Читать книгу SIE TÖTEN DICH. - Dankmar H. Isleib - Страница 8

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IV

Rückblick auf ein apokalyptisches Szenario, HU – der heiligste aller

Laute, Stella im Wachkoma

und SAHE, die mit Musik & Liebe

Hilfe bringt.

Keine achtundvierzig Stunden später blickte Jonathan in reife, wissende Augen. In das Gesicht eines erwachsenen Mannes, der, scheinbar, die Hälfte seines Lebens bereits überschritten hat. Und dennoch irgendwie ganz jung wirkte. Der Schock des Erlebten musste tief, sehr tief in ihm sitzen. Franco schaute Jonathan in einer Weise an, dass ihm, dem harten, in Kämpfen erprobten Mann, die Tränen in die Augen schossen. Er ging die zwei Schritte zu Francos Bett, beugte sich zu dem kleinen Häufchen Elend hinunter und drückte es an sich. Warm und herzlich. Wie ein älterer Bruder den geliebten Junior begrüßt, wenn dem Schicksalhaftes widerfahren war. Und es war Unfassbares, Grausames verübt worden, das auch er noch längst nicht verarbeitet hatte.

Die fragenden Augen verunsicherten Jonathan. Durfte er ihm alles erzählen? Details? Würde der gealterte Junge, der junge, reife Herr, das ganze Ausmaß schon heute verkraften? Er setzte sich zu Franco auf die Bettkante, verscheuchte den noch immer wartenden Arzt mit einer unauffälligen Handbewegung und begann:

»Ich fange bei dem an, was dich am meisten interessiert. Nachdem du völlig überstürzt und panischen Blickes aus der Halle gerannt bist, brach auch Stella vollends zusammen, noch bevor sie sich dir wieder zuwenden konnte. Mit der Tapferkeit einer ganz großen Seele hatte sie die etwa dreißig Minuten, die zwischen der Explosion und deinem Verschwinden lagen, überstanden. Natürlich wusste sie in dem Moment, als wir die sehr eigenartig klingende Explosion hörten, dass sie, nur sie mit diesem brutalen Anschlag gemeint sein konnte. Und Stella war sich von der ersten Sekunde an sehr sicher, dass es die Mädchen getroffen haben musste. Wir, ihre persönlichen Bodyguards Mick und Alberto, bildeten noch auf der Bühne ein Schutzschild um sie. Dazu drei weitere Bodyguards, die ich spontan, aus einer diffusen Ahnung heraus für Dresden zusätzlich organisieren konnte, weil ich denen vertraue. Sie klammerte sich nach diesem widerlichen Geräusch der Explosion völlig verkrampft an mich und sagte „Jonathan, das galt mir!“ Dann schrie sie völlig verzweifelt: „Die Girls! Mein Gott, die Girls sind in meine Garderobe gegangen! Ich habe sie vorgeschickt, damit sie dort auf mich warten und den Champagner öffnen!“

Wir mussten die in Panik geratene Stella mit Gewalt zurückhalten, damit sie nicht kopflos in das Zentrum des Chaos lief. Zu diesem Zeitpunkt wussten wir noch gar nicht, was eigentlich wirklich geschehen war. Mir war nur klar, dass es sich um eine Explosion handeln musste. Erfahrung. Es klang zwar nicht wie eine Bombe, deren mögliche Sounds ich recht gut kenne, auch nicht wie Plastiksprengstoff. Aber gefährlich, verdammt hässlich!«

Jonathan reagierte auf Francos hilflosen Blick:

»Ja, Franco. Am unterschiedlichen Sound einer Explosion kann man erkennen, um welche Art von Sprengstoff es sich handelt und wie viel benutzt wurde. Ich stand etwa zehn Meter hinter der Bühne, direkt an dem großen Zwischentor, das zum Flur der Garderoben auf der rechten Seite der Halle und den Catering-Räumen auf der linken Seite führt. Der dumpfe, fast zischende, lang gezogene, düstere Knall kam von der rechten Seite. Und während Mick und Alberto mit ihren riesigen Körpern sofort Stella umklammerten, die anderen Jungs sie weitläufiger absicherten, lief ich zum Ort der Explosion. Das Bild, das sich mir bot, war grauenvoll. Mit dem jetzigen Wissen kann ich dir ziemlich genau schildern, wie sich alles abgespielt haben muss. «

Jonathan wischte sich mit dem Handrücken fahrig kalten Schweiß von der Stirn, so sehr nahm ihn die Berichterstattung an seinen Freund mit.

»Der oder die Attentäter müssen während des Konzertes trotz der beiden Security-Leute, die den Gang zu den Garderoben bewachten, irgendwie in Stellas Garderobe gelangt sein. Wie, ist noch immer ein Rätsel, denn wir hatten vor der Tür zwei weitere, dem Auftrag gemäß bestens geschulte und ebenso gut ausgerüstete Top-Leute postiert, die sich nicht von der Stelle bewegt haben. Es waren sorgfältige Sicherheitsmaßnahmen, äußerst ungewöhnlich für ein Rockkonzert – sie haben nichts genützt. Der/die Täter haben ein völlig neues Material verwendet. Ein so gut wie unsichtbares Pulver, fast durchsichtig, ein wenig graubraun schimmernd, das einfach auf den Fußboden gestreut wurde. Möglicherweise hat man es über die Lüftung mit einem Schlauch hineingeblasen, der bis zum Boden reichte. Aber ob es so war und wie sie es anstellten, das wissen wir noch nicht. Wir können nur vermuten. Dieses Pulver reagiert auf ein bestimmtes Gewicht. Tritt man mit mehr als zehn Kilogramm auf nur ein einziges Körnchen des feinen Materials, das wirklich wie Staub aussieht, gibt es eine Kettenreaktion von Explosionen – deshalb auch der lang anhaltende, dumpfe, gedämpft wirkende Ton – und verwüstet alles, was sich ihm entgegenstellt. Man kann die Dosierung ziemlich genau berechnen. In Stellas Garderobe war sie so hoch dosiert, dass es drei der Mädchen innerhalb von Bruchteilen von Sekunden komplett zerrissen hat. Regelrecht zerfetzt. Die beiden Letzten, die den Raum betraten, sind an der Druckwelle gestorben. Es hat ihre Lungen zerrissen. Und dann die Tür nach außen gedrückt. Einer der Security-Männer war auf der Stelle tot, der zweite ist noch immer nicht vernehmungsfähig und ebenfalls schwer verletzt. Da die Garderobe über keine Fenster verfügt, ein reiner Betonkäfig ist und nur eine sehr klein dimensionierte Klimaanlage hat, konnte sich die Druckwelle ausschließlich in Richtung Tür ausdehnen. Es gab kein Entrinnen. Für nichts und niemanden. Du weißt, was das heißt.«

Jonathan drückte Francos Hand, dass sie schon schlohweiß war. So sehr nahm ihn die Situation noch immer mit.

»Keiner konnte das voraussehen. Keiner sich ein derart apokalyptisches Szenario vorstellen. Wir hatten alle Sicherheitsmaßnahmen nach bestem Wissen, mit großer Sorgfalt getroffen. Dennoch muss es ein Leck in unserer Sicherheitskette gegeben haben und dieses Leck hat sechs, vielleicht sieben Menschen das Leben gekostet. Schlimmeres ist mir in meiner beruflichen Vergangenheit noch nicht widerfahren. Wir haben es mit einer skrupellosen, vor keiner noch so widerwärtigen Tat zurückschreckenden Spezies zu tun, die die Bezeichnung ‘Mensch’ nicht verdient.«

Franco lag regungslos da, die Augen geschlossen, Tränen flossen über seine Wangen.

»Ich habe das Krankenhaus, in das dich ein Bauer, der dich auf dem Feld fand, brachte, hermetisch abriegeln lassen. Denn ich fürchte auch um dein Leben. Es kann nicht sein, dass die nicht wissen, wer ihrem Begehren, Stella auszulöschen, nun schon so lange erfolgreich im Wege steht. Stella liegt in einer Spezialklinik für Psychiatrie und angrenzende Fachgebiete. Sie befindet sich in einer Art seelischen Komas. Völlig desolat, nicht ansprechbar. Ähnlich dem deinen. Das sagte mir vor wenigen Stunden Marek Bergfield, ihr Manager, der keine Sekunde von ihrer Seite weicht und sich als treuer Freund erweist. Auch er ist um Jahre gealtert und hat Sicherheitsmaßnahmen ergriffen, wie sie nicht einmal Billyboy Clinton in seinen besten Jahren zuteilwurden. Also mache dir bitte darüber keine Sorgen. Sie ist in jeder Beziehung in guten Händen. Außerdem kam ihre Mutter schon gestern Mittag aus New York an. Mit Julios 727. Auch sie ist bei Stella im Krankenhaus.«

Franco drehte sich zur Seite, stöhnte wie ein verwundeter Hund. Es war ein langer, Jonathan das Herz zerreißender Schluchzer. Beängstigend, laut, animalisch und doch auch zutiefst menschlich.

Jonathan setzte erneut behutsam an: »Du brauchst mir nichts zu sagen, ich sehe alles. Du kannst fragen, wenn du möchtest. Aber bitte glaube mir, es gibt im Moment nichts zu tun, was nicht bereits eingeleitet worden wäre. Nur noch eines. Vielleicht baut es dich ein wenig auf: Stella hat sich in den Minuten nach dem Unglück großartig verhalten. Nach dem Überwinden des ersten Schocks, der Panik, der auch sie sich nicht entziehen konnte, begann sie zu helfen. Einfach so. Sie war nicht Fräulein Superstar, nicht ängstlich, nicht zickig. Nicht mal um sich selbst besorgt, was jeder hätte verstehen können. Sie schüttelte die Bodyguards ab, handelte wie eine erfahrene, rigoros durchgreifende Oberschwester, die ihre wohldurchdachten, professionellen Anordnungen erteilt. Bevor die Notärzte mit ihren Teams zur Stelle waren, eilte sie mit dem Bühnenarzt und zwei Schwestern des DRK in die zerstörte Garderobe und kümmerte sich um das noch lebende Mädchen und die beiden Security-Männer. Schnell mussten wir leider alle erkennen, dass wohl jede Hilfe zu spät kommen würde, aber sie kniete nieder, versuchte mit dem vielleicht überleben könnenden und nicht total zerfetzten Mädchen zu reden, Mund-zu-Mund-Beatmung zu machen und mit ihrer Anwesenheit, ihren ohnmächtigen Versuchen Leben zurückzubringen, irgendwie das Furchtbare zu lindern. Ein Anblick, der mich zutiefst berührte und der sie für mich in einem anderen Licht erscheinen ließ. Denn du weißt, dass ich während der Tournee einiges gesehen habe, was diesem Eindruck konträr entgegensteht. Als ich Stella, sie war schon in einem tranceähnlichen Zustand als sie dir gegenüberstand, danach zu einem Krankenwagen führte – sie war dem völligen Zusammenbruch, der sich wenig später einstellte, schon sehr nahe –, fragte sie mich: „Wer war der Rothaarige mit den wunderschönen Augen? Muss ich ihn kennen? Diese Augen möchte ich wiedersehen.“ Dann brach sie vollends zusammen und befindet sich seitdem in dem Zustand, den ich dir gerade zu schildern versuchte.«

Franco schaute in eine bildlose, düstere Welt voller Töne, die nur er zu erkennen, zu hören schien. Den Blick in eine Weite und undefinierbare Tiefe gerichtet, die Jonathan spüren konnte. Und Franco suchte diese Tiefe und Weite in sich selbst. Er horchte in sein Ich hinein. Abstrakter Klang erfüllte den Raum. Ein Klang, so fein, dass er für ein menschliches Ohr nicht hörbar, nicht sichtbar war. Saute-e Sarmad, wie die Sufis ihn nennen. Sarmad – Berauschung, denn die Seele wird frei von irdischer Macht, irdischen Zwängen. Grenzenloser Klang, Anahad in den Veden genannt. Es ist Raum in uns und Raum umgibt uns. Die irdischen Töne sind zudem begrenzt, abgegrenzt. Sichtbare Frequenzen. Überall in der Natur. Sie äußern sich in Materie, in Farben, in Klängen. Nicht so der abstrakte Klang. Er ist außerhalb des mit unseren äußeren Sinnesorganen Fassbaren. Erkennen, aus welcher Richtung der Klang kommt. Wenn man das schafft, kennt man den Weg. Seine Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Das Mysterium des Klangs ist das Mysterium des Universums.

Alles ist in uns und einige wenige Menschen können lernen, haben die Sensibilität in sich, zu Hu zu gelangen.

Dem Heiligsten aller Laute.

Fast hatte es den Anschein, dass Franco Jonathans Anwesenheit gar nicht wahrgenommen habe. Doch dann, es waren mindestens zwanzig Minuten der völligen Stille in dem nüchternen Krankenzimmer vergangen, wandte er seinen so intensiven Blick auf den Besucher. Ihre Blicke kreuzten sich, denn Jonathan beobachtete den Zustand des Jüngeren während der langen, schweigsamen Zeit mit großer Sorge, und beide wussten in dieser Sekunde, dass sie ab jetzt und zukünftig nicht mehr zu trennen sein würden. Es hatten sich zwei Seelen getroffen und zueinander gefunden. So, wie die viel zu Seltenen, durch nichts zu zerstörenden, großen Freundschaften zwischen zwei Menschen sind. Da bedarf es keiner zusätzlichen Worte. Da macht es ‘klick’ – wie bei jeder Form großer Liebe – und eine unbeschreibliche Nähe, Vertrautheit ist da. In ergreifender Schlichtheit und Vollkommenheit.

Man weiß es einfach. Alles. Ist für den anderen da.

Ohne zu fragen.

Immer.

Jonathan erhob sich. Glücklich, denn er wusste, auch wenn sein Freund nichts zu sagen vermochte, weil ihm der Schmerz noch immer die Kehle zuschnürte, dass Franco in Kürze wieder der sein wird, den er immer bewundert hatte. Das sagte ihm der Blick in die großen, schwarzen, voll kosmischer Tiefe leuchtenden, erleuchteten Augen.

Sie strahlten. In ihnen sah man Musik. Klang, Licht.

Wie tausend Sonnen.

Licht, Kraft. Energie. Töne.

Leben.

Stella lag, Luftlinie etwa zehn Kilometer von Francos Aufenthaltsort entfernt, nahe dem Dresdner Zwinger, auf den sie hätte schauen können, wenn sie denn wollte, apathisch in einem Raum, der mit der nostalgisch/armseligen DDR-Nüchternheit des sterilen Plattenbau-Krankenzimmers der sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts Francos nicht zu vergleichen war. Es umgaben sie wohltuend warme Farben. Gespachtelt die Wände, warmes Licht die Lampen und auch das von draußen einfallende Licht, das sich durch die übergroßen Jugendstilfenster in das Zimmer schob und sich in den schwer fallenden Seidengardinen brach, obwohl es draußen trüber Herbst war. Die Sonne machte, nur für Stella, Überstunden; eine geschmackvolle Einrichtung, in der das bequeme King-Size-Bett eher wie ein Fremdkörper wirkte. Blumenarrangements wohin das Auge blickte und ein dem Raum sich anschließender Wintergarten, in dem gemütliche, naturfarbene Korbmöbel standen. In ihm hingen zwei Kopien von Cézanne und Chagall, die sich dekorativ in das Gesamtbild einfügten. Der Kamin zu ihrer Rechten, ebenfalls mit orangefarbenen Jungendstil-Ornamenten eingefasst, verbreitete nicht nur eine angenehme, wohlige Wärme; die Scheite knisterten ein Lied des Verstehens, schienen für Stella komponiert. Die Stuckdecke des großen Raumes war liebevoll restauriert; aus den Ecken blickten goldene Engel auf die Patientin herab, die von dem gediegenen Ambiente nichts mitbekam.

Dennoch beschützten die Engel den Rockstar.

Ungefragt. Schutzengel halt.

Sarah Henderson, Stellas exzentrische Mutter, saß seit nunmehr vierzig Stunden auf einem Sessel ihrer Tochter gegenüber, die bislang nicht zu erkennen gegeben hatte, dass sie ihren Besuch überhaupt bemerkte. Auch Stella hielt, ähnlich wie der ihr fast unbekannte Franco, die Augen geöffnet, schien mitten im aktiven Leben zu stehen, nachzudenken, aber es war absolut keine Reaktion von ihr zu erhalten. SAHE, so der Künstlername von Sarah Henderson, der berühmten New Yorker Malerin des Abstrakten, hatte sich, kurz nachdem sie in der Privatklinik, die einst Professor Manfred von Ardenne gründete, angekommen war, eine kleine Stereoanlage kommen und CDs besorgen lassen, von denen sie wusste, dass etliche Songs daraus zum Liebsten gehörten, was ihre Tochter mit Musik verband. Sorgfältig suchte sie die Songs aus, die nun, abwechselnd, ganz leise aber beständig in Stellas Ohren drangen, um ihre Seele zu berühren. Stunde für Stunde. Sarah hoffte, über eine Therapie des Erinnerns, des Verbindens mit elementaren, großen und schönen Ereignissen beim Erforschen von Musik, Stella aus ihrem Koma reißen zu können. Töne, Klänge, Musik sind das Erste, was Kinder aufnehmen. Lange bevor sie sprechen können. Sprache ist aus Musik entstanden. Ist heute, nach kosmisch langer Entwicklungszeit, die simplifizierteste Form von Musik. Je komplexer Sprache wird, umso mehr verschließt sie sich dem Ton, hat im Laufe der Zeit ihren eigentlichen Rhythmus verloren, die weichen, harmonischen Schwingungen, obwohl ihre Ursprünge in der Musik liegen und keine Sprache existieren könnte, ohne Musik zur Grundlage zu haben. Aber Sprache hat ihre Flügel abgegeben, ist zum Ratio von Verständigung geworden. Oft zum Unverständnis verwachsen, verkrüppelt.

Doch der Zauber von Musik hat eine unvergleichliche Wirkung auf unsere Seelen. Musik macht uns die materielle, physische Welt attraktiv. Musik macht uns intelligenter, aufnahmefähiger, weicher, sensibler und menschlicher, denn sie vereint wie nichts Anderes in der Natur, Harmonie, Rhythmus, kosmisches Geschehen, Energie, Wellen, Töne, Individuelles, Künstlerisches, Emotionales, Großes und Kleines in sich. Sie regt das Denken an, die Kommunikation, das Miteinander, das Speichernde. Wie viel Melodien haben wir in uns! Unsere Seele wird ungebunden, frei. Sie fängt an große Sprünge zu machen, zu träumen, zu jubilieren, wenn sie auf Musik trifft, die sie berührt. Und Musik heilt. Klang, Wellen, Rhythmen, Zyklen, Energie – alles geht bis in unsere Zellen. In jede einzelne. Kommunikation auf feinstofflicher Ebene.

Klänge heilen.

Darauf setzte SAHE.

Um Stella aus ihrer Gefangenschaft zu reißen. Um sie in das Leben zurückzuführen, das ja für uns Menschenkinder nicht nur aus negativen Erlebnissen, Belastungen besteht. Natürlich war ihr bewusst, dass es ein schwieriger, möglicherweise langwieriger Prozess werden würde, denn die hohe Sensibilität ihrer Tochter ließ Ereignisse wie die vom vergangenen Montag besonders tief und schmerzhaft in ihrer Seele verweilen. Aber sie wollte aufpassen, dass sie sich dort nicht verankerten, keine Wurzeln schlugen. Hoffte, dass sie sie über die Schönheit, die Kraft, die Einmaligkeit von Tonfolgen, genannt Melodien, von ineinander verschachtelten Tonsprüngen, genannt Harmonien, von Zeitfolgen, Wiederholungen bestimmter Wellenlängen, die auf und gegen und vor allem miteinander agieren, genannt Rhythmus, der von Stella geliebten Musik, alles Tötende, Zerstörende wieder zu vertreiben vermochte.

Man musste dem Negativen positive Energien entgegensetzen. Denn wer Musik wirklich liebt, der wird durch sie geheilt werden. Musik erreicht alle Gedankengebäude des Menschen. Sie erreicht aber nicht nur seine Gedanken, seine Seele, das Herz, sie erreicht auch den gesamten physischen Körper. Alles schwingt in Rhythmen. Passen die gehörten Rhythmen, die Wellenformate der Melodien zu dem eigenen individuellen Schwingungsmuster, entsteht Heilung. Der Charakter des Menschen weckt seine ganz persönlichen musikalischen Neigungen; die gehörte Musik steht in direkter Ambivalenz zu seinem ICH. Beide können sich gegenseitig beeinflussen. Das heißt, je feinfühliger ein Mensch veranlagt ist, umso subtiler kann auch die Musik werden, die er aufzunehmen vermag. Nun glaubt man ja gemeinhin, dass Rockmusik diese Subtilität vermissen lässt. Das mag stimmen, wenn man Rockmusik oberflächlich betrachtet, dafür keinen Sensus in sich trägt, sie vollends zu erfassen. Aber auch in der Rockmusik, vom Rhythmus beherrscht, gibt es immense Unterschiede. Und Sarah hatte mit der ihr eigenen Erfahrung des Betrachtens der Tochter über die Jahre des Erwachsenwerdens Songs ausgesucht, von denen sie durch die unbeschreibbaren Bande des Mutter-Tochter-Verhältnisses instinktiv und ohne Einschränkungen sicher war, dass sie Stella helfen würden. Dass sie der Schlüssel sein könnten, um diesen Zustand des Dahindämmerns, des Leidens, des sich von der lebendigen, physischen Welt trennen wollenden Teils in Stella aufzulösen. Dass sie sich einfangen ließ, auch und gerade von dem kraftvollen Rhythmus der Songs.

Das Genie drückt seine Empfindungen und Gefühle in seiner Musik aus, ohne dass es Worte dazu benötigt. Musik als universale Sprache, ja, vielleicht auch gesungen, ohne dass die Worte eine existenzielle Bedeutung erlangen. Intuitiv erfassen, was uns berührt. Die innere Welt, die nur die Seele mit ihrem musikalischen Auge erkennen kann, wieder zum Leuchten bringen.

„Take off my shield - carry my sword - I won’t need it anymore - find me a sky - give me wings - frozen and broken but free - tell them I’m all right - I’m coming home - tell them I’m all right - I am alone - this war is over - I’m coming home - take off my shame - bury it low - I won’t need it anymore - find me the sun - give me it whole - melt all the chains in my soul - tell them I’m all right - I’m coming home - tell them I’m all right - I am alone - this war is over - I’m coming home - take off my pain - carry me slow - I won’t fight here anymore - tell them I’m all right - I’m coming home - the war is over ...“

Melissa Etheridge, „This War Is Over“.

This war is over.

Kaum waren Sarahs Tränen durch die Kraft des wunderschönen Songs der Freundin ihrer Tochter getrocknet worden, mit dem sie sich vermutlich zum Teil auch selbst therapieren, beruhigen wollte, ging die schwere, übergroße Tür zu dem harmonischen, als schön zu bezeichnenden Raum auf und es standen zwei recht unterschiedlich aussehende Männer im Zimmer. Jonathan und Franco.

»Hallo. Ich bin Jonathan. Wir haben telefoniert. Ich rief Sie Montagnacht aus der Konzerthalle an, um Sie zu bitten, zu Ihrer Tochter zu kommen«, wandte sich der in Diensten Franco Mignellos stehende Ältere der beiden Eindringlinge an Sarah Henderson.

»Und ich bin Franco Mignello. Ein Freund. Sie wollte meine Augen wiedersehen, deshalb bin ich hier«, ließ der kleine, sehr blass und hilflos aussehende junge, aber gleichzeitig älter, reifer wirkende Typ mit den Feuerlocken und zu reifem Blick seine warme Stimme erklingen, dabei mit beiden Zeigefingern auf die Objekte des Begehrens zeigend, und Sarah mit diesen, in seiner für Fremde völlig ungewohnten Intensität strahlenden Augen anschauend.

Sarah erhob sich aus dem Sessel, konnte ihrerseits den Blick nicht von dem kleinen Mann in abgewetzter Jeans und zu großem Pullover nehmen, den sie um etliche Zentimeter überragte. Sie kam wie in Trance auf ihn zu, umarmte ihn inniglich, hielt ihn fest, als seien sie eine Ewigkeit befreundet.

»Die Etheridge wird Stella helfen«, versuchte Franco seine Verlegenheit zu überspielen, denn ihm war die Umarmung der eleganten, blendend aussehenden Frau, die nicht verhehlen konnte, die Mutter der singenden Schönheit zu sein, äußerst peinlich. Er fühlte sich in ihren Armen wie ein Kind. Irgendwie zog er Parallelen zu seiner Mutter. Und doch nicht. Er fühlte sich wie ein erwachsenes Kind, das Begehren hätte entwickeln können. Denn die erotische Kraft, die von Sarah Henderson ausging, war auch für ihn, selbst in dieser so schweren Situation, unverkennbar. Wieder einmal wurde er knallrot, ohne dass es jemand wahrnahm; seine Sommersprossen übertönten die kräftige Farbe der restlichen, von den Pigmentflecken verschont gebliebenen Haut seines Gesichts – also nicht mehr als dreißig Prozent. Und das fiel nicht weiter auf.

»Ja, das hoffe ich auch«, antwortete ihm Stellas Mutter, blickte unvermindert anhaltend in Francos wunderschöne dunkle Augen, die auf sie intensiv und beruhigend wie ein glasklarer, tiefer Waldsee wirkten. Mystisch. Und die nach morgenfrischen Tannen dufteten, so empfand sie. SAHE hielt Francos Hände in den ihren und es strömten im Wechsel Kräfte, die sie beide sehr deutlich spürten. Die ihnen sagten, dass sie sich verstehen würden, dass sie einander helfen werden.

»Sind Sie einer der Helfer beim Konzert gewesen?«, fragte Sarah Franco und drehte sich hilfesuchend zu Jonathan um, weil sie wohl annahm, dass der schüchterne junge Mann, der so gar nicht in ihr Bild eines Bühnen-Roadies oder Security-Mannes passte, ihr darauf keine Antwort würde geben können.

»Es ist etwas komplizierter«, antwortete Jonathan sehr gefühlvoll, da er sensibel genug war zu erkennen, dass Franco diese Frage in der Tat nicht angenehm war. »Franco Mignello ist Italiener, ein Freund, den ihre Tochter nicht kennt, ihm dennoch einiges, nein, sehr viel zu verdanken hat. Das wird Sie verwirren, aber es lässt sich aufklären. Wenngleich jetzt vielleicht nicht der geeignete Augenblick ist, das ausführlich zu erläutern, denn wir sind hierhergekommen, um zu versuchen, Stella zu helfen. Wie Sie auch, gnädige Frau.«

»Sagen Sie Sarah zu mir, Jonathan, Franco. Ich weiß, dass Stella Ihnen ihr Leben verdankt. Ich fühle es, ohne dass Sie es mir bestätigen müssen. Und ich kann Stella verstehen, wenn sie diese Augen wiedersehen will!«

Wieder nahm sie Francos Hände in die ihren. Führte sie zu ihren Augen, dann legte sie auch ihre feingliedrigen Finger behutsam auf Francos Augen, bedeckte diese für eine Sekundenewigkeit, zog sie weg, beugte sich ein wenig zu ihm herab und küsste ihn auf seine schwarz glänzenden Diamanten:

»Ich werde Stella die Kraft Ihrer Augen, die Stärke Ihrer Seele übermitteln. Ich glaube, wir müssen uns alle in Geduld üben. Bitte hinterlassen Sie, wo und wie ich Sie erreichen kann. Bitte gehen Sie jetzt. Ich werde Sie informieren, wenn es Stella bessergeht. Wenn sie in der Lage ist, Ihre Zuneigung entgegenzunehmen. «

Es entstand eine Pause, die die Stille noch schöner und zugleich unerträglicher machte.

»Ich täusche mich doch nicht, Franco Mignello?«, setzte SAHE fort. »Sie lieben meine Tochter, nicht wahr? Sagen Sie nichts. Eine Mutter fühlt das. So können nur Menschen schauen, die die Liebe in sich tragen. Sie sind ein guter Mensch. Ich danke Ihnen. Und auch Ihnen, Jonathan. Sagen Sie mir nichts mehr über sich. Ich fühle es: Sie sind beide gute Menschen. Bitte besuchen Sie uns, hier, in dieser schönen Klinik wieder, wenn Stella erwacht ist. Und in New York. Wir brauchen Sie. Besonders Stella. Ich bestehe darauf. «

Wortlos gingen die zwei Freunde aus dem Zimmer. Franco warf noch einen schüchternen Blick auf seine große Liebe, die völlig friedlich in ihrem großen Bett lag. Es war ein Blick, wie von den Engeln im Zimmer, die sie beschützten. Um ihre vollen, sinnlichen Lippen lag ein zartes, entspanntes Lächeln, ihre goldgrünen Augen richtete sie unverändert, teilnahmslos, an die Decke.

Engel behüteten Stella.

SIE TÖTEN DICH.

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