Читать книгу Nachtengel - Danuta Reah - Страница 10
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Sheffield, Sonntag
Um sieben Uhr wachte Roz vom Klingeln des Telefons auf. Sie schimpfte und zog die Decke über den Kopf. Sollte doch der Anrufbeantworter die Sache erledigen. Sie hatte es verdient, mal auszuschlafen. Kurz nach zwei war sie von Joannas Party heimgekommen und in den frühen Morgenstunden schon von einer Gruppe Jugendlicher geweckt worden, die sich auf der Straße stritten und herumgrölten. Jetzt wollte sie einfach nur schlafen. Wer würde sie überhaupt zu dieser Zeit anrufen? Ihre Mutter? Nicht einmal Paula würde sonntags so früh anrufen. Dann drang die Stimme auf dem Gerät zu ihr durch, und sie setzte sich auf und griff nach dem Hörer. »Bishop, du faules Stück, steh auf …«
Das war der alte Luke von früher, der Freund, der sich nie gescheut hatte, sie wegen irgendeiner Unternehmung, für die er sich begeistert hatte, aus dem Bett zu jagen. »Es ist mitten in der Nacht, Luke! Herrgott noch mal!« Dann fiel ihr Freitag wieder ein. »Was ist denn los?«
» Ich bin in Gemmas Wohnung«, sagte er. »Da ist…« Er klang plötzlich unsicher, der neue Luke, leicht argwöhnisch, etwas distanziert. »Ich bin nicht ganz sicher. Vielleicht hätte ich dich nicht anrufen sollen.«
» Ach komm, Luke. Meinst du wirklich, ich kann jetzt wieder einschlafen? Was ist denn los? Ist Gemma krank? Ist sie deshalb gestern nicht gekommen?«
» Gemma ist nicht zurück«, sagte er nach einer Pause.
» Luke…« Ein beklemmendes Gefühl überkam sie. »Hat sie sich gemeldet? Hast du irgendetwas gehört?«
» Nichts. Aber…« Wieder die Unsicherheit, die gar nicht zu Luke passte.
» Meinst du nicht, wir sollten jemanden anrufen – das Krankenhaus? Vielleicht hatte sie einen Unfall.« Oder regte sie sich jetzt übermäßig auf?
» Das hab ich schon gestern gemacht. Ich hab dir ja gesagt, der Mist mit dem Wagen, das machte doch keinen Sinn. Es war nichts. Aber es würde sowieso nichts sein.«
» Warum? Was haben sie gesagt?« Es musste doch etwas los sein, sonst hätte er nicht angerufen. »Ich komm vorbei, ja? Zu Gemmas Wohnung?«
» Ich weiß nicht …« Wieder diese Unsicherheit. Sie versuchte, sich zu erinnern, ob Luke sie einmal irgendwann in dem Jahr, seit sie ihn kannte, um Hilfe gebeten hatte.
» Ich komme hin«, sagte sie.
Einen Moment schwieg er. »Okay. Mal sehen, was du davon hältst.« Er legte auf.
Roz sah aus dem Fenster und versuchte abzuschätzen, wie das Wetter werden würde. Sie hatte keine Stores, ihr Schlafzimmerfenster führte auf das verlassene Haus hinaus, und von dort, wo sie lag, konnte sie das Erkerfenster sehen. Sie ließ sich aus dem Bett auf den Boden rollen. Es war eine Technik, die sie sich als Teenager angewöhnt hatte, als das Aufstehen eine unmöglich schwierige Aktion war. Ihre Müdigkeit war verflogen, aber sie wusste, dass sie sich später wieder melden würde. Ich werde alt… Die Dusche weckte sie vollends auf. Sie zog Jeans und einen warmen Pullover an, legte ein Croissant auf den Toaster und schaltete den Wasserkocher an. Fünfzehn Minuten später fuhr sie mit dem halben Croissant in der Hand rückwärts durch ihr Tor.
Gemma wohnte in einer Mietwohnung in Hillsborough. Roz hatte sie ein- oder zweimal dort abgeholt, war aber nie in der Wohnung gewesen. Das fiel ihr ein, als sie vor dem kleinen Reihenhaus hinter Lukes Motorrad anhielt, eine Vincent Black Shadow, der er mehr Zeit und Pflege widmete als sich selbst. »Das macht mich richtig arbeitsam«, hatte er Roz gegenüber einmal eingestanden. Er musste nach ihr Ausschau gehalten haben, denn er öffnete die Tür, als sie durchs Tor kam.
Sie folgte ihm ins Haus. Die Diele und das Treppenhaus wurden gemeinsam von allen Mietern genutzt und waren so dunkel und ungepflegt, wie das bei Durchgangsbereichen oft der Fall ist. Gemmas Wohnung lag im Erdgeschoss, die Tür links vom Eingang. Roz sah sich um, als sie hineinkam. Vermutlich ähnelte die Wohnung den zahlreichen möblierten Unterkünften, die in einer Gegend mit vielen, häufig wechselnden Mietern angeboten wurden. Gemma hatte die Sessel mit hellen Überwürfen bedeckt und die Wände in einem sanften, neutralen Farbton gestrichen, als hätte sie versucht, den Raum so unaufdringlich wie möglich zu gestalten, sodass er nur einen Hintergrund für sie abgab. Hier und da gab es Farbkleckse – das Grün einer Pflanze, eine Tischlampe mit pfauenblauem Schirm, ein Wandbehang in leuchtenden Farben, Kissen, die rot bestickt waren. Roz war von dem Wandbehang fasziniert. Er schien in dem nüchternen Zimmer von glühendem Leben erfüllt. Sie betrachtete ihn genauer und bewunderte die bunten Farben und die kunstvolle Webarbeit.
Luke stellte sich hinter sie. »Gemma hat ihn aus Dudinka mitgebracht«, sagte er. Gemma war drei Jahre in Russland gewesen, an der sibirischen Universität in Nowosibirsk, wo sie an ihrer Doktorarbeit schrieb. »Sie haben ihn ihr geschenkt, als sie ging. Sie kehrt dorthin zurück, wenn ihr Forschungsauftrag hier zu Ende ist.« Roz war überrascht. Sie hatte gedacht, dass Gemma eine Universitätskarriere in Großbritannien oder Amerika anstrebte.
Luke wandte sich von dem Wandteppich ab. »Hier entlang«, sagte er und führte sie durch eine kleine Küche, mehr eine Diele, ins Schlafzimmer, das im hinteren Teil des Hauses lag. Es war kleiner als das vordere Zimmer und nur mit einem Bett und einer kleinen Kommode möbliert, und am Kaminmantel war eine leere Kleiderstange befestigt. Unter dem Fenster stand Gemmas Schreibtisch mit ihrem Computer. Der Bildschirmschoner zeigte komplizierte Muster in immer neuen Farben. Luke ging hin und sagte: »Sieh mal.« Er öffnete mit einem Mausklick das Fenster <Dokument öffnen> und forderte Roz mit einer Kopfbewegung auf, herüberzukommen. Sie sah auf den Bildschirm. Das Fenster hatte sich geöffnet, aber nichts war zu sehen, keine Dateien oder Verzeichnisse, nur der leere Monitor.
Roz sah hin und schaute dann Luke an. Er zuckte die Schultern.» Als ich die Festplatte letztes Mal sah, am Dienstagabend muss das gewesen sein, hatte sie jede Menge Sachen da drauf«, sagte er.
» Vielleicht hat sie sie gelöscht, um Platz zu haben«, sagte Roz.» Vielleicht ist alles auf Disketten gespeichert.«
Luke öffnete die Schreibtischschublade. »Sie bewahrt ihre Sicherheitskopien hier auf«, sagte er. Die Schublade war leer.» Gem lässt sowieso alles auf der Festplatte. Sie sagt, man findet sich dann leichter durch. Und sie hat außerdem von allem Sicherheitskopien. « Er verschränkte die Arme, stand an den Schreibtisch gelehnt und sah sie abwartend an.
Roz fragte sich, was er von ihr erwartete, und überlegte, was sie tun sollte. Gemma war an einem Donnerstag nach Manchester gefahren, um an einem Meeting teilzunehmen. Sie war auf jeden Fall dort gewesen, Joanna hatte am Freitag nachgefragt. Am Donnerstagabend sollte sie zurück sein. Luke hatte gesagt, er hatte erwartet, dass sie ihn anrufen würde, oder jedenfalls dachte er, sie würde es tun. In der Abteilung wurde sie Freitag früh erwartet, das Meeting war den ganzen letzten Monat Joannas Hauptanliegen gewesen. Doch Gemma hatte nur eine E-Mail mit einer fadenscheinigen Ausrede geschickt. Sie war nicht zurückgekommen und hatte anscheinend alle ihre Dokumente von ihrer Festplatte gelöscht, bevor sie ging. Luke beobachtete sie immer noch vom Schreibtisch her, um zu sehen, zu welchem Schluss sie käme. »Polizei?«, sagte sie.
» Hab ich auch schon gemacht«, sagte er. »Gestern.«
» Und?« Man musste ihm alles aus der Nase ziehen.
» Sie zeigten kaum Interesse. Sie schrieben alles auf, fanden aber, es gebe keinen Grund zur Beunruhigung. Gemma fährt tatsächlich manchmal am Wochenende weg. Sie sagten, ich solle bis Montag warten. Sie meinten, meine Reaktion sei übertrieben und wir hätten wohl einen Streit gehabt. Die Kabbelei eines verliebten Pärchens.« Er sagte das ziemlich unbekümmert, und sie fragte sich, warum er sich solche Sorgen machte, wenn Gemma öfter ungeplante Fahrten unternahm. Aber es würde nicht viel bringen, ihn zu fragen. Er erzählte ihr in letzter Zeit ja nichts mehr. »Ich hab nur gedacht, da stimmt etwas nicht. Aber da war ich noch gar nicht hier gewesen.«
» Was meinst du damit?«
Er machte eine ungeduldige Kopfbewegung. »Sieh dich doch mal um, Roz.«
Sie schaute sich um und verstand die Bedeutung der leeren Kleiderstange. Dann ging sie zu der Kommode hinüber und öffnete die Schubladen. Sie waren leer. »Alle ihre Sachen sind weg«, sagte sie. Das hieß, dass Gemma die Abreise geplant hatte, wohin sie auch gefahren war. Aber das unbehagliche Gefühl blieb bestehen.
» Erster Preis für gute Beobachtungsgabe, Bishop.« Luke hatte sich wieder zum Computer umgedreht und ließ den Cursor über die Bildfläche wandern.
» Hör mal, habt ihr zwei denn irgendetwas miteinander …, du weißt schon?«
» Was sollen wir miteinander gehabt haben, Roz?«
» Irgendeinen Streit oder eine Auseinandersetzung oder so etwas, das sie aufgeregt hätte. Du weißt schon, was ich meine, Luke.«
Sein Gesichtsausdruck veränderte sich nicht. »Wenn ich den Grund wüsste, warum sie weg ist, dann würde ich sie ja nicht suchen.«
Das heißt also: nein. »Wenn Gemma diese Dateien gelöscht hat, solltest du vielleicht versuchen, sie wiederherzustellen?«, sagte sie. Sie begriff langsam, dass Gemma persönliche Gründe für ihr Verschwinden haben musste und dass Luke mehr wusste, als er ihr sagte. Sie war nicht bereit, den Einfaltspinsel zu geben, welches knifflige Spiel er und Gemma auch spielen mochten. Er lächelte ihr zu und wartete. Du hast es noch nicht durchdacht, Bishop. »Du hast bestimmt schon nachgesehen«, sagte sie.
» Es ist kein Problem, gelöschte Dateien wiederherzustellen«, sagte er. »Aber … jemand hat sich hier ziemliche Mühe gegeben – ich finde nur wirres Durcheinander.«
Gemma hatte also mehr getan, als nur einen Befehl zum Löschen einzugeben. »Kannst du sie überhaupt wiederherstellen? «
» Wenn ich … ich weiß nicht. Wahrscheinlich nicht. Aus so etwas hier nicht.« Er runzelte die Stirn und sah grübelnd in die Ferne. »Ich glaube nicht, dass Gemma das getan haben könnte. Sie hätte alles auf ihrer Festplatte löschen können, kein Problem. Sie weiß, wie man das macht …« Roz dachte daran, dass sie einmal genau das getan hatte, ohne dass sie es beabsichtigte oder auch nur wusste, was sie da angerichtet hatte. »Aber für diese Sache hier hätte sie besser Bescheid wissen müssen.«
Roz dachte darüber nach. Sie überlegte, wie sie das Problem angehen würde, wenn sie etwas von ihrer Festplatte so entfernen wollte, dass es für immer weg war. Man konnte in ihrem Arbeitsbereich nicht tätig sein, ohne zu wissen, wie leicht solche Dateien wiedergefunden werden konnten. Wenn sie etwas endgültig löschen wollte, würde sie wahrscheinlich Luke fragen. Aber wenn sie nicht wollte, dass Luke es erfuhr … Sie dachte, wahrscheinlich wäre sie doch in der Lage gewesen, irgendeine Lösung zu finden. Sie wäre nur nicht hundertprozentig sicher gewesen, dass die Dateien wirklich endgültig gelöscht waren. Aber das wäre vermutlich nicht allzu schwierig herauszufinden.» Gemma kann es getan haben«, sagte sie.
Luke zuckte die Schultern. Er dachte offenbar, dass sie sich irrte. Er fuhr den Rechner herunter und stand auf. »Ich gehe in die Abteilung«, sagte er. »Ich sehe auf ihrem PC dort nach.«
Sonntags war es im Arts Tower still. Die Studenten arbeiteten in der Bibliothek, und einige Leute fuhren im Paternoster hinauf oder herunter, eine Universität ist nie ganz geschlossen. Aber die Menge Menschen, die unter der Woche Vorlesungen und Seminare besuchte, war heute nicht da. Sie fuhren schweigend im Paternoster nach oben. Die Abteilung N war menschenleer, das Licht ausgeschaltet, die Gänge dämmrig und still. Luke ging zu Gemmas Büro voraus und schloss mit seinem Universalschlüssel auf. Roz sah sich um. Alles war so mustergültig ordentlich wie am Freitag. Sie erinnerte sich, dass sie hier gewesen war, weil sie Gemmas Bericht suchte. Als Luke jetzt den Computer anschaltete, wurde ihr klar, wie bedeutsam das war, und sie fühlte eine unbestimmte Erleichterung. »Es ist okay«, sagte sie. »Ich hatte das ganz vergessen. Am Freitag habe ich in eine von Gemmas Dateien reingesehen. Ein Bericht, den sie abliefern musste. Alles ist da. Oder jedenfalls die Dateien, die ich suchte, waren da. Ich …« Sie verstummte bei dem, was sie über Lukes Schulter hinweg sah. Der Computer brachte eine Nachricht, weiße Buchstaben auf schwarzem Bildschirm: Fehler, Fehler, Fehler.
Luke sah sie an. »Am Freitag mag es wohl noch da gewesen sein«, sagte er. »Aber jetzt nicht mehr. Es ist gelöscht.«
Roz strich sich das Haar aus dem Gesicht und schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht, wo ich noch suchen soll«, sagte sie. Wer immer Gemmas Dateien gelöscht hatte, hatte gründliche Arbeit geleistet. Die peinlich genaue Entfernung der Dateien in ihrem Computer zu Hause hatte wohl einige Zeit erfordert. Hier war sogar die Festplatte neu formatiert. Alles war weg.
Roz und Luke hatten ihren Schreibtisch und die Aktenschränke in Gemmas Büro durchsucht, hatten auf den Regalen nachgesehen, auf dem Fensterbrett und in den Taschen ihres Laborkittels, der an der Tür hing. Roz fragte sich, warum er überhaupt da hing. Sie hatte Gemma ihn nie tragen sehen. Sie suchten Gemmas Sicherheitskopien. Luke stand beim Aktenschrank, und einen Moment hatte er seinen Gesichtsausdruck nicht unter Kontrolle. Er sah ängstlich und verwirrt aus und hatte vor Anspannung Falten um Augen und Mund. Er bemerkte, dass sie ihn ansah, und versuchte ein Lächeln. »Was hätte es für einen Sinn, im Computer alles zu löschen und die Sicherheitskopien hier zu lassen?«, fragte er. »Sie sind nicht hier.«
» Wer immer es getan hat, hat vielleicht nicht gewusst …« Roz hoffte immer noch, dass die Disketten mit den Sicherheitskopien, die Gemma haben musste, doch noch auftauchen würden. Vielleicht hatten sie etwas übersehen. Sie wandte sich wieder dem Schreibtisch zu.
» Sie sind nicht hier, Roz. Hör auf mit der Zeitverschwendung. « Er steckte die Hände in die Taschen seiner Jeans und sah sich mit zornigem Gesicht im Raum um. »Ich habe ihr gesagt, dass wir ein System zur automatischen Erstellung von Sicherheitskopien brauchen.«
» Wem?« Roz schob die Schreibtischschublade zu. Er hatte Recht. Es war nichts da. Sie hatten überall nachgesehen. Sie rückte ihre Brille zurecht und nahm sie dann irritiert ab.
» Grey. Ich hab es Grey gesagt.« Er fuhr sich durchs Haar und ging ruhelos in dem kleinen Zimmer umher. Roz öffnete die oberste Schublade des Aktenschranks. Sie wollte nicht zugeben, dass er Recht hatte.
» Meinst du, Gemma hat das getan? Kam gestern zurück und hat alles in ihrem Rechner gelöscht?«
Er griff an ihr vorbei zum Aktenschrank und knallte die Schublade zu. »Wie soll ich das wissen, verdammt noch mal?«
Seine Wut ließ sie erstarren. Sie wusste, dass Luke launenhaft sein konnte, aber sie hatte nie erlebt, dass er plötzlich so wütend wurde. Sie trat vom Aktenschrank weg, weil sie ein Stück von ihm entfernt sein wollte. Sie versuchte, noch eine Frage zu stellen, und strengte sich an, ihre Stimme normal klingen zu lassen.» Warum diese Zerstörungsaktion auf der Festplatte hier? Warum hat … wer immer … die ganze Festplatte gelöscht und auf dem anderen Computer nur die Dateien?«
Er sah sie nicht an und ließ seine Hand auf dem Aktenschrank ruhen. »Ich weiß es nicht, Roz.« Seine Stimme klang angespannt und beherrscht. »Versuch doch selbst, es herauszukriegen.«
Sie sah seine starre Haltung. Plötzlich war es, als werde sie zwei Jahre zurückversetzt und sehe Nathans Verwirrung sich in Wut verwandeln. Dann konnte sie immer nur eines tun: Ihm schnell aus dem Weg gehen. Bis zu dem Abend, an dem sie es nicht geschafft hatte. Sie war von seinem unsicheren Stolpern aufgewacht, weil er im Haus umherging, und war aufgestanden, wie sie es zuvor oft getan hatte. Und er hatte am oberen Ende der Treppe gestanden, das Gesicht vor Wut und blinder Angst verzerrt. Sie sah noch dieses Gesicht und seinen erhobenen Arm vor sich. Dann schlug er mit der Faust gegen ihre Schläfe, ihre Hand griff in dem Moment vor ihrem Sturz, in dem alles stillzustehen schien, nach dem Geländer, aber sie konnte sich nicht retten, und Schmerz und Angst ergriffen sie.
In diesem Zustand konnte sie nicht bei Luke bleiben. »Ich bin in meinem Büro«, sagte sie schließlich.
Er sah sie nicht an. »Okay.«
Sie ging den leeren Korridor entlang an der Treppe vorbei, und ihre Schritte hallten auf dem Linoleumboden. Ein rotes Sicherheitslicht glühte an der Decke, und in der Halle am Ende des Korridors schimmerte ein schwacher Lichtschein. Roz ging auf ihr Büro zu und versuchte, die Situation zu überdenken. Ihre Überlegungen gingen in zwei Richtungen: Der Hauptgedanke war die Sorge um Gemma. Das Gefühl beklemmender Ungewissheit überzeugte sie, dass etwas nicht stimmte. Luke sagte, er hätte mit der Polizei gesprochen, und dort sei man nicht besorgt gewesen, aber das war gewesen, bevor er entdeckt hatte, dass die Dateien gelöscht waren. Oder würde man bei der Polizei der Meinung sein, das zeige gerade, dass Gemma vorgehabt hatte, wegzugehen, und dass sie alle Dateien gelöscht hatte, weil… weil was? Weil sie etwas zu verbergen hatte?
Das war Roz’ zweite sorgenvolle Überlegung: Wenn Gemma absichtlich gegangen war, konnte das ernste Konsequenzen für die Gruppe haben. Roz schloss die Tür ihres Büros und lehnte sich von innen dagegen. Stille umgab sie. Sie brauchte Zeit zum Denken, und ihr wurde klar, dass sie Joanna anrufen musste. Joanna musste es erfahren. Sie wählte ihre Nummer, aber der Anrufbeantworter war dran. Sie legte auf. Sie sollte sich überlegen, was sie sagen würde. Sie schob einen Papierstoß zur Seite und nahm ihren Notizblock und einen Kuli. Es war ein Stoß von Arbeiten, die sie am Montag zu erledigen hatte. Die verschiedenen Aufgaben, die sie erwarteten, lenkten sie ab, und sie blätterte in dem Stoß, während sie überlegte, was sie Joanna sagen wollte.
Das erinnerte sie an den Bericht für DI Jordan. Gemma musste ihn fertig machen und abschicken. Aber Gemma würde nicht hier sein. Plötzlich wusste sie das ganz sicher. Was immer geschehen war, Gemma würde nicht sobald zurückkommen, vielleicht überhaupt nie. Roz würde den Bericht durchsehen und die ziemlich kurz angebundene DI Jordan anrufen müssen, um zu erklären, warum er noch einen Tag später kommen würde. Sie erinnerte sich an Joannas überschwänglich gute Stimmung am Freitag. Ihr graute davor, es ihr zu sagen.
Eine Diskette hatte in dem Papierstoß gesteckt, rutschte heraus und fiel zu Boden. Mit gerunzelter Stirn hob sie sie auf. Sie vermied es immer sorgfältig, Disketten herumliegen zu lassen, beschriftete sie gewissenhaft und verstaute sie an der richtigen Stelle, damit man sie finden konnte, wenn sie gebraucht wurden. Am Freitag musste sie wohl zerstreut gewesen sein. Sie sah nach, was für eine Diskette es war. Kein Etikett. Das war eigenartig. Sie speicherte nie, wirklich nie etwas auf einer Diskette, ohne ein Etikett mit Beschriftung aufzukleben. Sie musste jemand anderem gehören, aber wer würde sie in ihrem Büro liegen lassen?
Dann erinnerte sie sich, dass Gemma am Mittwoch in ihrem Büro gewesen war, nervös in ihrer Tasche gewühlt und sie dann auf ihrem Schreibtisch abgestellt hatte. Die Diskette musste aus der Tasche gefallen sein, ohne dass Gemma es merkte. Sie nahm den Hörer ab, um Gemmas Durchwahl zu wählen und Luke zu sagen, was sie gefunden hatte, aber dann legte sie auf. Sie sollte erst mal nachsehen, was sie gefunden hatte. Gemma musste vorgehabt haben, diese Diskette mitzunehmen. Sie legte sie ein, ließ sie durch das Virenschutzprogramm laufen und öffnete die Datei.
Es waren drei Dateien, JPG-Dateien, also Bilder. Die Namen halfen nicht, AE1, AE2, AE3. Roz war enttäuscht. Sie wollte keine Bilder, sondern sie wollte Gemmas Dateien, die sich auf ihre Arbeit bezogen. Sie öffnete eine Datei mit einem Doppelklick und sah, wie sich das Bild auf dem Bildschirm aufbaute.
Zuerst wollte ihr Verstand das Bild nicht aufnehmen. Dann war sie… schockiert? Verlegen? Belustigt? Kein Wunder, dass Gemma diese Dateien in ihrer Tasche verbarg und sie nicht in der Abteilung herumliegen ließ. Es war ein Bild von einer Frau – Gemma – die nackt auf einer gemusterten Steppdecke saß. Sie hatte die Knie hochgezogen, die Arme darauf gelegt und sah direkt in die Kamera. Ihre Augen leuchteten, und sie schien ein Lachen zu unterdrücken. Die Unterschenkel hatte sie leicht gespreizt, so dass sie der Kamera die uneingeschränkte, freie Sicht bot.
Roz öffnete die nächste Datei, obwohl sie nicht sicher war, ob sie das tun sollte oder wollte. Diesmal stand Gemma aufrecht, die Handgelenke waren über ihr mit einem schmerzhaft straff gespannten Strick zusammengebunden, sodass sie auf den Zehenspitzen stehen musste. Ihre Augen sahen herausfordernd und lockend direkt den Betrachter an. Auf dem dritten Bild lag Gemma auf einem Bett, ihre Hände waren wieder gefesselt und über den Kopf hochgezogen. Die Knie waren angewinkelt und die Beine gespreizt. Sie trug ein Mieder mit Spitzen, das so knapp saß, dass es ins Fleisch schnitt. Der Hintergrund war dunkel und schummerig. Roz saß still da und wusste nicht, was sie tun sollte. Sie verstand nicht, warum die Bilder auf der Diskette waren. Warum Gemma sie in ihrer Tasche mit sich herumtrug. Wem wollte sie sie zeigen?
Hände legten sich auf ihre Schultern, und sie schrak zusammen. Sie fuhr herum, und Luke stand hinter ihr. Ihr Herz hämmerte bis in ihre Kehle, und einen Moment glaubte sie, ihr werde übel. »Luke! Verdammt! Du hast mich zu Tode erschreckt! « Sie versuchte, wieder zu Atem zu kommen.
» Was hast du da, Roz?« Er klang ruhig und gelassen und entschuldigte sich nicht für den Schreck, den er ihr eingejagt hatte.
» Es ist … « Ihre Stimme klang unnatürlich, und bevor ihr etwas zu sagen einfiel, war seine Hand schon auf der Maus, und er klickte die anderen Bilder an. Keiner sagte etwas. Dann schloss er die Dateien und nahm die Diskette aus dem Laufwerk.
» Sie gehören, glaub ich, Gemma«, sagte er.
» Luke …« Sie wusste nicht, was sie sagen sollte.
» Ist schon in Ordnung.« Er bemühte sich, in seiner Stimme keine Emotion hören zu lassen. »Die haben wir vor zwei Monaten aufgenommen. Es waren einfach Fotos.«
Das stimmte. Es waren nur Fotos. Aber Roz war wütend auf Luke. Sie wünschte, sie hätte sie nicht gesehen, oder dass wenigstens nicht er sie aufgenommen hätte. Gemma hatte sie auf einer Diskette gespeichert und wollte sie irgendwohin mitnehmen. Warum? Sie sah Luke an, der die Diskette zwischen Daumen und Zeigefinger hielt und mit schmalen Augen grüblerisch vor sich hinsah.
» Es geht mich nichts an«, sagte sie. Sie hörte selbst, dass ihre Stimme kalt klang. »Ich dachte …« Was denn? Was hatte sie gedacht? Dass die Dateien eine Erklärung für Gemmas Verschwinden enthalten würden?
Er fing ihren Blick auf, war aber unkonzentriert, als denke er über etwas anderes nach. »Kein Problem.« Er klang zerstreut, seine plötzliche Wut war so schnell wieder verflogen, wie sie gekommen war. Er sah sie mit hochgezogenen Augenbrauen an.» Na ja, du weißt jetzt also etwas, das du vorher nicht wusstest.«
Jetzt war sie jedenfalls sicher, dass sie Luke nicht so gut kannte, wie sie geglaubt hatte. Es kam ihr vor, als kenne sie ihn überhaupt nicht.
Snake Pass, Sonntagmorgen
Der Sonntag, ein schöner Wintertag, dämmerte über den Pennines. Der Himmel war wolkenlos und blau und die Luft still. Die Temperatur war gesunken, und der Raureif auf dem Boden glitzerte. Es war ein Tag, der die Wanderer anlockte, und Keith Strong hatte beschlossen, der Menge vorauszueilen und früh loszugehen. Er kannte die Peak-Gegend gut, denn er arbeitete in Teilzeit als Forstaufseher und hatte ein Auge auf die Parkbesucher, bot ihnen Hilfe an, half Wanderern aus der Klemme, und wenn etwas drastisch schief ging, beteiligte er sich an der Rettungsaktion. War in der Gegend um den Peak herum eine Rettungsaktion nötig, dann hieß das gewöhnlich, dass jemand sich dumm angestellt hatte, mit hochhackigen Schuhen versucht hatte, den Mam Tor, den zitternden Berg, zu besteigen (wirklich, so etwas hatte er schon erlebt), bei schlechtem Wetter und ohne die richtige Ausrüstung auf die Gipfel wollte oder Felswände ohne Sicherheitsausrüstung hochgeklettert war. Aber heute war er nicht im Dienst, sondern wollte nur die Natur genießen. Sein Kumpel Tony fuhr gleich morgens nach Manchester hinüber, und Keith hatte ihn überredet, die Route über den Snake zu nehmen und ihn am Doctor’s Gate abzusetzen. Er hatte vor, den Weg zum Devil’s Dyke hinaufzugehen, dem Pennine Way zu folgen und dann zum Flouch Inn hinüberzugehen. Es war eine lange und schwierige Wanderung, aber das Wetter war genau richtig, und er brauchte einen Tag in der freien Natur. Außerdem würde es auch Candy gut tun.
Tony setzte ihn auf der geraden Strecke vor Doctor’s Gate ab.» In der Kurve kann ich nicht halten«, sagte er. Als Tony weiterfuhr, hob Keith dankend die Hand, nahm seinen Rucksack auf und machte sich auf den Weg den Berg hinauf und auf das Abflussrohr des Bachs zu. Er führte Candy das Stück, das sie noch auf der Straße waren, an der Leine. Sie gehorchte ihm – alle seine Hunde waren gut erzogen, aber sie war jung und aufgeregt und voller Energie. Es war nicht gut, ein Risiko einzugehen. Sie zog an der Leine, und er verbot es ihr mit strenger Stimme, aber als die Steigung steiler wurde, ließ er sie wieder ziehen. Sobald sie den Durchlass erreichten und die Straße überquert hatten, ließ er Candy von der Leine, und sie rannte voraus den Damm hoch, schnupperte eifrig und tänzelte vor Freude. Keith dachte, und das nicht zum ersten Mal, dass es viel leichter war, einen Hund glücklich zu machen als eine Frau.
Er ließ Candy alles untersuchen. Es gab hier Schafe, und zu dieser Jahreszeit konnten sie trächtig sein, aber Candy wusste, dass sie sie nicht jagen durfte. Keith setzte sich auf einen Felsbrocken, um die Schnürsenkel seiner Stiefel fester zu binden und seine Gamaschen anzuziehen. Auch wenn noch Frost herrschte, konnte es auf den Gipfeln schlammig sein. Zerstreut und mit halber Aufmerksamkeit – da er seine Route plante – bemerkte er ein Auto, das ihn dann doch ärgerte. Die rote Karosserie wirkte aufdringlich in der Landschaft, und es hätte nicht da stehen sollen. Er war der Meinung, dass Leute, die es nicht schafften, hier ohne Auto herzukommen, woanders wandern sollten. Er wusste, dass das unlogisch war, und das reizte ihn noch mehr.
Er fand, dass der Wagen irgendwie merkwürdig geparkt war. Als er Candy zurückrief, kam sie mit einem Stück Heidekrautwurzel im Maul den Pfad heruntergesprungen, die sie ihm zu Füßen legte. Dann sah sie ihn erwartungsvoll an. »Geh da weg!«, sagte er, als er auf das Auto zuging. Es war ganz dicht an den Felsen herangefahren und musste dabei beschädigt worden sein – Keith konnte sich allerdings nicht vorstellen, dass es nur beim achtlosen Parken so weit zur Seite gefahren worden war. Er betrachtete es von vorn und hinten. Die Nummernschilder waren abgeschraubt. Aha. Wahrscheinlich also gestohlen. Jemand, der eine Spritztour gemacht hatte? Aber es war unwahrscheinlich, dass man sich die Mühe machen würde, den Wagen hier oben zu verstecken. Vielleicht war es bei einem Einbruch benutzt worden, ein Fluchtwagen oder so etwas. Die Idee fand er ganz gut.
Candy beschnupperte alles, die Wurzel war vergessen. Sie war jetzt auf der Beifahrerseite und beschnüffelte mit erhobenem Schwanz und achtsam aufgestellten Ohren das Rad. Dann wurde sie plötzlich ganz steif, legte die Ohren an, der Blick war starr und aufmerksam. Sie hatte den Schwanz gesenkt, legte sich wie auf der Pirsch vorsichtig auf den Boden, sah unter das Auto und winselte leise. Keith fasste sie am Halsband und zog sie zurück.» Dummer Hund. Da unten wirst du doch ganz voll Öl.« Candy sah zu ihm hoch und lief auf die andere Seite des Wagens, den Körper immer noch vorsichtig an den Boden gepresst. Keith folgte ihr interessiert. Candy schlich zur Fahrertür, schnupperte prüfend, und ihr Winseln wurde zu einem leisen Knurren. Dann drückte sie ihre Nase gegen die dunklen Spritzer auf der Türschwelle, kratzte an der Tür und winselte.
Auf der Fahrerseite war nur schwer an die Tür ranzukommen, weil der Wagen so eng an der Felswand geparkt war. Keith probierte den Griff, und die Tür ging einen Spalt auf. Ein Geruch wie… ihm fiel zuerst nichts Vergleichbares ein – wie im Hinterhof einer Großstadt … wie ein … Es war der Gestank von Schweiß und Pflegeheim, der Station, wo seine Mutter gestorben war. Der Geruch nach Ammoniak und Zerfall ließ ihn zurückweichen, und Candy sprang sofort hinein und fing an, auf dem Boden vor dem Sitz herumzuwühlen. Keith packte sie an den dichten Haaren der Flanken und zog sie heraus. Sie winselte laut. Um ihre Schnauze herum waren dunkle Flecken. Im Auto konnte man kaum etwas erkennen, aber sie schienen den dunklen Flecken auf dem Armaturenbrett und am Steuerrad zu ähneln, und auch der Sitz war beschmiert und, als er näher hinsah, die Fenster ebenfalls. Es erinnerte ihn an den dicken, schwarzen Schlamm der Sümpfe und Tümpel mit stehendem Wasser auf den Höhen des Coldharbour Moors. War jemand in den Sumpf gefallen und dann zum Auto zurückgekommen, um sich sauber zu machen und die Kleider zu wechseln?
Er ging zur Beifahrerseite zurück und probierte diese Tür. Sie ging auf. Er schnauzte Candy an, die versuchte, an ihm vorbei ins Auto zu springen, und sah sich im Inneren um. Das Handschuhfach stand offen und war leer. Auch sonst war nichts im Wagen. Er fuhr mit der Hand über den Fahrersitz, er war feucht. Als er im Kofferraum nachsehen wollte, war der abgeschlossen. Ratlos sich am Kopf kratzend, machte er die Tür zu. Er musste wohl jemanden anrufen und die Sache melden. Aber die Berge blockierten auf allen Seiten die Signale für sein Telefon. Er würde den Weg ganz hinaufsteigen müssen, bis er hoch genug über den Felswänden und den steilen Seiten des Damms war und das Signal wieder empfangen konnte. Er ging los und pfiff Candy, damit sie ihm folgte. Sie rannte an ihm vorbei, sprang über die Felsbrocken und blieb dann stehen, um mit offener Schnauze und hängender Zunge zu ihm zurückzublicken. Es dauerte eine halbe Stunde, bis er oben war, und nach dem steilen Anstieg keuchte er heftig. Seine Stiefel waren schwer von der dunklen, torfigen Erde, die an ihnen klebte. Candy trug einen Stock und hatte noch genauso viel Energie wie zuvor.
Er sah auf seiner Karte nach und überprüfte seine Position mit dem Kompass, eigentlich mehr, um nicht aus der Übung zu kommen, als dass es nötig gewesen wäre. Ein Turmfalke zog seine Kreise am Himmel über ihm. Dann machte er sich auf und ging weiter über die Höhen, und Candy sprang voraus, lief in die Heide, verschwand und wartete dann, bis er sie einholte. Es war ein wunderschöner Tag zum Wandern.
Hull, Montag
Anna stellte ihre Tasche vorsichtig zwischen ihren Füßen ab. Sie spürte, dass die Blicke der Klofrau auf ihr ruhten. Sollte sie etwas zu der Frau sagen, um ihr zerzaustes Aussehen zu erklären, oder sollte sie einfach so tun, als sei alles normal? Wenn sie mit ihrem starken Akzent Englisch sprach, gab es meistens feindselige Reaktionen. Geh dorthin zurück, wo du hergekommen bist! Sie ließ Wasser über ihre Hände laufen und drückte flüssige Seife auf ihr Taschentuch. Sie musste sich herrichten, brauchte einen Platz, wo sie sich zurückziehen konnte, eine Kabine. Eine lange Schlange stand an, und sie schlurfte schrittweise und mit gesenktem Kopf voran. Hier würde sie niemand suchen. Überhaupt würde sie niemand suchen. Es war ein Zufall, nur ein Unfall, nur…
Eine Toilette wurde gespült, sie zuckte zusammen, spürte, wie ihr kalt und übel würde. Wenn sie hier bewusstlos wurde, würde jemand die Polizei rufen und dann… Bevor irgendjemand eine Bewegung machen konnte, drängte sie nach vorn, ging in die frei werdende Toilette und rempelte dabei die Frau an, die herauskam. Hinter sich hörte sie Stimmen. »Entschuldigung! Wer ist … ?« »Wir stehen doch hier an …!« Sie verriegelte die Tür und sank auf den Sitz, ihre Tasche zwischen den Füßen, und ließ den Kopf auf die Knie sinken, bis der Schwindel vorbei war. Sie war müde. So müde. Und sie hatte Hunger. Fort, fort, fort. Aber es war nicht so leicht. Sie wusste nicht, wohin sie gehen konnte. Ohne Geld, ohne Pass. Sie musste unbedingt die Sachen aus ihrem Zimmer holen. Sie konnte sie nicht dort lassen, jetzt nicht mehr, nach all der Arbeit und der Zeit und den Plänen.
Es kam ihr vor, als schwebe ihr Kopf frei über ihr, und alles, was sie hörte, schien aus großer Entfernung zu kommen. Sie war die letzten drei Nächte in der Stadt herumgelaufen – immer in Bewegung bleiben, immer weitergehen –, kauerte sich am Tag auf Parkbänken zusammen, nickte ein und glaubte, eine trügerische Wärme steige in ihr hoch, aber dann schreckte sie zusammen und wachte auf, weil sie von der Bank zu rutschen drohte. Als sie noch Geld hatte, war sie Bus gefahren, immer auf dem oberen Deck, weil sie von der Straße aus nicht gesehen werden wollte. Wenn dann richtige, wohlige Wärme ihrem Gesicht, den Füßen und Händen die Taubheit nahm, schlief sie ein, schrak plötzlich auf und merkte, dass sie allein war und Schritte die Treppe heraufkamen.
» … da drin? Ich habe gesagt, sind Sie …« Sie sprang auf, und die Kälte war wieder da. Es wurde an der Tür gerüttelt. Zuerst verstand sie nicht, was die Stimme sagte. Sie zitterte, holte tief Luft. Ruhig, ruhig. »Alles in Ordnung«, sagte sie und war erleichtert, dass ihre Stimme nicht stockte. »Mir ist nur ein bisschen schlecht. Im Magen.«
Sie hörte Stimmen und Schritte, konnte nicht verstehen, was sie sagten. Mit dem feuchten, seifigen Tuch wischte sie sich übers Gesicht und rieb so lange, bis es sich sauber anfühlte. Dann nahm sie ihren Schal ab, strich ihr Haar streng nach hinten und band den Schal wieder fest. Es gab keinen Spiegel. Aber jetzt fühlte sie sich ein bisschen besser. Sie nahm ihre Tasche und öffnete die Tür der Kabine. Sie spürte die Blicke aller wartenden Frauen auf sich ruhen und bemerkte, dass auch die Klofrau sie wieder beobachtete. Sie brachte ein Lächeln zustande. »Danke«, sagte sie. »Nur ein bisschen schlecht …«
Die Frau beachtete sie nicht. Als Anna die Tür hinter sich schloss, hörte sie die Stimmen: »… da hingehen, wo sie hergekommen sind…« Anna ging durch eine Möbelabteilung, wo Spiegel an den Wänden hingen und auf Frisierkommoden und an Kleiderschränken angebracht waren. Sie sah eine Frau mit einer zerknitterten Jacke und fleckiger Hose, deren zerzauste Haare unter einem Schal hervorsahen, und eine voll gestopfte Tasche hing an ihrem Arm. Sie blieb stehen und drehte sich um. Die Frau war dort, hinter ihr und vor ihr. Als sie immer schneller durch die Gänge lief, und die Frau sich umdrehte und abbog, folgte sie ihr, bis sie an ein Geländer stieß und nicht weiter konnte.
» Kann ich Ihnen helfen?«, fragte sie ein junger Mann im Anzug. Seine Mundwinkel waren nach unten gezogen, und die Nasenflügel blähten sich leicht. Ja! Hilf mir, hätte Anna gerne gesagt, dann merkte sie, dass er sie nicht einmal sah. Sie war nur Unrat, eine Belästigung, etwas, das man loswerden musste. Sie konnte ihre Kleider riechen, dumpf und ungewaschen. Plötzlich füllten sich ihre Augen mit Tränen, aber sie versuchte, sie zurückzuhalten. Er sah sie nicht an. Er hatte sich umgedreht und hielt Ausschau nach jemandem, der ihm helfen konnte.
» Ich wollte zum Ausgang.« Annas Stimme war nur ein Flüstern. Er streckte die Hand aus, um Anna in die richtige Richtung zu lenken, zog sie aber dann zurück. Stattdessen deutete er nur, und sie sah, dass sie sich gegenüber dem oberen Ende der Rolltreppe befand. Das Geländer war eine schützende Brüstung über der Treppe. Sie ging tastend an dem Geländer entlang und um die Ecke und hatte Angst zu fallen, denn sie traute ihren Augen nicht zu, dass sie den Weg für sie finden konnten.» Danke«, sagte sie leise.
Er folgte ihr und sah ihr nach, bis sie auf der Rolltreppe stand. Sie bemerkte, dass er zu einem Mann mit Schirmmütze und Achselschnur auf dem Hemd sprach, der sie hinunterbegleitete, ein, zwei, drei Stockwerke. Da lag der Ausgang vor ihr. Als sie weiterging, ließ der Anblick der Schirmmütze und der Achselschnüre ihre Beine zittern, bis sie die sichere Straße erreicht hatte.
Sie würde zu ihrem Zimmer zurückgehen müssen.