Читать книгу SIE TÖTEN DICH. - Dankmar H. Isleib - Страница 5

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I

Verzweiflung, Tod und Liebe.

Völlig konsterniert verließ Franco die Messehalle. Unfähig, ein Wort zu sagen, unfähig, seine Gedanken zu ordnen. Es war inzwischen weit nach Mitternacht und er irrte noch immer in der trostlosen Weite der Sächsischen Schweiz, unweit Dresdens, umher; der Regen hatte längst wieder begonnen, hackte ihm in stetig wachsendem, lauter werdenden Stakkato widerlich depressive Rhythmen in den aufgeweichten Schädel. Rhythmen, die ihn vollends aus dem Gleichgewicht warfen.

Schluss machen. Ich muss Schluss machen. Sie liebt mich nicht. Sie liebt mich nicht. Ich muss Schluss machen. Was für ein Scheißleben!

Schluss, Schluss, Schluss!

Ein kakophonischer Beat hämmerte erbarmungslos seit scheinbar Jahrmillionen diese abscheuliche und auf sein Versagen anspielende Botschaft in sein Hirn, zerstörte den kläglichen Rest seiner seit Jahren mehr und mehr angefressenen, zutiefst verletzten Seele. Das Trommelfeuer der Regentropfen, so schien es, machte sich lustig über Franco, den hässlichen, kleinen, italienischen Rotschopf ohne Liebe. Ohne Kraft. Ohne die Kraft zu lieben. Besser: ohne die Kraft, seine Liebe der Geliebten zu vermitteln.

Er hatte auf ganzer Strecke versagt.

Stand vor Stella, war ihr physisch nah wie nie zuvor, konnte ihren Atem spüren, die Furcht in ihren Augen lesen und war dennoch unfähig, auch nur ein einziges Wort an sie zu richten. Hat sie mit seinen großen, schwarzen, so intensiv blicken könnenden Augen nur angeschaut. Einfach nur angeschaut. Ohne ihr etwas sagen zu können. Stumm. Dabei quoll sein Herz über. Seine Seele hungerte – und hatte er nicht tausend Mal mit ihr geredet? Stumm. Ja. Er wollte reden. Von sich. Über sie. Mit ihr.

Leere.

Nichts als Leere.

Dabei bereitete ihm Jonathan doch einen eleganten Teppich, indem er ihn, Franco, Stella im ersten Chaos des Erkennens des großen Unglücks – besser eines unglaublichen Verbrechens – als „wichtigen Helfer in der Not“ vorstellte. Aber vielleicht war es der falsche Ort, der falsche Zeitpunkt, der falsche Spruch. Nun ja, Franco machte Stella auch keinen Vorwurf. Nur sich selbst. Aber wie hätte er reagieren sollen?

„Hi, I’m Franco. Nice to meet you. Let me tell you something very seriously: I love you! More than two years right now. You don’t know it. But I know it. It’s a shame, that some girls died just few seconds before ...“

Lächerlich.

In dieser Situation, in einer Anspannung, wie sie – Gott sei’s gedankt! – nur wenige Menschen im Leben erfahren müssen, sagt man stets nur das Falsche. Also war sein Verhalten schon okay, redete er sich ein, während der Regen seine Trauersymphonie fortsetzte und das Werk des Bewässerns des ohnehin schweren Ackerbodens jetzt im Beat eines ultraschnellen, harten und unpersönlichen Techno-Songs zu vollenden versuchte.

In der Fremde, allein, ohne Aussicht auf die so dringend benötigte Zuneigung, beschleunigte Franco das Tempo seiner Schritte, bis er zu rennen begann. Er nahm den ätzenden, hyperschnellen Beat des starken Herbstregens auf.

Laufen, bis ich zusammenbreche. Laufen, bis ich begreife. Laufen, bis das Chaos mich überholt, mich vernichtet und damit den Girls näherbringt, die durch meine Schuld ermordet wurden. Ja, ermordet. Ermordet. Ermordet. Meine Schuld!

Laufen, bis ich zusammenbreche.

Das war seine Devise. Ein Kampf gegen den Tod seiner Seele. Er wollte ihn aufnehmen, wusste aber nicht, wie er das anstellen sollte. Ausgedörrt seine Gedankenwelt. Fokussiert auf den für ihn unfassbaren Mord an fünf jungen Mädchen. Eine Tat, die Stella gegolten hatte und die Gott nicht verhindern konnte. Nur zu verändern vermochte, indem er anderes Leben opferte. Stella schonte?

War es so? Warum? Wo liegt der Sinn? Ist ein Leben mehr wert als fünf? Wo seid ihr gewesen, Engel? Wo seid ihr gewesen, Gnome, Elfen, oder welch‘ andere, höhere Wesen der göttlichen Hierarchie dafür verantwortlich zeichnen sollten! Bedeutet Weiterleben Schonung oder Strafe? Welche Mächte! Karma. Meine unendlich große Liebe lebt und ich renne in den Tod. Für den Tod. Gegen den Tod. Mit dem Tod.

Für meinen Tod.

Bitte.

Geliebter Tod!

Bitte lass mich sterben!

Franco Mignello verlor mit jedem Meter, den er durch den aufgeweichten Boden des Feldes lief – die Stadt lag tausend Lebensjahre hinter ihm –, zusehends mehr und mehr die Kontrolle über sich. Das grausame Ereignis brachte seine verletzte Seele zum Hyperventilieren, brachte sie zum Zerreißen, wollte sie bewusst unbewusst zerplatzen lassen. Wie die Träume, seine unwahren schönen, wahren grässlichen, sehnsuchtsvollen, nach Liebe schreienden Träume. Die bunten Seifenblasen, die immer größer werdend vor ihm dahinflogen und einfach zerplatzten, als ob nichts gewesen wäre. Den Regenbogen mitnahmen, der nicht vorhanden war. Der nur in seiner Fantasie, in der flüchtigen Schönheit einer von der Sonne bestrahlten Seifenblase für Sekundenbruchteile in ihm aufleuchtete. Träume, die er über all die Jahre geträumt hatte und mit seiner Stella eines Tages auszuleben gedachte. Sie zerbarsten vor dem Hintergrund des unfassbar widerlichen Geschehens.

Lasst mich endlich los, lasst mich einfach auf den Regenbogen aufspringen. Mit ihm ins Nirwana. Eine Fata Morgana. Gewiss. Meine Fata Morgana. Meine Lebenstäuschung. Geliebter, ekelhafter, schöner, strahlender, grausamer Regenbogen.

Wie schon wenige Stunden zuvor, wurde er erneut durch das unaufhörliche und nervige Klingeln des iPhones in seiner Gesäßtasche aus seiner katastrophalen, zutiefst negativen und sich selbst verachtenden Stimmung gerissen. Das penetrante Klingeln wollte ihn aus seiner Depression zerren. Das war die Aufgabe des ätzenden, altmodischen Klingeltons eines Telefons aus den dreißiger Jahren des vorigen Jahrhunderts. Ihn aufwecken. Aber Franco dachte nicht daran, das kreischende Ding herauszuziehen und den Screen zu berühren und so zu tun, als sei er guter Dinge. Er beschleunigte das Tempo des Laufes noch und raste in einer kaum zu überbietenden Todesverachtung gegen sich selbst dem finsteren Nichts entgegen.

»Weglaufen. Das Einzige, was noch Sinn macht!«, zischte Franco unhörbar dem Ding an seinem Hintern entgegen, um es dann doch – es lagen zwischen dem ersten Klingelzeichen und dem Berühren des grünen Symbols sicher etliche Kilometer schlammiger Feldweg und Jahre des Nachdenkens – aus der Jeans zu ziehen.

Das Leben hatte gesiegt.

Die Neugier, zu wissen, was noch kommt, wenn man schon tot ist, war größer. Automatisch gab der Restverstand seines im Allgemeinen so fabelhaft arbeitenden Gehirns den Befehl an den rechten Arm, die Hand: „Telefon rausziehen, Taste drücken, hallo sagen“.

»Si!«

»Ich bin es, Franco, Jonathan. Wo bist du!? Alle Welt sucht dich! Du bist so plötzlich und schnell verschwunden, dass niemand auch nur den Hauch einer Chance hatte, dich festzuhalten. Franco! Wir machen uns Sorgen. Ich dachte, du wärst zurück in das Hotel gefahren. Aber dort warst du nicht. Es ist gleich fünf Uhr früh! Sorry, ich konnte mich nicht vorher melden, denn die Polizei stellte Fragen über Fragen. Wir hatten alle Hände voll zu tun. Ich musste mich um Stella kümmern. Sie ist nicht mehr sie selbst. Wir brauchen dich hier, denn du warst es, der die Girls engagierte. «

»Lasst mich einfach in Ruhe, bitte, lasst mich«, wollte Franco in das Telefon brüllen, aber es kam nur ein unverständliches Winseln zwischen seinen Lippen hervor. Seine Vitalität war dahin. Franco hatte seinen Körper überfordert. Überspannt. Der Bogen zerbrach; die Saite riss. Knacks! Er schlug, ohne jegliche Kontrolle über seinen Körper, seinen Geist, sein Herz, seine verwundete Seele, in den Schlamm. Gesicht nach unten. iPhone im Schlamm vergraben.

Aus.

SIE TÖTEN DICH.

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