfalls war er in dem festen Glauben gewesen, es wäre ihm gelungen. Doch, anscheinend, hatte er sich in diesem Punkt gewaltig geirrt. Denn, hier und jetzt brachen sie, wie die tosenden Ausläufer eines wild wütenden Orkans unbändig und unaufhaltsam und, was das Ganze noch schlimmer machte, ohne jede Vorwarnung über ihn herein.

Sein Kopf dröhnte von den Gedanken, die, wie von Furien getrieben, um jenen Tag aus seiner Vergangenheit kreisten. Es schien, als wollten sie ihn mit sich reißen und in diese Zeit zurück zerren. Ruben stöhnte und versuchte mit allen Mitteln dagegen anzukämpfen. Er wälzte sich in seine Kissen, in der Hoffnung so seinen Gefühlen und Sinnen wieder Herr zu werden.

»Wieso gerade jetzt? Lasst mich in Ruhe! Könnt ihr mich nicht endlich in Ruhe lassen? So viele Jahre sind seit dem vergangen! Oh, Gott, habe ich nicht schon genug andere Probleme? Was in aller Welt habe ich bloß getan, dass mir kein Frieden vergönnt ist? Ich trug keinerlei Verantwortung für das, was damals geschah! Ich nicht! Mich traf keine Schuld! Wie, zum Teufel, hätte ich etwas ändern oder es gar verhindern können? Ich war doch noch ein Kind!« Rubens Stimme wurde leiser. Schlagartig durchzuckte ein stechender Schmerz seine Brust. Er atmete hektisch und unregelmäßig. Mit beiden Händen riss er sich sein Hemd vom Leib und betrachtete die Narbe, die sich unterhalb seines linken Schulterblattes knapp über seinem Herzen, wulstig und dunkelrot von seiner sonst glatten Haut abhob. Zaghaft berührte er sie mit seinen Fingern. Sie schien förmlich zu glühen. Schweißperlen traten auf seine Stirn. Er versuchte, sich etwas zu beruhigen. Mit all seiner Kraft konzentrierte er sich auf seine Atmung. Ausatmen! Einatmen! Ausatmen! Einatmen! Langsam wurde er ruhiger und der Schmerz ließ nach. Anfangs war es oft vorgekommen, dass die Narbe ihm derartige Schmerzen zufügte. Immer dann, wenn die Erinnerung ihn quälte, tat sie ihr Übriges hinzu. Doch durch die erfolgreiche Verdrängung all seiner Erinnerungen hatte auch dieser Schandfleck Ruhe gegeben. Er musste verwirrter sein, als er angenommen hatte, ansonsten wäre er heute von ihr verschont geblieben.

»Lasst mich in Ruhe!« Seine Stimme war kaum noch hörbar. »Seht doch selbst, was aus mir geworden ist! Er hätte es verhindern können. Er hätte uns vor ihnen schützen müssen. Er allein trat vor unseren Schöpfer und musste die Verantwortung für das Geschehene übernehmen. Wäre er bei uns gewesen und nicht auf einer seiner verfluchten Missionen, dies alles wäre niemals geschehen! Aber, wir standen für ihn ja immer nur an zweiter Stelle. Genauso, wie er es damals getan hat, hat er mich doch auch wenig später meinem Schicksal überlassen. Er wusste, wie sehr ich ihn brauchte, und doch hat er mich Mutterseelen allein zurückgelassen. Ich hasse ihn! Ich hasse ihn, für alles, was er mir angetan hat!« Ruben schluchzte, wie ein kleines Kind. Die widersprüchlichsten Gefühle stiegen in ihm hoch. Einerseits nagte der Hass in seinem Innern, so tief an ihm, dass es ihm die Luft abschnürte. Andererseits vermisste er ihn aber auch unendlich, besonders jetzt, da er so dringend jemanden gebraucht hätte, der ihm mit Rat und Tat zur Seite stehen konnte. Mit dem Handrücken fuhr er über sein Gesicht, um seine Tränen fortzuwischen. »Lasst mich in Ruhe! Mehr verlange ich doch gar nicht. Ich habe jetzt keine Zeit für euch oder wollt ihr dass auch ich seine Fehler begehe?« Seine Hände zitterten. Benommen schloss er die Augen. Ich brauche wirklich dringend Ruhe, dachte er. Oh, Gott, das muss aufhören. Etwas Schlaf! Schlaf des Vergessens! Du weißt so gut, wie ich, dass ich einen klaren Kopf bekommen muss, wenn wir aus diesem Schlamassel mit heiler Haut davon kommen wollen. Ich darf, nein, ich will nicht zulassen, dass meine Vergangenheit erneut mein Leben beherrscht. Dieses Kapitel ist ein für alle Mal abgeschlossen. »Großer Gott, hilf mir! Mögen ihre Seelen in Frieden ruhen und meine hier ihren Frieden finden!« Ruben hoffte inständig, sein Flehen möge erhört werden. Doch, anstatt des erhofften Schlafes, kehrten noch mehr Bilder aus vergangenen Tagen zurück.

Die ersten Jahre seines Lebens verbrachte Ruben mit seiner Mutter und seinen beiden älteren Brüdern auf dem Landgut der Familie, das, umgeben von den gewaltigen Gebirgskämmen des Arrasgebirges, abgeschieden inmitten eines Tales unweit der Grenze zu Aranadia lag. Sein Vater, Armand de Arosella, war bereits zu diesem Zeitpunkt Kriegsminister und oberster Befehlshaber der Armeen seines Schwagers Samuel und deshalb oft Monate lang, von seiner Familie getrennt, im Auftrag des Königs unterwegs. Meist ließ er nur eine Handvoll Soldaten zurück, denn das Tal mit seinen Ländereien lag verdeckt zwischen den Bergen und war nur durch eine schmale Schlucht erreichbar, sodass die zurückgelassenen Männer, es ohne große Schwierigkeiten von der Anhöhe oberhalb der Schlucht verteidigen konnten. Eine fatale Fehleinschätzung, wie sich noch herausstellen sollte.

Rubens Erinnerungen formten Bilder des Jahres, in dem sich seine Geburt zum achten Mal jährte. Sein Vater war wieder einmal den gesamten Herbst und Winter im Auftrag Samuels auf Reisen. Der Frühling war gerade eingezogen. Die Sonne tauchte die noch immer schneebedeckten Gipfel der umliegenden Berge in rotes Licht und brachte sie wahrhaftig zum Glühen. Diesen Eindruck hatte jedenfalls der Junge, der, wie gebannt, aus dem Fenster der kleinen Kammer starrte und durch dessen Augen Ruben nun ein weiteres Mal mit den Geschehnissen von damals konfrontiert wurde. Geschlagenen drei Stunden saß er jetzt schon auf demselben Fleck und musste, ob er wollte oder nicht, den Worten seines Hauslehrers lauschen, die der kleine, etwas rundliche Mönch, den seine Mutter zu diesem Zweck eingestellt hatte, wie einen monotonen Singsang ständig herunterbetete.

»Man dekliniert Nomen und konjugiert Verben, du nichtsnutziger Tropf …!«, die Stimme von Vater Barnabas schien sich immer weiter zu entfernen. Ruben starrte in sein fettes, vom ständigen Alkoholgenuss aufgedunsenes, rotes Gesicht, das eher dem eines Mastschweins, denn dem eines Menschen glich. Starrte dann auf die wulstigen Lippen seines Lehrers, die sich zwar bewegten, deren Worten aber nicht bis zu ihm vordrangen, und ließ schließlich seinen Blick erneut zum Fenster wandern. Auf dem Hof, unterhalb des Fensters, waren Elias und Daniel, seine fast schon erwachsenen Brüder mit ihren Waffenübungen beschäftigt. Geschmeidig, wie zwei Panther fixierten sie sich und ließen ihre Schwerter aufeinanderprallen. Das polierte Metall glänzte in der Sonne, dabei warf es gleißende Lichtreflexe zu ihm herauf, sodass er die Augen zukneifen musste, um ihren Bewegungen weiter zu folgen. Wie gerne wäre er jetzt bei ihnen gewesen, doch seine Mutter hatte andere Pläne mit ihm. Sie war strikt dagegen, dass er auch nur in die Nähe der Waffen kam. Ruben liebte das Klirren, das sie verursachten, wenn sie aufeinandertrafen. Gespannt lauschte er, während er im Geiste, jede Bewegung seiner Brüder nachahmte. Anstatt in dem stickigen Zimmer zu sitzen, hätte er viel lieber selbst an den Übungen teilgenommen. Sein Vater hätte bestimmt nichts dagegen. Doch sein Vater war nicht hier und seine Mutter ließ in diesem Punkt nicht mit sich reden, denn sie stand unter dem nicht gerade positiven Einfluss seines Hauslehrers. Er gähnte laut und rutschte unruhig auf seinem Stuhl hin und her.

»Junger Mann, langweile ich dich?« Vater Barnabas schlug mit seinem Rohrstock, mit dem er zuvor gedankenverloren herumgespielt hatte, auf das Pult, direkt vor Rubens Nase. Der Junge wurde unsanft aus seinen Tagträumen gerissen und stierte ängstlich auf den dicken Mönch, dessen Gesicht vor Wut die Farbe einer überreifen Tomate angenommen hatte. »Wiederhole meinen letzten Satz!« Seine Stimme war quäkend und er lallte leicht. Ruben machte keinerlei Anstalten zu antworten, sondern starrte weiter in das Gesicht, dessen Schweinsaugen sich nun zu engen Schlitzen verengt hatten. »Mir scheint, du hast es immer noch nicht begriffen, du kleiner Bauerntölpel! Dann werden wir eben die gesamte Lektion noch einmal wiederholen. Die Konjugation von fremdsprachlichen Verben dient in erster Linie …!«, nicht schon wieder! Ruben verdrehte die Augen, während sein Blick erneut auf den Hof zu seinen Brüdern wanderte. Ihre Bewegungen waren jetzt langsamer. Kleine Schweißtröpfchen funkelten auf ihren Oberkörpern in der Sonne, wie die Perlen, die seine Mutter immer in ihren Haaren trug. »Ich habe das Gefühl, du folgst dem heutigen Unterricht nicht mit dem gebührlichen Respekt. Wenn ich mir schon die Mühe mache, einem solchen Kretin, wie dir, die Sprache des Buches der Bücher beizubringen, damit du sein Wort lesen und verstehen kannst, dann verlange ich auch deine volle Aufmerksamkeit!« Barnabas holte zum wiederholten Male mit seinem Rohrstock aus und traf Ruben an der Schulter. Der Junge zuckte zusammen und rieb sich die schmerzende Stelle. »Ich bin ein Lamm, verglichen mit Vater Augustinus. Wenn ich dich lehren muss, meinen Worten zu folgen, dann schmerzt mich das mehr, als dich, mein Sohn. Ich befürchte nur, Vater Augustinus wird nicht so nachsichtig mit dir sein. Er hat andere Mittel und Wege, sich Gehör zu verschaffen und er weiß auch, wie er sie einsetzen muss.« Es folgte eine Strafpredigt, der Ruben nur noch mit einem Ohr zuhörte. Ihm schossen Tränen in die Augen. Da war es wieder, dieses Gespenst, das sich ihm unaufhaltsam näherte. Nur noch ein Sommer. Diesen einen Sommer noch. Sein letzter Sommer hier bei seiner Mutter und seinen Brüdern. Warum wollte seine Mutter nur, dass er jetzt schon fortging? Konnte sie nicht noch ein paar Jahre warten, oder wollte sie ihn einfach nur aus dem Weg haben? Aber warum? Warum gerade er?

»Ade, du schöne Welt!«, murmelte er vor sich hin. Willkommen ihr düsteren Mauern, fügte er in Gedanken hinzu. Dann sackte er auf dem Stuhl zusammen und verfiel in herzzerreißendes Schluchzen. Vater Barnabas, der dies für sein Werk hielt, grinste. Seine Augen funkelten spöttisch, während er sich am Anblick des Jungen weidete. Triumphierend setzte er seine Rede fort.

»Anscheinend habe ich nun endlich deine volle Aufmerksamkeit. Lass uns gemeinsam noch einmal von vorne beginnen! Die Konjugation fremdsprachlicher Verben dient in erster Linie …!«, heute Abend! In Ruben keimte plötzlich ein letzter Funken Hoffnung auf. Heute Abend, das war seine letzte Chance, dem scheinbar Unausweichlichem zu entgehen. Sein Vater hatte für den heutigen Tag seine Rückkehr angekündigt und er fasste den Entschluss, noch heute mit ihm zu reden. Er war der Einzige, der genug Einfluss auf seine Mutter hatte, um sie zur Vernunft zubringen und von diesem Wahnsinn abzuhalten.

Das Knarren der Schiffsplanken holte Ruben zurück in die Wirklichkeit. Er öffnete seine Augen. Ich kann sowieso nicht einschlafen, dachte er. Er stand auf und lief in der Kajüte hin und her. Einundzwanzig Jahre lag die Geschichte nun schon hinter ihm, doch jetzt, da er sich langsam an alle Einzelheiten erinnerte, schlugen seine Gefühle Purzelbäume. Als er damals vom Entschluss seiner Mutter hörte, ihn in die Obhut des Ordens zu geben, hielt er das Ganze zunächst für einen Scherz, allerdings einen der der übelsten Sorte. Doch, als sie, kurz darauf, diesen fettleibigen Mönch mit seiner Erziehung beauftragte, begriff er, dass es ihr bitterer Ernst war. All seine Träume verpufften, wie der Rauch des Kaminfeuers. Man wollte ihn, fern von zu Hause, hinter dunkle Klostermauern zwängen, damit er dort, über staubigen Büchern, inmitten einer Gesellschaft von langweiligen, alten Männern, deren Lebensaufgabe nur im Dienst des einen Gottes lag, sein Leben fristete und beendete. Ein Leben, das noch gar nicht richtig angefangen hatte. Kein Mensch hielt es für nötig, ihn nach seiner Meinung zu fragen, geschweige denn, danach, wie er sich dabei fühlte. Man hatte beschlossen und er musste sich fügen.

Die Chroniken Aranadias I - Die Tochter des Drachen

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