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Hull, Freitag

Die Frau war vor drei Wochen im Schlamm der Humbermündung gefunden worden, als sich bei Ebbe das Wasser zurückzog. Die Todesursache war unklar. Es gab Anzeichen dafür, dass sie geschlagen worden war, Blutergüsse, die im Abklingen begriffen waren und die darauf hinwiesen, dass sie wiederholt misshandelt worden war. Zeugen hatten sie spätnachts in der Nähe der Brücke gesehen, ihr auffälliger Mantel hatte sich ihnen in der eisigen Dunkelheit eingeprägt. Menschen, die von einer Brücke springen wollen, stehen oft eine Weile da und überdenken diese Möglichkeit, ihr Leben auszulöschen. Detective Inspector Lynne Jordan fragte sich, was die Frau an den rastlosen, wild bewegten Humber getrieben hatte. Aber ihr Interesse galt nicht dem Tod dieser Frau, sondern ihrem Leben.

Lynne Jordan suchte Schmuggelware, nicht das Übliche wie Alkohol, Tabak und Drogen, die an den Barrieren vorbeigeschleust wurden, die ihren Import verhindern sollten. Sie spürte einer tragischeren und viel problematischeren Schmuggelware nach. Soziale und politische Umwälzungen haben ihren Preis. Der naive Optimismus des Westens mag das Ende des »Reichs des Bösen« feiern, aber der Osten hat einen nüchterneren Blick. Dort gibt es einen Fluch. Mögest du in interessanten Zeiten leben. Die Volksgemeinschaften Osteuropas wurden von den Kräften der Veränderung zerrissen, die Reichtum, Korruption, Armut, Krieg und Tod mit sich brachten. Die Schmuggelware, hinter der Lynne her war, gehörte zum Treibgut dieser Umwälzungen.

Lynnes Aufgabe war es, in ihrem Revier die Frauen im Auge zu behalten, die illegal ins Land gekommen waren, oder die länger blieben, als ihr Visum erlaubte, und als Prostituierte arbeiteten. In London und Manchester gab es das Problem genauso wie in Glasgow: Frauen, die ins Land gebracht und dann sechs, sieben Tage in der Woche gezwungen wurden, endlos vielen Männern zu Willen zu sein.

Das Gewerbe breitete sich aus. Begleitagenturen boten überall im Land »eine Auswahl internationaler Mädchen« an, die in Wirklichkeit wie Sklaven gehalten wurden. Wenn eine Frau einen Pass hatte, wurde er ihr abgenommen. Mit ihrem Verdienst, der nur aus einem Bruchteil dessen bestand, was ihr Zuhälter für ihre Dienste verlangte, musste sie die Kosten für die Einschleusung nach England tragen und teuer für Unterkunft und sonstige Auslagen zahlen. Meist wurden die Frauen in Wohnungen gesperrt, durften nie ohne Aufsicht ausgehen, Sklavinnen aufgrund von Schulden und Angst. Sie waren jung, manche sehr jung – die Polizei hatte in Nordengland in einem der Häuser, die sie durchsuchte, elfjährige Mädchen gefunden –, und die meisten hatten zu große Angst vor den britischen Behörden, um Hilfe zu suchen, wenn sie es denn schafften, zu entkommen. Hull stellte Lynne vor ein interessantes Problem. Es war eine große Stadt mit einem wichtigen Hafen, hatte aber keine richtige Einwanderer-Gemeinde, in der Frauen sich verstecken oder versteckt halten konnten. Jedenfalls nicht, bevor die staatlichen Programme zur Verteilung der Asylsuchenden anliefen, die diese aus den überfüllten Zentren im Südosten holten und in den nördlichen Städten mit ihren reduzierten öffentlichen Mitteln – Liverpool, Manchester, Sheffield, Newcastle und Hull – abluden.

Die Hilfsorganisationen, die man eilig eingesetzt hatte, reagierten auf Lynnes Fragen vorsichtig oder feindselig. Michael Balit, der Koordinator ehrenamtlicher Helfer, der mit dem Stadtrat und einigen der Flüchtlingsorganisationen zusammenarbeitete, hatte ihr gesagt: »Das liegt nicht in meiner Verantwortung. Ich habe keine Zeit, nach Striptänzerinnen oder Kindermädchen zu suchen, die ihr Einkommen aufbessern wollen.« Er fing Lynnes Blick auf. »Hören Sie, Prostituierte können schon für sich sorgen. Es ist eine Angelegenheit für die Polizei, es ist Ihre Sache. Halten Sie mich auf dem Laufenden, was da los ist. Informieren Sie mich. Ich lasse Sie wissen, wenn ich auf etwas stoße, das wichtig sein könnte. Wenn Sie mich jetzt bitte entschuldigen …«

Die Frau war sehr jung gewesen. Sie wurde im alten Hafenviertel in einem entsetzlichen Zustand gefunden und von einem der Mitarbeiter der Flüchtlingshilfe in die Unfallstation des Krankenhauses gebracht. Jemand vom Krankenhaus hatte die Polizei angerufen, aber die Frau sprach kaum Englisch und stand unter Schock, sodass nur sehr wenig von dem herauskam, was ihr passiert war. Lynne hatte sich das Band angehört, das ein umsichtiger Kollege aufgenommen hatte, als sie im Krankenhaus mit ihr sprachen. Obwohl sie durchaus willig und sogar darauf erpicht schien, mit ihnen zu reden, hatte etwas sie geängstigt, und sie war weggelaufen. Eine Polizistin, selbst eine junge Frau, hatte zu Lynne gesagt: »Sie kam mit uns zurecht. Mit mir. Aber sie schien ein bisschen …« Sie zeigte auf ihren Kopf und machte eine Geste, die geistige Verwirrung andeutete. »Sie sprach immer wieder über Katzen. Der Arzt, der sie untersuchte, sagte, sie sei vielleicht vergewaltigt worden, deshalb gingen wir sehr behutsam mit ihr um. Aber sie hatte Schmerzen, also holte ich wieder die Schwester, und als ich zurückkam, war sie weg.« Die Beamtin sagte, die Frau habe ein leicht orientalisches Aussehen gehabt, rundes Gesicht und hohe Wangenknochen, die für den Fernen Osten typisch sind. Ihr Haar war tiefschwarz und ihre Haut unter der bläulichen Färbung nach Eintreten des Todes blass. Die Überwachungskameras hatten sie aufgenommen, als sie das Krankenhaus allein verließ. Sie war am Eingang stehen geblieben und hatte sich umgesehen, deshalb konnte die Kamera ihr Bild einfangen. Die Schultern hochgezogen, war sie in den Mantel gehüllt, den der Mitarbeiter der Flüchtlingshilfe ihr gegeben hatte, als er sie zum Krankenhaus fuhr. So wurde sie zum letzten Mal gesehen, bis dann ein Spaziergänger ihre Leiche im Schlamm der Flussmündung inmitten einer Schar gefräßiger Möwen fand.

Und die Möwen und die Wellen hatten ihre Arbeit getan. Das Gesicht der Frau war verwüstet. Nur ihr zerschlagener Körper war geblieben, das rabenschwarze Haar, der Mantel mit seinem Weihnachtsrot, der ein unheilvoller und unpassender Hinweis auf den letzten Ort war, die Brücke, auf der sie verlassen dagestanden hatte – und die Tonbandaufnahme. Roy Farnham, der die Ermittlung in dem Fall leitete, hatte das Band an Lynne geschickt mit der Bitte um jede hilfreiche Information, die sie herausfinden konnte. »Wir wissen noch nicht einmal, ob wir es mit einem Mord zu tun haben«, hatte er gesagt, als Lynne mit ihm sprach. Der Obduktionsbericht war nicht schlüssig, die Todesursache nicht festgestellt, aber die tote Frau war im Anfangsstadium schwanger gewesen.

Das Wenige, das Lynne über die Tote wusste, waren Vermutungen. Ihre Nationalität – sie sprach Russisch – und möglicherweise ihren Namen. Zweimal sagte sie auf der Bandaufnahme etwas, das wie »Katja« klang, aber die Tonqualität war schlecht. Die Aufnahme ließ vermuten, dass sie als Prostituierte gearbeitet hatte, aber bis jetzt hatte Lynne keine weiteren Informationen über die Frau herausgefunden.

Außer wenn ihre Anfrage zu dem Band ein Ergebnis zeitigte. Vor zwei Monaten hatte Lynne an einem Seminar über die Entwicklung neuer analytischer Methoden teilgenommen. Diese Seminare wurden regelmäßig abgehalten, und sie fand es von Nutzen, sich über die neuesten technischen Hilfsmittel auf dem Laufenden zu halten. Als sie das Katja-Band in die Hände bekam, hatte sie sich sofort an das Seminar erinnert, bei dem eine Frau von einer der Unis in South Yorkshire um Auftraggeber warb. Sie hatte über die Möglichkeiten gesprochen, wie man Tonbandaufnahmen, die unverständlich schienen, von Hintergrundgeräuschen befreien konnte, und – hier war Lynne besonders aufmerksam – wie die Nationalität eines Sprechers aufgrund seines Akzents festgestellt werden konnte. Die Frau hatte insbesondere hervorgehoben, dass die regionale und nationale Herkunft von Asylbewerbern ermittelt werden konnte, und Lynne hatte sofort begriffen, wie man das bei ihrer eigenen Arbeit verwenden könnte.

Zunächst war sie von der Frau nicht sehr beeindruckt gewesen. Sie schien etwas eingeschüchtert von der Skepsis der anwesenden Polizeibeamten, einer Skepsis, die sich bestätigt hatte durch eine lange Reihe von Pannen im Gerichtssaal und durch» Experten«, deren Untersuchungsergebnisse zum gleichen Material sich deutlich widersprachen. Aber Lynne interessierte sich für die Frau, als sie von dem Erfolg berichtete, den sie in dem Fall eines obszönen Anrufers hatten. Weil er unvorsichtig genug war, eine Nachricht auf einem Anrufbeantworter zu hinterlassen, konnte er verurteilt werden. »Und Sie haben ihn aufgrund der Nachricht gefunden?«, fragte einer aus der Gruppe.

» O nein«, hatte die Frau geantwortet. »Wir haben zwar dazu beigetragen, dass er verurteilt wurde. Aber ich glaube, er wurde aufgrund der Telefonnummer aufgespürt, die er hinterließ.« Als sie von ihren Notizen aufschaute, glänzten ihre Augen belustigt. Lynne hatte sich ihren Namen aufgeschrieben – Wishart, Gemma Wishart. Sie hatte ihr das Katja-Band geschickt, als sie es von Farnham bekommen hatte, und hoffte sehr, dass Gemma wenigstens herausfinden würde, woher die Frau kam.

Und das erinnerte sie daran, dass der Bericht heute eintreffen sollte. Sie sah bei den Posteingängen nach, aber keine Spur davon. Sie rief Wishart unter ihrer Durchwahl an, aber eine Sekretärin antwortete, Wishart sei nicht da. Lynne sagte ihr, wer sie war, und fragte nach dem Bericht. »Ich sehe mal nach, ob ich jemand anderen finde, der mit Ihnen sprechen kann«, sagte die Sekretärin unsicher und ließ Lynne mit ungeduldig trommelnden Fingern warten, bis endlich jemand ihren Anruf annahm.

» Hier ist Dr. Bishop«, sagte eine Stimme. »Tut mir Leid, dass Sie warten mussten. Ich bin eine Kollegin von Gemma Wishart. « Sie fing an, über eine Autopanne zu reden, und Lynne musste sie unterbrechen. »Tut mit Leid«, fing Bishop noch einmal an. »Wir sind durch Gemmas – Dr. Wisharts – Fehlen in Verzug. Aber ich kann Ihnen die Einzelheiten des Berichts jetzt durchgeben, wenn Sie möchten.« Lynne machte sich Notizen, während die andere Frau sprach. Katja stammte laut Wisharts Bericht aus Ostsibirien.

» Wie sicher ist sie?« Lynnes geografische Kenntnisse waren zwar nicht sehr exakt, aber sie hatte das Gefühl, dass »Ostsibirien« ein Gebiet umfasste, das beträchtlich größer war als die britischen Inseln. »Kann sie es genauer eingrenzen?« Wenn sich das Gebiet näher bestimmen ließ, konnte man Katja vielleicht identifizieren, vorausgesetzt, ihre Familie oder ihre Freunde hatten sie als vermisst gemeldet.

» Sie werden mit Gemma sprechen müssen, wenn Sie ins Detail gehende Fragen haben, aber« – Lynne hörte, wie Seiten umgeblättert wurden – »sie schreibt: ›Der Akzent passt zu Nordostsibirien. ‹« Sie las einige technische Details über Vokale und stimmlos und Intonation vor. Lynne gab nur kurze Antworten, während sie darüber nachdachte. Es schien, dass man mit der Information nicht weiterkommen würde. Sie unterbrach die Frau, als sie gerade über akustische Profile sprach, bedankte sich, und das Gespräch ging mit dem Versprechen zu Ende, dass der vollständige Bericht an diesem Tag mit der Post rausgehen würde.

Sie legte die Katja-Akte zur Seite, über die sie weiter nachdenken konnte, sobald der Bericht eingetroffen war, also wahrscheinlich am Montag. Es war ärgerlich. Akademiker schienen nicht die gleichen Zeitmaßstäbe zu haben wie andere Leute.

Seit »Katjas« Tod war schon fast ein Monat vergangen, und es war eher unwahrscheinlich, dass sie über die wahre Identität der Frau noch Informationen erhalten würden. Wenn der endgültige Obduktionsbericht käme, würde ihr Tod vielleicht offiziell als Selbstmord eingestuft werden, und sie und ihr ungeborenes Kind würden in einem namenlosen Grab in einem fremden Land liegen. Für alle Zeit in fremder Erde… wo? Da sie keine klare Todesursache hatten und sie nicht identifiziert war, konnten die ermittelnden Beamten nur sehr wenig tun.

Sheffield, Freitagabend

Als Roz nach Hause kam, war es schon dunkel. Sie wohnte in der Oststadt, nicht in einem teuren Vorort. In Pitsmoor gab es Bäume und ruhige Straßen, Zeilen mit Reihenhäusern und große Häuser mit Gärten. Burngreave Cemetery, der Friedhof, der kleine Park und ein Naherholungsgebiet boten Platz und Grün zwischen den Geschäften, Häusern und Straßen. Aber es war eine heruntergekommene Gegend. Einige Schaufenster waren mit Brettern vernagelt. Wegen der niedrigen Grundstückspreise ließen die Hausbesitzer ihre Häuser verkommen. Als die Straßen ungepflegter wurden, erschienen nach und nach Graffiti an Häuserwänden und Bushaltstellen. Zeichen der Erneuerung, die sich in der Stadtmitte durchzusetzen versuchten, gab es hier nicht.

Pitsmoor mit seiner bunt gemischten und sich ständig verändernden Bevölkerung gefiel ihr. Und als sie das Haus besichtigt hatte, hatte sie sich sofort dafür begeistert. Sie mochte die viereckigen Erker des Doppelhauses, die hohe Ligusterhecke, die Brombeeren und ausladenden Rosenbüsche, die Steinlöwen, die als Wächter auf den Stufen saßen, die große Diele und die Holztreppe, die riesige Küche mit dem Steinplattenboden und dem alten Herd, das Labyrinth des Wintergartens und der Schuppen, die sich bis zur Doppelgarage hinzogen und sie daran erinnerten, dass Pitsmoor früher einmal ein Ort war, wo die Wohlhabenden oder mäßig Reichen der Stadt lebten. Sie sah sogar das Nachbarhaus als einen Vorteil an. Es war ein Haus wie das, in dem sie wohnte, das aber zu lange leer gestanden hatte, mutwillig zerstört worden war und jetzt zerfiel.

Alle hatten gesagt, Roz müsse verrückt sein, als sie das Haus kaufte. Sie war damals seit drei Monaten in Sheffield und wusste, dass sie eine Weile bleiben würde. »Aber doch nicht Pitsmoor!«, sagten sie, und: »Warte, bis du Zeit gehabt hast, dich umzusehen.« Aber das Haus hatte Roz an das Haus erinnert, wo sie mit Nathan gewohnt hatte, und Pitsmoor ähnelte wenigstens ein bisschen dem Ort, den sie verlassen hatte. Sie war zufrieden.

Sie stand an der Hintertür und sah auf das verlassene Haus hinüber. Ein Baum wuchs aus dem Erkerfenster heraus, und Efeu und altes Gras hingen wie Fransen über die Traufe. An Sommerabenden konnte sie im Garten sitzen und die Tauben beobachten, die aus den Löchern im Dach, wo Ziegel fehlten, heraus- und hineinflogen, – das gemeinsame Werk von Unwettern, Abnutzung und Kindern der Gegend. Sie fröstelte. Es wurde kalt. Der Mond stand schon hoch am Himmel, sie hatte noch zu tun und ging hinein.

Sie legte Brot zum Toasten in den Grill und machte eine Dose Bohnen auf. Zum Kochen hatte sie keine Lust. Seitlich gegen den Herd gelehnt, aß sie einen Löffel kalte Bohnen aus der Dose, während sie wartete und ein Auge auf den Toast hatte, damit sie den richtigen Moment zwischen hellbraun und schwarz erwischte. Ob Gemma sie wohl anrufen würde, oder ob sie selbst versuchen sollte, sie zu erreichen? Sie erinnerte sich an die Bandaufnahme, an der Gemma gearbeitet hatte. Die Stimme hatte emotionslos geklungen, wahrscheinlich, weil die Frau sich darauf konzentriert hatte, die richtigen Worte zu finden. Aber sie wusste … Mist! Der Toast! Sie drehte das Gas ab. Er war gerade noch zu retten. Sie kippte die Bohnen in einen Topf, stellte ihn auf die Kochstelle und einen Teller auf den Tisch und ging mit dem Toast zur Spüle hinüber, um das Verbrannte abzukratzen.

Zum Essen setzte sie sich an den Küchentisch und starrte das Fenster an, das jetzt ein Viereck in der Dunkelheit war. Freitagabend – und sie saß hier allein in ihrem Haus, aß lauwarme Bohnen auf Toast, plante, was sie diesen Abend arbeiten wollte, und war glücklich und zufrieden. Ihre Studentenzeit schien erst kurz zurückzuliegen, als Freitagabend bedeutet hatte, in Clubs zu gehen, mit ihren Freunden die Stadt unsicher zu machen, Partys zu besuchen, Spaß zu haben. Vielleicht wollte sie mit Luke versuchen, diese Zeit wieder aufleben zu lassen.

Dann war das Leben mit Nathan gekommen. Freitagabend bedeutete Wochenende, eine besondere Zeit, die sie beide zusammen oder mit Freunden verbringen wollten … Und dann die Einsamkeit, als er krank geworden war. Ihre Freunde hatten sich bemüht, aber viele hatten sich bald abgesetzt. Sie wurden nicht damit fertig, und am Ende ging es ihr genauso. Sie drehte ihren Ehering am Finger. »Man findet heraus, welche Freunde wirklich Freunde sind«, hatte ihre Mutter gleichmütig gesagt.

Und jetzt war sie eine erfolgreiche Wissenschaftlerin mit Forschungsaufträgen, auf dem Weg nach oben, und Freitagabend war einfach ein Abend wie jeder andere – ein Abend ohne die unmittelbare Beanspruchung durch den folgenden Arbeitstag, also einer, der genutzt werden konnte, um mit langfristigen Projekten weiterzukommen. Zum Beispiel mit ihrem Buch, das den phantasielosen Titel Eine Einführung in die forensische Phonologie trug. Sie sammelte zwei übrig gebliebene Bohnen vom Teller auf. Vielleicht könnte sie das fünfte Kapitel durchgehen. Sie leckte die Tomatensoße von den Fingern, wusch den Teller und den Topf ab und stellte sie zum Abtrocknen hin, dann holte sie ihre Aktentasche und ging in das Zimmer nach unten, wo sie normalerweise arbeitete.

Ligusterzweige pressten sich gegen das Erkerfenster und hielten das Licht ab. Das Zimmer war kühl und dunkel wie eine Höhle, ein riesiger Spiegel reflektierte das Licht bis in die Winkel. Der Spiegel stammte vom Vorbesitzer. Er war alt, der vergoldete Rand abgestoßen, das Glas fleckig. Das Spiegelbild ließ das Zimmer aussehen, als befände es sich unter Wasser, und das matte Licht gab allem weichere Umrisse. Roz stand an einem Ende des Tisches und sah ihr Gesicht weiß und verwischt im Halbdunkel. Ihre Goldrandbrille warf das Licht zurück, und ihre Augen dahinter waren nur undeutlich zu erkennen. Sie nahm sie ab. Eigentlich brauchte sie sie nicht. Dann löste sie ihr Haar und ließ es über die Schultern fallen. Die Schäden im Spiegelglas ließen das Licht zittern wie die Flamme einer Kerze, und ihr Spiegelbild sah aus, als schwämme sie mit blassem Gesicht und dem hellen Haar, das in den braunen Schatten trieb, durch tiefes Wasser. Rosalinde. Trügt nicht der Schein, so bist du meine Rosalinde. Das hatte Nathan immer zu ihr gesagt, sie konnten sich nur Mozart auf dem winzigen Kassettenrekorder leisten, und der Gasofen kämpfte gegen den Luftzug der undichten Fenster und der klappernden Türen ihrer Wohnung an. Du bist meine Rosalinde.

Arbeit, sie hatte Arbeit. Sie schaltete die Schreibtischlampe an, und ihr Lichtschein vertrieb die Schatten im Spiegel. Von der Uni hatte sie sich einen der Laptops mitgebracht, der leistungsfähiger war als ihr eigener. Sie wollte die neue Software ausprobieren, die Luke empfohlen hatte, und auch am Buch arbeiten. Sie schaltete den Laptop ein, und während er hochfuhr, schaute sie ihre Disketten durch. Als sie die abgespeicherten Dateien sah, merkte sie, dass es nicht der Laptop war, den sie sonst mit nach Haus nahm, sondern der neue, einer, den Gemma benutzte. Sie hatte geglaubt, Gemma hätte ihn nach Manchester mitgenommen, aber sie musste wohl den älteren haben. Vielleicht hatte sie die Verantwortung für das teurere Gerät nicht übernehmen wollen. Roz stellte sich vor, was Joanna sagen würde, wenn es gestohlen oder beschädigt würde, und fand, dass Gemma die richtige Entscheidung getroffen hatte. Besorgt dachte sie an die Sicherheit bei sich im Haus. Einbrüche waren keine Seltenheit in Pitsmoor. Allerdings war das heutzutage auch anderswo nichts Ungewöhnliches. Gemma hatte vor zwei Wochen ihre Stereoanlage eingebüßt, als in ihre Wohnung eingebrochen worden war. Roz beschloss, den Laptop im Verschlag unter der Kellertreppe einzuschließen, bevor sie zu Bett ging.

Gemma. Seit ihrer Unterhaltung mit Luke … Gemma hätte irgendwann im Lauf des Tages etwas hören lassen oder heute Abend anrufen sollen, um mitzuteilen, dass sie gut wieder zurückgekommen war. Joanna würde wissen wollen, wie das Meeting in Manchester gelaufen war. Vielleicht hatte sich Gemma mit Joanna in Verbindung gesetzt – mit dem Drachen in der Höhle, so nannte Luke sie manchmal. Roz überlegte, ob sie anrufen sollte. Aber Joanna hatte erwähnt, dass sie am Abend ausgehen wolle. »Ich muss mich beeilen. Ich gehe heute Abend ins Konzert.« Joanna wollte wahrscheinlich nicht gestört werden.

Luke. Luke hatte bestimmt etwas gehört. Sie wählte seine Nummer, aber der Anrufbeantworter war dran. Auch Luke schien ausgegangen zu sein. Sie hielt das Telefon ans Ohr und dachte nach. Dann wählte sie, ohne sich viel davon zu versprechen, Gemmas Nummer. Nichts. Aber sie würde ja Joanna morgen Abend sehen. Sie verdrängte das Problem und wandte sich wieder dem Laptop zu. Nach und nach nahm die Arbeit sie in Anspruch, und das Problem mit Gemma trat in den Hintergrund. Die Stunden vergingen unbemerkt, während sie in einem Fleck gelben Lichts im Dunkeln saß und die Zeilen über den Bildschirm scrollte.

Hull, Samstag, 9 Uhr

Lynne Jordan saß in Roy Farnhams Büro und fragte sich, ob sie sauer sein oder sich freuen sollte, dass man sie tatsächlich gerufen hatte. Schließlich entschied sie, dass sie erfreut war. Als sie ankam, hatte niemand sie richtig unfreundlich behandelt. Es war eher so, dass Dinge, über die man sie hätte unterrichten sollen oder die ganz klar oder auch eventuell zu ihrem Verantwortungsbereich gehörten, aus Mangel an Interesse einfach nicht an sie weitergegeben wurden. Aber Michael Balits Einstellung war nicht ungewöhnlich. Prostituierte waren eben (nur) Prostituierte, so schien man zu argumentieren, und manchmal kamen sie um. Illegale Einwanderer waren illegale Einwanderer, und einige von ihnen kamen eben auch um. Lynne erinnerte sich an ein Gespräch bei einem Abendessen, als die Frau eines Kollegen sich empört über einen jungen Mann geäußert hatte, der sich, auf dem Dach eines Eurostar versteckt, ins Land hereinschmuggeln wollte und dabei einen elektrischen Schlag erlitten hatte. »Er belegt jetzt ein Bett auf der Intensivstation«, hatte die Frau, eine Krankenschwester, gesagt. »Jemand anders hätte dieses Bett nutzen können. Das macht mich wütend.« Lynne hatte überlegt, was die Frau glaubte, wie man mit dem schwer verletzten Mann hätte verfahren sollen. Aber sie fragte nicht. Die Antwort wäre wahrscheinlich deprimierend gewesen.

Farnham fürchtete, dass sie einen Prostituiertenmörder in ihrem Gebiet hatten, einen, der die Straße säubern wollte, oder einen, der gern Frauen ermordete und fand, dass Prostituierte die leichteste Beute waren. Und wenn die beiden ersten Opfer illegal eingewandert waren, Frauen in der Situation, die Lynne gerade zu überwachen begann, wie viel leichter war es dann wohl vorher gewesen, sie zu schnappen und zu töten? »Wie viele Tote hat es schon gegeben?«, fragte sie.

» Das ist das Problem«, sagte Farnham. »Bis zu diesem Fall ist das unklar. Da wäre die Frau von der Humbermündung, die Sie gerade zu identifizieren versuchen …« Katja, ergänzte Lynne in Gedanken. »… und dann war da eine oben an der Küste bei Ravenscar. « Lynne hörte zu, als er über die Einzelheiten berichtete. Eine Frauenleiche war vor etwa zwei Monaten unter den steil abfallenden Klippen von Ravenscar gefunden worden, wo die Flut sie auf den Kiesstrand gespült hatte. Lynne überflog den Bericht und schaute die Fotos an. Die Frau war klein, ein Meter siebenundfünfzig, und dünn gewesen. Sie hatte eine Tätowierung auf der linken Hand, ein Spinnennetz, das sich wie ein Spitzenarmband um ihr Handgelenk schlang, das noch jung und dicklich aussah. An Armen und Oberschenkeln hatte sie Nadeleinstiche, die Tätowierungen der Heroinsüchtigen. Der Pathologe hatte ihr Alter auf siebzehn geschätzt. Ihr Körper war von der See rein gewaschen, im Haar und an den Beinen war Seetang hängen geblieben, und die donnernde Brandung hatte sie zerschlagen. Sie hatte einen Schädelbruch, ihr Gesicht war verunstaltet, der Mund eingeschlagen. Man konnte sich die jungen Gesichtszüge der Leiche, die übrig war, noch vorstellen, was aber mehr verstörte, als wenn sie völlig zertrümmert gewesen wäre. Sie war eines Sonntagmorgens von einem Spaziergänger gefunden worden, der auf einem Pfad an der Steilküste entlangging, um auf das Meer hinunterzusehen.

Man konnte sie nicht identifizieren, aber aus den Zähnen ließ sich schließen, dass sie aus Russland war. »Russin, kein Beleg des Ankunftsdatums. Sie glauben, dass sie als Prostituierte arbeitete. Das sind zu viele Parallelen«, sagte Farnham. »Haben Sie etwas im Umfeld der Straße gehört?«

Lynne hatte nichts mitbekommen. »Ich werde mich umhören«, sagte sie.

» Die Frauen wissen meistens, was läuft«, sagte er. »Und Sie versuchen jetzt, die Frau von der Humbermündung zu identifizieren? Gibt es Fortschritte?«

» Ich versuche, ihren Herkunftsort näher zu bestimmen«, sagte Lynne. »Vielleicht ist sie als vermisst gemeldet worden.« Sie erklärte die Sache mit dem Band und Gemma Wisharts überfälligem Bericht.

» Okay«, sagte er. »Halten Sie mich auf dem Laufenden.« Er senkte einen Moment den Blick. »Eventuell haben wir noch eine.« Er erzählte ihr von der Frau, die am Vortag im Hotel gefunden worden war. Noch eine Frau ohne Gesicht. »Aber wir haben die Todesursache. Sie ist erwürgt worden. Wir sind Freitagmittag angerufen worden.«

» Wissen Sie, wann sie ermordet wurde?« Sie, nicht wir. Lynne achtete immer darauf, wie sie sich ausdrückte. Sie gehörte nicht zur Mordkommission und wollte vermeiden, dass irgendjemand denken könnte, sie wolle anderen ins Handwerk pfuschen.

» Irgendwann am Donnerstagabend.«

» Und man hat sie erst um die Mittagszeit gefunden? Wieso denn das?«

Farnham schüttelte den Kopf. »Es ist kompliziert«, gab er zu.» Die Leiterin des Hotels, eine gewisse Celia Fry, versuchte, ein Zimmermädchen aufzufinden, das verschwunden war. Laut Fry waren am Freitagvormittag eigentlich nicht genug Reinigungskräfte da. Das Mädchen fing also an, die Zimmer zu putzen. Später suchte Fry nach ihr, weil die Zimmer oben nicht geputzt waren, und sie fand Staubsauger und Wäschekorb mitten im Flur, aber von der Frau keine Spur. Darüber ärgerte sie sich und fing an, sich umzusehen, und da fand sie das Dornröschen in der Badewanne.«

» Und das Zimmermädchen?«

» Keine Spur von ihr. Ich dachte, dass Sie uns vielleicht dabei helfen könnten.« Er warf ihr einen Blick zu. »Sie erscheint nicht in der Buchführung des Hotels, und die Leiterin versucht, so zu tun, als gäbe es sie gar nicht. Aushilfe, Studentin, solche Ausreden. Ich glaube, sie wünscht, sie hätte einfach nichts von ihr gesagt. «

» Glauben Sie, dass die Frau ohne Arbeitsgenehmigung beschäftigt gewesen war?« Putzen war eine Arbeit, die meist nicht sehr geregelt ablief. »Ich werde mehr Informationen brauchen.«

» Ich habe ihr gesagt, dass sie innerhalb der nächsten Woche eine Überprüfung sämtlicher Arbeitsabläufe und der Buchführung zu erwarten hätte. Das hat ihrer Erinnerung ganz prima auf die Sprünge geholfen.« Farnham grinste und sah in der Akte nach. »Der Name ist Anna Krleza. Ungefähr zwanzig, etwa ein Meter fünfundfünfzig groß. Schulterlanges dunkles Haar. Laut Fry hat sie erst seit einer oder zwei Wochen im Hotel gearbeitet. Sie sollte ihre Unterlagen für Kranken- und Rentenversicherung innerhalb von ein paar Tagen bringen. Fry sagte, sie sei bereits misstrauisch geworden wegen der Verzögerung.« Er sah Lynne mit skeptisch hochgezogener Augenbraue an. »Ich suche sie. Aber Sie haben die richtigen Kontakte.« Er zog noch einen Hefter auf dem Tisch zu sich herüber. »Wissen Sie irgendetwas über eine Firma, die sich Angel Escorts nennt?«

» Glauben Sie, dass sie von einem Kunden ermordet wurde?« Er gab keine Antwort, sondern wartete ab, bis sie seine Frage beantwortet hatte. »Ich kenne keinen Begleitservice, der sich Angel nennt, jedenfalls nicht in dieser Gegend. Aber viele dieser Agenturen arbeiten heutzutage übers Internet. Im Grunde behaupten sie, dass sie nur die Kontakte herstellen – die Mädchen geben ihnen die Informationen über sich, und die Agentur gibt sie an die Kunden weiter.« Sie zuckte die Schultern. Die Internetseiten mit verkäuflichem Sex boten offenkundig Prostituierte an, aber es war schwierig, sie zu finden. Alle vom Cyberspace oder einer konkreten irdischen Basis aus operierenden Anbieter hielten sich mit vorsichtigen Formulierungen gerade noch innerhalb der gesetzlichen Grenzen, damit sie nicht die Polizei auf sich aufmerksam machten.

» Hm«, antwortete Farnham unverbindlich.

Lynne fragte nach: »Warum glauben Sie, dass sie im Geschäft war?«

» Das tue ich gar nicht«, sagte er. »Aber ich denke, möglich wäre es gewesen. Das Blenheim deutet ja in diese Richtung. Und sie hat etwas Besonderes getragen, so eine Art Korsett mit Spitzen, wie sie bei diesen Fesselungspraktiken üblich sind. Und das Zimmer war nicht für eine Frau reserviert, sondern ein Mann buchte am Abend über Telefon für eine Person. Ein Handelsvertreter, anscheinend.« Er sah noch einmal in seinen Notizen nach. »Sein Name war Rafael. Mit ›f‹, nicht ›ph‹. Er sah Lynnes fragenden Blick. »Noch kein Glück gehabt. Er hat sich im Hotel eingetragen, nur Gekritzel. Wir lassen es überprüfen, aber ich glaube, es sagt überhaupt nichts aus. Die Telefonnummer gibt es nicht, und er hat keine Autonummer angegeben. Er hat sich ganz normal eingetragen, bezahlt – sie machen das so, wenn sie frühmorgens wegwollen – und ist von niemandem mehr gesehen worden.« Er rieb sich mit dem Zeigefinger die Nasenwurzel.» Jedenfalls, der Name, Angel Escorts, Rafael …« Er sah Lynne an. »Es gibt einen Erzengel, der Rafael heißt.« Lynne wusste das. Aber sie war überrascht, dass Farnham das wusste.» Der Witz eines Freiers, oder der eines Mörders? Oder läuft das aufs Gleiche hinaus?« Er runzelte die Stirn. »Wir haben diese Karte gefunden.« Er schob sie zu Lynne hinüber. Sie betrachtete sie. Internationale Frauen. Deshalb meinte Farnham, sie kenne vielleicht die Agentur. Sie hielt den Blick auf die Karte gesenkt und überdachte die Möglichkeiten, während sie ihm zuhörte. Weder Adresse noch URL. Nur eine Telefonnummer.

» Die Telefonnummer ist die eines Mobiltelefons«, kam Farnham ihrer Frage zuvor. »Wir warten noch darauf, dass wir Informationen zum Standort bekommen, damit wir wenigstens herausfinden können, von wo telefoniert wurde. Bis jetzt haben wir nichts. Wir müssen sie identifizieren.«

Sie wollte ihn gerade fragen, wie weit sie damit gekommen seien, als er ein Foto über den Tisch schob. Sie schaute es an, wandte den Blick ab und betrachtete es dann genauer. »Mein Gott.«

Farnham nickte. »Er hat sie furchtbar zusammengeschlagen.« Lynne sah das Foto und das verwüstete Gesicht der Frau an. Der Körper war klein und schlank. Das Haar, das von dem Gesicht zurückgekämmt war, war lockig. Lynne versuchte, sich die Gesichtszüge vorzustellen, die so völlig ausgelöscht waren, und die Gesichter toter Frauen aus der Vergangenheit tauchten in ihrer Erinnerung auf. Und die namenlosen, toten Frauen, die sie in letzter Zeit gesehen hatte. Die Frau in Ravenscar, Katja und jetzt… in Gedanken hörte sie Farnhams Stimme. Dornröschen.

Sheffield

Am Samstagabend stand Roz am Eingang des Wohnblocks, in dem Joanna wohnte. Das Gebäude war niedrig, drei Stockwerke, und lag nicht direkt an der Straße. Die Vorderseite zeigte auf den Park und die Rückseite auf einen bewaldeten Hügel. Eine Insel ländlicher Abgeschlossenheit mitten in der Stadt. Roz fragte sich manchmal, wie Joanna es sich leisten konnte, mit dem Gehalt einer Akademikerin hier zu wohnen. Sie klingelte, und als etwas Unverständliches aus der knackenden Sprechanlage ertönte, sagte sie ihren Namen. Dann straffte sie die Schultern und stieß die Tür auf. Warum sie zu dieser Party eingeladen worden war, wusste sie nicht, und sie fand, dass Joannas Partys sowieso eine Nervenprobe waren. Mit Luke hatte sie sich über die Gründe der Einladung unterhalten, als sie am Freitag von der Arbeit wegging. »Du wirst Unterhalterin sein«, sagte er, ohne von seinem Bildschirm aufzusehen. »Nimm deine schicksten Spitzenhöschen mit.«

Na vielen Dank auch, Luke! Sie stand vor der Wohnungstür, und Joanna begrüßte sie mit einem Küsschen, was sie zu anderen Zeiten nie tat. Nach einem kurzen Blick auf das Etikett nahm sie den Wein, den Roz mitgebracht hatte. Wein mitzubringen, war wahrscheinlich ein Fauxpas, überlegte Roz, während sie und Joanna nichts sagende höfliche Floskeln austauschten. Joanna trug ein schwarzes Kleid von untadeliger Eleganz und sah wunderschön aus. Roz sagte ihr dies, und einen Augenblick lag ein Ausdruck echter Freude auf Joannas Gesicht. »Wir sind hier drin«, sagte sie und führte Roz in das Wohnzimmer. Roz beneidete Joanna um diesen Raum mit den riesigen Fenstern, die die ganze hintere Wand einnahmen. An einem Nachmittag vor Weihnachten war sie einmal hier gewesen, als der Arts Tower geschlossen war, um einige Notizen für das Budget-Meeting durchzugehen. Dabei hatte sie den winterlichen Sonnenuntergang beobachtet. Die Sonne, ein orangeroter Feuerball, schien durch die Bäume und färbte die Wolken grau und leuchtend rot.

Roz spürte den weichen Teppich unter ihren Füßen, als sie durch den Raum ging, nickte ein oder zwei bekannten Gesichtern zu und folgte Joanna zu einer kleinen Gruppe von Gästen, die eines der Bilder bewunderten. Joanna stellte sie schnell allen vor. Mark Bell war da, den Roz vom Sehen kannte. Er war ein einflussreiches Mitglied des Finanzierungskomitees, einer der neuen Sorte Akademiker mit guten Beziehungen zur Industrie.» Und das ist Petra, Marks Frau«, fuhr Joanna fort. »Ich glaube, du kennst Jim noch nicht, Jim Broadbent. Jim arbeitet bei Ashworth Lawrence.« Eine der größten Rechtsanwaltskanzleien in South Yorkshire. Roz kannte den Namen, ein weiterer Mann mit viel Einfluss sowohl in der juristischen als auch der akademischen Welt. Sie fragte sich, ob Joanna eigentlich Leute kannte, die weiter nichts waren als Freunde. Vermutlich war es heute Abend die Rolle von Roz, alle diese Gäste, deren Einfluss sich über die Universität hinaus erstreckte, von der Law-and-Language-Gruppe zu überzeugen.

» Und vielleicht kennst du Sean Lewis«, sagte Joanna. »Er hat seinen Doktor am MIT gemacht, und jetzt ist er in Martin Lomax’ Team.« In der Informatik. »Sean, das ist Rosalind Bishop.«

Roz sah sich einem sehr jungen Mann gegenüber, der sie aufmerksam betrachtete. »Ich glaube, wir kennen uns nicht«, sagte sie.

Er lächelte. »Sicher nicht.«

Joanna gab ihr ein Glas Wein in die Hand, und als Roz die fast saure, kühle Herbheit des Weins schmeckte, erkannte sie, dass ihr Chardonnay aus dem Supermarkt sicher ein Fauxpas gewesen war. Sie sah Sean Lewis an und fragte sich, warum Joanna ihr ausgerechnet ihn vorgestellt hatte. »MIT«, sagte sie, »eine Alma Mater, die Eindruck macht.« Das Massachusetts Institute of Technology. Sie überlegte, was jemand mit einem Doktor von der Universität wohl in Sheffield tat.

Er schien ihre unausgesprochene Frage zu erraten. »Dort ist einiges los«, sagte er. »Aber es ist ein bisschen einseitig. Es ist großartig, wenn man sich nur in die Arbeit stürzen will – alle sind dort gleich, sie kennen nichts als die Arbeit. Aber ich bin eher jemand, der ein bisschen was vom Leben mitkriegen will. Es gibt so viele Länder, in denen ich noch nicht war. Dort drüben versteht man das nicht.« Er zuckte die Schultern.

Roz nickte. Sie hatte sich in der Anfangszeit ihres Berufslebens voll darauf konzentriert, einen Platz für sich zu finden und dann die Karriereleiter zu erklimmen. Und die meisten Leute in ihrem Alter hatten das auch getan. Sie hatte damals geglaubt, andere Dinge einfach auf später verschieben zu können, und fand Seans Einstellung erfrischend.

Sie unterhielten sich noch eine Weile, dann machte sie ihre Pflichtrunde, sprach mit Jim Broadbent über die Politik der Krankenhausfinanzierung und mit jemandem, den sie kannte, dessen Namen sie aber nicht mehr wusste, über die Wichtigkeit von Public Relations. Nach einer Weile bildeten sich neue Grüppchen, sie entspannte sich einen Moment und hörte dem Gemurmel um sich herum zu. Satzfetzen über die Finanzierung der Krankenhäuser, die gegenwärtige Situation des Theaters in Sheffield, die Schwierigkeiten der Universitäten und die Rolle der Forschung in modernen technisierten Gesellschaften. Roz hörte die Gäste über die neuen Vorschriften des Innenministeriums und die engstirnige Verwaltung der Universität reden, dann führte Joanna sie zum Büfett.

Das Esszimmer mit den glänzenden Buchenholzböden und einem Tisch, auf dem Kristall im Kerzenlicht schimmerte, bildete den absoluten Kontrast zu dem weichen Komfort des Wohnzimmers. Roz sah das eindrucksvolle Büfett und fragte sich wieder einmal, wie Joanna die Zeit fand, all die Dinge zu tun, die sie tat.

Joanna kam mit dem jungen Mann, Sean Lewis, im Schlepptau auf sie zu, und Roz überlegte, was sie wohl vorhatte. Was auch immer, es war ja nur für einen Abend, und Sean war ein gut aussehender, angenehmer Gesellschafter. Sie unterhielten sich über Allgemeines und ihre Arbeit, aber Roz nahm sehr wohl wahr, wie er näher als nötig neben ihr stand, sie zu lange ansah, wenn ihre Blicke sich trafen, und sich so zwischen Roz und die Gäste im Raum stellte, als wolle er diese von ihr fern halten. Du hast’s geschafft, Bishop, hörte sie in Gedanken Lukes Stimme. Fast hätte sie gelächelt, blieb aber ernst.

Sean zeigte echtes Interesse an ihren Überlegungen zur Law-and-Language-Gruppe und sprach recht kenntnisreich darüber. Er hatte Verständnis für ihr Interesse an der Forschungsarbeit der Gruppe. »Immer wieder die Technik und die Software«, sagte er. »Man lässt sich Forschungsgelder geben, entwickelt die Prototypen und geht dann selbst damit auf den Markt.« Er meinte, sie verschwendeten ihre Zeit mit den kriminaltechnischen Analysen. »Sich mit Bändern abquälen«, sagte er abschätzig.

Roz war plötzlich hellwach. Dieser junge Mann war offensichtlich ein Überflieger. Sein Arbeitsbereich waren Computer und Software. Er schien viel gereist zu sein, sprach über Amerika, den europäischen Kontinent, den Fernen Osten. Er würde sich wohl kaum eine von Joannas Partys als Abendbeschäftigung aussuchen. Er sah eher aus, als fühlte er sich in den stadtbekannten Pubs von Sheffield zu Hause. Sie fragte sich, was ihn hierher zog.

Sie sah Joanna nachdenklich und mit leuchtenden Augen zu ihnen herüberschauen, und sie verstand, warum Joanna so interessiert an Sean Lewis war und warum sie wollte, dass Roz und er sich verstanden. Wenn Joanna es schaffte, dann würde er der perfekte Ersatz für Luke sein. Joanna hatte davon gesprochen, dass die Stelle aufgewertet und dem Software-Spezialisten die Kontrolle über die Forschungsgelder von der EU gegeben werden sollte. Er wollte reisen. Und er konnte daneben noch seine eigenen Interessen verfolgen, ja, eine enge Verbindung zu einer erfolgreichen Forschungsgruppe würde ein großer Vorteil sein. Er lächelte ihr zu und nahm sich ein Stückchen Spargel von ihrem Teller. Bahnte sich da ein Pakt mit dem Teufel an? Sie fragte sich, ob sie nicht mit einem extralangen Löffel essen sollte.

Nachtengel

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