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Kapitel 6

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»Hier ist das Wasser!«, Archibald kniete noch immer neben dem Gefangenen, der nun in eine dicke Decke gehüllt auf dem Boden lag.

»Gut! Stellt es auf das Feuer. Es muss kochen.« Er ließ sich nicht das Geringste anmerken, genauso als hätte das Gespräch der Männer in Wirklichkeit nie stattgefunden. Rilana hielt inne, dabei wanderte ihr Blick auf die Feuerstelle. Die Männer hatten sie mit frischem Holz neu entfacht und inmitten der gleißenden Glut lag ein Dolch. Er befand sich wahrscheinlich schon eine ganze Weile in den heißen Flammen, denn seine Klinge schimmerte bereits rötlich.

»Was wollt Ihr mit dem Dolch?«

»Wolltet Ihr nicht, dass wir ihm helfen?« Rilana schluckte. Nicht auch noch das! Das konnte er nicht ernst meinen. So barbarisch war er nicht. Oder etwas doch?

»Ja, aber ...«, Rilana zögerte. Sie benötigte eine Weile, um sich von Anblick des glühenden Metalls loszureißen, dann entgegnete sie ihm: »Wisst Ihr, ich werde aus Euch einfach nicht schlau! Warum tut Ihr das jetzt?« Archibald blickte zu ihr auf.

»Warum mache ich was?«

»Vor nicht allzu langer Zeit hat es Euch noch nicht einmal geschert, dass er beinahe im Schnee erfroren wäre und jetzt ...?«, Archibald antwortete ihr auch diesmal nicht. Stattdessen ließ er seinen Blick wieder zu dem Gefangenen wandern und fragte dann beiläufig, während Rilana den Kessel auf das Feuer stellte.

»Wir brauchen Stoff, um die Wunde auszuwaschen und zu verbinden! Tragt Ihr einen Unterrock?« Ob sie einen Unterrock trug? Was für eine Frage! Sicher trug sie Unterröcke. Erneut sah er sie an. »Was ist? Warum guckt Ihr so? Steht nicht einfach bloß herum! Zieht ihn aus und zerreißt ihn!« Archibald wurde langsam ungeduldig. Doch anstatt sich zu bewegen, blieb Rilana neben dem Feuer stehen und blickte dem Älteren geradewegs ins Gesicht.

»Beantwortet mir zuerst meine Frage! Warum wollt Ihr ihm jetzt auf einmal helfen? Soweit ich mich erinnern kann, soll er doch sowieso direkt nach unserem Eintreffen im Schloss hingerichtet werden!« Ihre Stimme klang herausfordernder, als sie beabsichtigt hatte. »Euer Freund,« sie deutete auf Wilbur, »freut sich doch schon so ungemein darauf. Wieso lasst Ihr nicht von ihm ab? Egal auf welche Weise, sterben wird er so oder so! Ich persönlich finde den Tod im Schlaf wesentlich angenehmer, als den Tod durch Folter oder einen Henker! Lasst ihn einfach liegen und die Natur wird den Rest schon besorgen! Ihr werdet sehen, die Sache erledigt sich, wie von selbst!«

»Woher kommt Euer Sinneswandel? Wer hat mich denn geradezu angebettelt, sein Leben zu retten? Wer wollte denn, dass wir ihn aus der Kälte ans Feuer holen? Und wer, frage ich Euch, wollte dann auch noch, dass seine Wunden versorgt werden?«

»Da wusste ich auch noch nicht, was ich jetzt weiß!« Rilana schwieg.

»Ihr habt gelauscht!«

»Nein, habe ich nicht! Aber Eure Unterhaltung war ja wohl kaum zu überhören. So wütend, wie Eure Männer sind! Ich nehme an, dass jeder im Umkreis, von Gott weiß, wie vielen Meilen, einen Teil davon mitbekommen hat.«

»Das tut mir leid. Das Gespräch war nicht für Eure Ohren bestimmt!«

»Ich weiß!«, gab sie zurück. »Doch ... Stimmt es, was Eure Männer behaupten?« Wieder antwortete er nicht, sondern widmete sich stattdessen abermals dem Gefangenen.

Er warf die Decke beiseite, unter der Raoul beinahe vollständig nackt und ungefesselt lag. Trotz der Wärme sah er mehr den je, wie eine Statue aus. Seine Haut wirkte wächsern und hatte jedwede Farbe verloren. Und dennoch war sein Körper einfach nur schön. Verdammt, Rilana!, schalt sie sich selbst im Stillen. Er ringt hier mit dem Tod und du ... Was bist du? Ich erkenne mich selbst nicht wieder.

Archibald betastete nun Raouls Wunde. Er drückte mit den Fingern die Ränder um den Pfeilschaft auseinander, sodass eine gelbe Flüssigkeit austrat. Vorsichtig tauchte er einen seiner Finger hinein und roch daran. Dabei bemerkte er, dass Rilana ihn die ganze Zeit beobachtete. »Was ist jetzt? Zieht Ihr Euren Rock aus und zerreißt ihn, oder nicht?« Rilana tastete nach ihrem Unterkleid.

»Ihr habt mir immer noch nicht geantwortet!«, sie startete einen neuen Versuch, die Unterhaltung fortzuführen.

»Ihr auch nicht!«

»Seht Euch den Jungen doch einmal genau an! Wie alt schätzt Ihr ihn? Vielleicht vier Jahre älter, als ich selbst!?«, sie nahm ihm dadurch seine Antwort vorweg. »Er ist noch kaum seinen Kinderschuhen entwachsen und Ihr wollt ihn dem Henker übergeben!« Sie verzog angewidert das Gesicht. »Wie viele der im Schloss lebenden Laffen haben mir schon angedroht, mich zu entführen, wenn ich sie nicht erhöre? Wollt Ihr sie auch direkt dem Scharfrichter übergeben? Soweit ich mich erinnern kann, haben ihr affektiertes Gehabe und ihre Worte Euch damals königlich amüsiert. Ihn aber wollt Ihr gleich töten!«

»Es besteht ein Unterschied darin, was man sagt und dann schließlich auch tatsächlich tut! Diese Burschen hätten Euch niemals entführt! Sie haben alle viel zu große Angst vor Eurer Mutter!«

»Muss Mut dann nicht belohnt werden?« Archibald stutze. Dahin also führte ihre Unterhaltung. Während sie mit ihm redete, hatte sie scheinbar zufällig ihr Unterkleid auf den Boden fallen lassen. Es lag nun achtlos neben dem Feuer.

»Macht Streifen daraus!«, er deutete auf den Rock. »Einige werft in den siedenden Kessel die anderen gebt mir!«

»Warum? Es hat doch eh keinen Sinn! Warum hier sein Leben retten, um ihn dann noch größeren Qualen auszusetzen? Dann lasse ich ihn lieber hier und jetzt sterben, bevor ich noch einmal zulasse, dass sich Euer Freund um ihn kümmert!«

»Siehst du, was habe ich dir gesagt?« Werfried wandte sich mit einem schadenfrohen Grinsen an Wilbur, der nur mit einem angewiderten »Umpf«, auf den Kommentar seines Kumpans reagierte. Rilana beachtete die beiden Männer jedoch nicht weiter, sondern verschränkte die Arme vor ihrer Brust, dabei funkelten ihre Augen den Älteren kampflustig an. Sie stand da, wie eine Mischung aus trotzigem Kind und Racheengel.

Archibald war bewusst, dass sie das, was sie sagte, auf keinen Fall auch so meinte. Sie hatte sich anscheinend eine Taktik zurechtgelegt, um ihn aus der Reserve zu locken und langsam fing er auch an zu begreifen, worauf sie hinaus wollte. Eins musste man ihr lassen, sie war äußerst geschickt.

»Helft mir! Er hat mir nichts, aber auch gar nichts getan, was solch eine Strafe rechtfertigen könnte. Ich will ihn nicht zum Mittelpunkt eines Schauspiels machen, das für ihn der Hölle gleichkäme!«

»Und wie soll ich Euch helfen?«

»Tötet ihn! Oder ...!«, ihre Stimme wurde leise. »Lasst ihn gehen!«

»Ihn gehen lassen?«, Wilbur war entsetzt aufgesprungen. »Frau, ich verstehe Euch nicht! Wollt Ihr uns zum Narren halten? Was denkt Ihr Euch, oder könnt Ihr gar nicht denken? Seid Ihr von Sinnen? Ich glaube, Eure Entführung hat Euch den Geist vernebelt!«

»Wilbur!« Archibald schrie ihn förmlich an. »Das reicht! Entschuldige dich bei der Prinzessin!« Wilbur zuckte mit den Schultern und ließ sich dann auf seinem Platz nieder, dabei schnaufte er, wie ein altes Walross. »Verzeiht ihm! Er hat es nicht so gemeint! Unser aller Nerven liegen blank! Es war ein langer Tag und es wird eine noch viel längere Nacht für uns werden!« Archibalds Stimme klang sanft. Mit seinem einen Auge fixierte er sie. War es Mitleid, was aus ihren Augen sprach oder etwas anderes. Noch war er sich nicht sicher, aber ihre Reise würde ihm schon Gewissheit verschaffen.

»Ich kann, selbst, wenn ich es wollte, Eurer Bitte nicht nachkommen! Unser Bote wird bald Eure Mutter erreichen, wenn er es nicht schon längst getan hat. Sie weiß dann, dass wir mit Euch und dem Gefangenen auf dem Weg nach Andrass sind. Was soll ich ihr, Eurer Meinung nach erzählen, wenn wir ohne ihn dort ankommen?«

»Sagt Ihr einfach, dass er Eure Behandlung nicht verkraftet hat und unterwegs gestorben ist!«

»Dann will sie sicher seine Leiche sehen!«

»Die haben die Wölfe und Geier gefressen!«

»Seid doch nicht albern! Für wie dämlich haltet Ihr Eure Mutter?«

»Es muss aber eine Möglichkeit geben!«, Rilana brach in Tränen aus. Archibald erhob sich und ging langsam auf sie zu.

»Ich verstehe Euch! Ich weiß, was in Euch vorgeht! Aber glaubt mir, wir müssen ihn mitnehmen. Es gibt keine andere Möglichkeit!« Ihr tränenüberströmtes Gesicht versetzt Archibald einen Stich in seiner Brust. Tröstend wollte er sie in den Arm nehmen, doch Rilana wehrte ihn ab.

»Ihr hab mir doch vorhin eine Frage gestellt«, bemerkte er daraufhin sanft. »Und ich habe Euch noch nicht geantwortet! Seht Ihr, für mich ist es auch nicht immer einfach, die richtigen Entscheidungen zu treffen. Wenn wir die Aufträge Eurer Mutter erledigen, dann befinden wir uns in einer Art Krieg. Wir alle hier sind Krieger, die für eine bestimmte Sache kämpfen. In meinem Land zählen wir zu den ehrenwerten Menschen. Bei uns wird nicht einfach wild drauf losgemetzelt und gemordet. Wir haben eine Art Kodex. Gefangene werden bei uns nicht nur einfach getötet, sondern, wenn sie sich als würdig erweisen, auch mit dem nötigen Respekt behandelt. Egal für welche Seite man seinen Hals riskiert, man tut es aus einem bestimmten Grund! Dieser Grund kann richtig oder falsch sein, aber genau genommen kann das keiner beurteilen. Kann ich sagen, ob das, was ich tue, immer richtig ist? Nein! Ich muss mich auf mein Gefühl verlassen. Die andere Seite verlässt sich auch auf ihr Gefühl. Ist sie deshalb schlechter als ich? Was, wenn unser junger Freund auf der richtigen Seite steht und ich im Unrecht bin? Nur, er hat es noch nicht einmal für nötig gehalten, mir zu sagen, was ihn zu seinen Taten trieb! Kann ich ihn dann, einfach sterben lassen? Er macht mich neugierig! Ich möchte erfahren, was in ihm vorgeht, was er denkt und warum er es getan hat. Euch gegenüber hat er keinerlei Andeutungen gemacht, warum er Euch entführt hat, aber dennoch hatte er einen Grund! Dann seine Reaktion auf unseren Angriff! Warum setzt er sein Leben aufs Spiel, nur um Euch zu retten? Er konnte ja nicht ahnen, dass wir keine Strauchdiebe, sondern die Garde Eurer Mutter waren! Wenn er Euch nur entführt hat, um Reichtümer aus Eurer Mutter zu pressen, dann wäre ihm Eurer Leben völlig gleichgültig gewesen. Er hätte das Eure ohne zu zögern für sein Eigenes geopfert. Das hat er aber nicht getan! Also hat Eure Entführung einen anderen Grund! Aber welchen? Warum schweigt er so beharrlich auf alle meine Fragen? Warum lässt er sich auspeitschen, wo es ihm doch ein Leichtes gewesen wäre, auf meine Frage zu antworten? Was hat er zu verbergen?« Archibald schwieg. »Irgendetwas ist merkwürdig an dieser Sache und ich werde auf jeden Fall versuchen, herauszufinden, was es ist!« Seine Stimme war so leise geworden, dass selbst Rilana, die unmittelbar vor ihm stand, sie kaum noch vernehmen konnte. Eigenartig, dachte sie, er scheint meine Gedanken zu kennen, oder dieselben zu haben. Dieser Mann wurde ihr immer unheimlicher. Sie hatte das Gefühl, dass er sie wirklich verstehen konnte. In gewisser Weise wollte er ihr vielleicht sogar helfen. Sie war erstaunt, wie sehr er ihr doch ähnelte. Wenn sie nur hartnäckig genug war, könnte sie ihn möglicherweise doch noch dazu bringen, Raoul einfach gehen zu lassen. Sie musste nur abwarten. Alles Weitere würde sich schon zeigen.

Nachdem sie sich eine Weile schweigend angesehen hatten, nickte Rilana schließlich, bückte sich, griff nach ihrem Unterkleid und begann es in Stücke zu reißen. Einen Teil der Streifen warf sie in den brodelnden Kessel, die anderen gab sie Archibald, der inzwischen wieder neben dem Gefangenen kniete.

»Kommt zu mir! Ich möchte Euch etwas zeigen!« Rilana ließ sich neben ihm auf die Knie sinken. »Hier schaut, der Pfeil steckt sehr tief in seinem Körper. Er ist oberhalb seiner rechten Niere in die Bauchdecke eingedrungen. Die Flüssigkeit, die dort austritt, riecht aber nicht nach Urin. Das ist ein gutes Zeichen. Seine Niere ist anscheinend nicht verletzt worden. Wir können den Pfeil demnach, ohne großen Schaden anzurichten, einfach herausziehen. Danach wird zwar wieder Blut austreten, aber das reinigt die Wunde nur. Anschließend brenne ich die Wundränder mit dem glühenden Dolch aus, um die Blutung zu stoppen.« Der Dolch! Rilana zuckte zusammen. Also doch! Sie hatte recht behalten. Allein schon der Gedanke an das glühende Eisen in der frischen Wunde, ließ sie erneut würgen. Ihre Hände zitterten und ihr brach kalter Schweiß aus. Trotzdem blieb sie neben Archibald hocken. »Ich kann Euch nicht versprechen, dass wir dadurch sein Leben retten«, fuhr dieser mit seinen Erklärungen fort, »denn die Wunde ist schon sehr stark entzündet. Aber einen Versuch ist es trotz allem wert! Haben wir keinen Erfolg, dann erledigt sich Euer Problem von ganz allein. Sind wir aber, wieder Erwarten erfolgreich, dann wird sich früher oder später schon eine zufriedenstellende Lösung finden! Was ist, seid Ihr damit einverstanden, dass ich es versuche?« Rilana nickte. »Gut! Wärt Ihr so freundlich und würdet mir ein wenig zur Hand gehen? Hier!« Er reichte ihr einen kleinen Lederbeutel, in dem sich zahlreiche, stark duftende Kräuter befanden. »In diesem Säckchen befinden sich Kräuter. Bereitet schon einmal einen Brei aus den Kräutern. Ihr müsst ihn auf die Wunde streichen. Später könnt Ihr sie dann mit den trockenen Streifen verbinden.« Er sah hinüber zu den anderen Männern. »Werfried, Friedward, hierher! Haltet ihn fest.« Widerwillig erhoben sich die beiden Männer von ihren Plätzen, während Rilana eifrig den Kräutersud zubereitet.

»Warum helft Ihr ihm?« Wilbur versperrte ihr den Weg und griff nach ihrer Schulter. Rilana schnaufte. »Den ganzen Tag schon gilt Eure Sorge ausschließlich diesem verdammten Kerl. Pah, man könnte annehmen, es gehe um mehr, als um sein Leben.« Rilana zeigte keinerlei Regung.

»Seid Ihr vielleicht eifersüchtig? Ich wüsste nicht, was Euch meine Befürchtungen sonst angingen!« Er musterte Rilana von Kopf bis Fuß.

»Ich weiß, dass Ihr mich nicht ernst nehmt, aber eins kann ich Euch mit Bestimmtheit sagen: Egal, was Ihr jetzt auch für ihn tut, er wird seine gerechte Strafe bekommen, ohne Wenn und Aber. Darauf könnt Ihr Euch verlassen. Dann werdet Ihr ihm nicht mehr zur Hilfe eilen können. Darauf gebe ich Euch Brief und Siegel. Ich freue mich jetzt schon darauf.« Ein höllisches Grinsen erschien auf seinem Gesicht, dabei zog er seine Hand an seiner Kehle entlang, verdrehte seine Augen und ließ seine Zunge mit einem gurgelnden Geräusch aus seinem Mund fallen.

»Lasst mich einfach in Ruhe. Ihr widert mich an.« Wütend riss sie sich los. »Hättet Ihr besser im Schloss Wache gehalten, wäre das alles nicht passiert. Ich säße jetzt zu Hause und müsste die Nacht nicht mit Euch verbringen und dann hättet Ihr erst recht nichts zu tun!« Ohne ihn eines weiteren Blickes zu würdigen, machte sie sich an ihre Arbeit.

In der Zwischenzeit beugte sich Archibald über den jungen Mann am Boden. Er ergriff den Pfeilschaft mit seiner rechten Hand und zog ihn mit einem heftigen Ruck aus der Wunde. Kaum war dies erledigt, sickerte von Neuem frisches, hellrotes Blut aus ihr heraus.

»Schnell, gebt mir einen heißen Stoffstreifen.« Rilana angelte mit dem Stab einen Stofffetzen aus dem Kessel und reichte ihn Archibald. Dieser betupfte die Wunde und wusch das frische Blut ab, dann presste er den Stoff tief in die offene Stelle, dabei betrachtete er den Pfeil. »Die Spitze ist unversehrt«, bemerkte er nebenbei.

»Und, was hat das zu bedeuten? Warum ist das so wichtig?« Rilana wollte ihm irgendwie zeigen, dass sie sich für seine Arbeit interessierte.

»Es befindet sich demnach kein Rest in der Wunde, der erneut eine Entzündung hervorrufen könnte. Das Blut, das hier austritt,« er zeigte auf die Stelle an Raouls Bauch, »ist hellrot. Somit handelt es sich um frisches Blut. Das heißt, in seinem Bauch hat sich kein Altes gesammelt.« Er blickte zufrieden in die Runde, bis sein Blick schließlich auf ihr ruhte. »Ihr müsst wissen, dass Wunden auch nach innen bluten können. Von außen ist es nicht zu sehen, nicht einmal ein Kratzer. Dennoch verblutet der Verwundete langsam und man kann nicht das Geringste für ihn tun. So aber können wir ihn vielleicht doch noch retten.« Rilana starrte den alten Haudegen fasziniert an. Welche Dinge über ihn würde sie wohl noch im Laufe ihrer Reise zutage befördern? In der Zeit, die sie bisher mit ihm verbracht hatte, hatte sie nun schon mehr Facetten an ihm entdeckt, als sie je für möglich gehalten hätte.

»Jetzt kommt der schwierigste Teil«, unterbrach er ihre Gedanken. »Wenn ich mit dem glühenden Dolch zu tief in ihn eindringe, beschädige ich seine Organe und er stirbt. Bleibe ich aber zu dicht an der Oberfläche, wird die Blutung nicht gestoppt und er verblutet. Beides hat denselben Effekt. Ich muss also versuchen, genau den richtigen Punkt zu treffen. Deshalb müssen wir ihn auch festhalten, falls er aufwachen sollte. Ich darf kein Risiko eingehen.« Er redete so vor sich hin, wohl eher um sich selbst zu beruhigen, als dass er eine Reaktion von den Personen rings herum erwartet hätte. Letztendlich griff er nach dem inzwischen Rot glühenden Dolch im Feuer. Genau in diesem Moment öffnete der junge Mann am Boden die Augen. Die Wärme in der Felsnische hatte höchstwahrscheinlich dafür gesorgt, dass er allmählich wieder zu sich kam. Nicht jetzt, dachte Rilana, werde jetzt nur nicht wach. Nicht jetzt! Oh, Gott! Bitte nicht jetzt!

»Haltet ihn fest, egal was geschieht, nicht loslassen!« Werfried und Friedward drückten Raoul fester auf den Boden. Eh der Gefangene wusste, wie ihm geschah, berührte Archibald mit dem heißen Metall der Klinge die Wunde. Es zischte, qualmte und stank nach verkohltem Fleisch. Raoul versuchte, sich aufzubäumen. Seine Muskeln spannten sich, während sich sein Körper in Archibalds Richtung krümmte, dabei schrie er aus Leibeskräften. Schließlich sackte er in sich zusammen und blieb regungslos auf dem Boden liegen. Rilana zitterte, wie Espenlaub. Sein Schrei war durch all ihre Glieder gefahren. Archibald begutachtete sein Werk mit einem Lächeln. Er beugte sich ein letztes Mal über Raoul, um den Herzschlag seines Patienten zu prüfen. »Sein Herz schlägt ruhig. Jetzt seit Ihr an der Reihe.« Er sprach mir Rilana. »Nehmt die Stoffstreifen aus dem Kessel. Wascht ihm damit das Blut vom Körper. Die Trockenen benutzt, um ihn zu verbinden! Vergesst jedoch nicht die Kräuterpaste vorher aufzutragen. Sie riecht zwar stark, aber sie verhindert neue Entzündungen. Ihr werdet sehen, sobald Ihr das Blut weggewaschen und seine Wunden bedeckt habt, macht er schon wieder einen ganz passablen Eindruck.«

Rilana hockte sich neben Raoul. Er atmete ruhig. Wenn er diese Nacht überstand, würde es eine Möglichkeit geben, ihn zu retten. So hoffte sie wenigstens. Ihre Augen fuhren die Linien seines Körpers nach. Sie nahm den Kessel, mit dem brodelnden Wasser von der Feuerstelle. Vorsichtig zog sie Stofffetzen für Stofffetzen aus der heißen Brühe. Der Stoff dampfte so stark, dass ihr der Schweiß über die Stirn rann. Sorgfältig entfernte sie nun die Blutreste von Raouls Körper. Jede Berührung mit seiner Haut ließ sie innerlich zusammenzucken. Dann griff sie nach der Schüssel mit der Kräuterpaste. Der Kräutersud stank widerlich.

Unterdessen beobachtete Archibald gespannt ihre Bemühungen. Würde sie so reagieren, wie er es sich erhoffte. Er konnte sehen, dass ihre Gedanken nicht ausschließlich um ihre Aufgabe kreisten. Sie faszinierte ihn.

Inzwischen schossen Rilana ganz andere Gedanken durch ihren Kopf. Es war offensichtlich, dass etwas nicht stimmte. Archibald bezweckte etwas. Es schien ihr fast, als hätte er alles im Voraus geplant. Doch, was wollte er damit erreichen. Er beobachtete jede ihrer Bewegungen, das spürte sie genau. Doch, warum? Wollte er ihr etwas zeigen? Aber was? Oder hatte dieser alte Haudegen einfach nur mitbekommen, dass Raoul ihr nicht ganz gleichgültig war. Wollte er erreichen, dass sie sich ihren Gefühlen stellte? Wie konnte sie sich etwas stellen, was sie sich nicht einmal erklären konnte? Wie, in Gottes Namen, sollte sie eine Entscheidung treffen, wenn es keinerlei Alternativen gab? Egal, wie sie sich entscheiden würde, alles hat seinen Preis, nur, war sie auch bereit, diesen Preis zu zahlen? Ja, beantwortete sie sich selbst ihre Frage, sie war bereit! Bereit alle Konsequenzen zu tragen, egal wie auch immer sie aussehen mochten. In diesem Moment begriff sie, was sie sich selbst erhoffte.

Nachdem sie endlich alles zu ihrer Zufriedenheit erledigt hatte, ließ sie sich neben den Männern am Feuer nieder. Sie hörte noch, wie Archibald etwas zu ihr sagte, doch sie war viel zu müde, um seinen Worten zu folgen. Ein letztes Mal sah sie zu Raoul herüber, seufzte und fiel dann, in einen tiefen, traumlosen Schlaf.

Archibald trat neben sie. Strich ihr die Haare aus dem Gesicht und legte eine Decke über sie, dabei flüsterte er in Gedanken versunken vor sich hin.

»Ich werde auf Euch achtgeben und ich werde Euch schützen, bis an mein bitteres Ende. Ob Ihr wollt oder nicht! Ich werde Euer Schatten sein, genau so, wie ich es bisher auch schon gewesen bin. Nur, diesmal werdet Ihr mich wahrnehmen und auf mich hören. Es steht zu viel für uns alle auf dem Spiel. Das Versprechen, das ich meinem besten Freund einst gab, als er diese Welt für immer verließ, gilt es zu halten. Jetzt ist es an der Zeit, dieses Versprechen einzulösen.«

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