Читать книгу Nachtengel - Danuta Reah - Страница 8
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Roz fand die Besprechung langweilig, obwohl sie entscheidend war. An ihrer Arbeit interessierte sie die Forschung, und obgleich die finanziellen Mittel sehr wichtig waren, teilte sie nicht Joannas Vorliebe für Überzeugungsarbeit und Verhandlungen, die für die Finanzierung erforderlich waren. Sie unterdrückte ein Gähnen und sah zu Luke hinüber, der sich auf seinem Stuhl zurücklehnte, den Blick gesenkt hielt und gelegentlich etwas auf seinen Notizblock kritzelte. Er wirkte ebenfalls unkonzentriert. Roz beobachtete Joanna bei ihrer Präsentation. Sie stellte die finanzielle Lage und die Forschungsarbeit des Teams dar, legte ihre Vorschläge für Neueinstellungen vor und vermied bewusst alle Bereiche, in denen es nicht ganz so gut aussah. Joanna machte ihre Sache gut. Sogar besser als gut. Niemand, der ihr zuhörte, hätte geglaubt, wie angespannt sie vor Beginn des Meetings gewesen war. Sie war erst fünf Minuten vor neun eingetroffen, weil sie Gemma abholen wollte. Offenbar hatten sie dies am Mittwoch vereinbart, damit Gemma ihr noch vor dieser wichtigen Besprechung einen Kurzbericht über das Ergebnis ihrer Fahrt nach Manchester geben könnte. Aber Gemma hatte nicht aufgemacht und Joanna hatte bei dem Versuch, sie zu wecken, Zeit verloren, bis ihr klar wurde, dass Gemma nicht da war.
Roz runzelte die Stirn. Unzuverlässigkeit war untypisch für Gemma. Und was noch schlimmer war, sie hatte nicht angerufen, sondern nur am Abend zuvor eine E-Mail geschickt. Joanna hatte sie gesehen, als sie vor der Konferenz ihre Post daraufhin überprüfte, ob es kurzfristige Änderungen gab oder jemand verhindert war.
Bitte entschuldige, dass ich morgen nicht zum Meeting kommen kann. Ich habe eine Panne und werde in Manchester übernachten. Ich melde mich, sobald ich wieder in Sheffield bin.
Gemma.
Joanna war ausgerastet. Dann hatte sie alles auf später verschoben und mit Roz schnell die Strategien für das Meeting durchgesprochen.
Roz betrachtete die anderen Konferenzteilnehmer eingehend, während der Vertreter des Universitätskomitees für Zuschüsse seine Ausführungen herunterleierte. Da war Peter Cauldwell, offiziell Joannas Vorgesetzter, der ihr skeptisch lächelnd zuhörte. Was immer Joanna vorschlagen mochte, Cauldwell würde dagegen sein. Er und Joanna waren in der Vergangenheit zu oft aneinander geraten, um ein gutes Team bilden zu können. Für Joanna hatte ein Vorhaben Priorität: Die Gruppe dem Einflussbereich Cauldwells zu entziehen, so schnell sie konnte. Dann war der Vertreter des Finanzierungskomitees da. Er hatte es in der Hand, Joanna jetzt sofort, noch heute, zu stoppen, wenn sie ihn nicht überzeugen konnte. Außerdem war noch der Vertreter des Academic Board anwesend, der Mittelbewilligung, dessen Unterstützung in dieser frühen Phase sehr wichtig war, und schließlich ein Vertreter des Vizekanzlers. Wie Luke neulich gesagt hatte: »Alle hohen Tiere der Uni sind da, um mitzuerleben, wie Grey dem Cauldwell das Fell über die Ohren zieht.« Ihre Blicke trafen sich über den Tisch hinweg, und sie fühlte den kindischen Impuls zu lachen.
Peter Cauldwell gab mit gedämpfter Stimme eine vernünftige Erklärung dazu ab, wieso Joannas Plan, der die Selbständigkeit der Law-and-Language-Gruppe vorsah, Zeitverschwendung und eine Vergeudung wertvoller Mittel sei. »Es gibt überall im Land kleine Abteilungen, die sich gerichtsmedizinischer Aufträge annehmen«, sagte er. »Und es gibt einige Privatunternehmen. Wir sind eine akademische Institution. Wir müssen dieses Geld« – den Zuschuss, den Joanna für die Gruppe losgeeist hatte – »verwenden, um die Forschungsarbeit, die wir bisher betrieben haben, auszudehnen. Ich strebe nicht an, unsere forensische Arbeit einzustellen, aber ich glaube, wir können sie innerhalb der bestehenden Strukturen abwickeln.«
Joanna lächelte, und Roz fing wieder Lukes Blick auf. Er tat so, als setze er sich anders hin, und zog dabei den Finger quer über die Kehle. Joanna begann ihre Diapräsentation, sprach kurz über jedes Schaubild und legte dar, wie viel finanzielle und andere Unterstützung sie in den letzten sechs Monaten zusammenbekommen hatte. Ihre Tabellen waren so angelegt, dass sie wie nebenbei auch die Mittel zeigten, die Cauldwells komplette Gruppe bekam. Sie erschienen neben den Zahlen, die die Versammelten studieren sollten. Nach den Tabellen, die sie benutzte, hatte ihr kleines Team mehr Universitätsgelder und Drittmittel bezogen, als Cauldwells viel größeres Team in einem Jahr geschafft hatte. Roz wusste, dass diese Zahlen kein realistisches Bild gaben. Peter Cauldwells Gruppe hatte sich mit einem Langzeitprojekt befasst, das jetzt in die Endphase kam, und über die neuen Gelder, die hereinkamen, konnte man entweder noch nicht verfügen, oder sie wurden heimlich, still und leise in andere Kanäle geleitet, damit man sichergehen konnte, dass die Budgets für Personal und Ausstattung gesichert waren. Wie alle guten Abteilungsleiter war Cauldwell ein Genie im vollen Ausschöpfen der Mittel. Aber auf Papier sahen seine Zahlen schlecht aus, und Joanna wusste das.
Um ein Uhr war alles vorbei. Roz war auf dem Weg zurück in ihr Büro und wurde von der offensichtlich erfreuten Joanna abgefangen. Sie hatte jedes Recht zur Freude, dachte Roz. Allerdings war jetzt vermutlich ein potenzieller Dolchstoß von hinten ihr Hauptproblem. Sie erinnerte sich an Cauldwells verdrießliches Gesicht. Er würde Joanna – oder ihnen allen – nicht so bald vergeben.
» Es ist gut gegangen. Mit Cauldwells Kritik hab ich kurzen Prozess gemacht«, sagte Joanna vergnügt. »Wir kriegen jetzt unsere zusätzlichen Kräfte, und wenn nicht, dann weiß ich auch, warum.« Sie schaute, zerstreut und schon mit weiteren Plänen beschäftigt, in die Ferne. »Wir werden mehr Platz brauchen. Das ist erst der Anfang.« Dann sah sie Roz scharf an und fragte:» Was ist mit Gemma?«
Roz war es gewöhnt, dass Joanna plötzlich das Thema wechselte, fragte sich aber, wieso sie erwartete, dass sie mehr über Gemmas Fernbleiben wusste als Joanna selbst. »Ich habe keine Ahnung«, sagte sie. »Vielleicht weiß Luke etwas.«
Joanna starrte sie weiter durchdringend an. Roz war an dieses seltsame Verhalten gewöhnt und wartete, bis Joanna auf ihre Antwort reagierte. »Luke?«
Roz seufzte. Bestimmt hatte Joanna bemerkt, dass zwischen Luke und Gemma irgendetwas lief. Gemma war eine ausgezeichnete Wissenschaftlerin. Sie saß viel vor ihrem Computer und vergrub sich in ihren Büchern, war ruhig und zurückhaltend. Nach einiger Zeit an einer russischen Universität, war sie nach Sheffield gekommen, und Roz hatte manchmal das Gefühl, dass Gemmas Ehrgeiz anderen Gebieten galt, obwohl sie sehr gute Arbeit leistete. Dann hatte sie sich mit Luke eingelassen.
Obwohl Roz versucht hatte, sich nichts daraus zu machen, hatte es sie doch gestört. Roz und Luke waren von der Zeit an, als sie ein Jahr zuvor nach Sheffield gekommen war, gute Freunde geworden. Sie waren allein stehend und wollten sich beide nicht auf eine ernste Beziehung einlassen. Sie hatten einen ähnlichen Geschmack, was Clubs, Tanzen und Musik anging. Luke konnte unbekümmert sein, mit wilden Trinkgelagen befriedigte er seine Neigung zur Ausgelassenheit, und sein gelegentlicher Trübsinn zog sie irgendwie an. Es war eine Freundschaft gewesen, die sie hoch schätzte. Und dann, vor ein paar Monaten, bei etwas zu viel Musik und nach etwas zu viel Wein hatten sie miteinander die Nacht verbracht, eine Vertraulichkeit, die sie vorher immer vermieden hatten, über die sie nie sprachen und vor der Roz seitdem zurückschreckte. Danach war ihr Umgang miteinander etwas unsicher. Als Roz zu Joannas Stellvertreterin befördert wurde, war das eine weitere Erschwernis für ihre Freundschaft, und als er die Sache mit Gemma anfing, war sie auf ein Mindestmaß reduziert.
Joanna sah sie immer noch starr an. Roz schüttelte den Kopf.» Ich will mal sehen, ob Luke mehr weiß«, sagte sie. Joanna dachte darüber nach, ohne es zu kommentieren, und begann dann über Aufträge zu reden, die erledigt werden mussten. Etwas schoss Roz durch den Kopf, und sie nahm sich vor, in Gemmas Terminplan nachzusehen. Da war doch etwas … Sie schob es auf und hörte Joanna zu, die schließlich zu Ende kam.
» … und dann ist da noch der Bericht für das Berufungsgericht, und das wär’s dann.« Sie sah auf die Uhr. »Peter Cauldwell möchte mich sprechen.« Statt eines zusätzlichen Kommentars zog sie eine Augenbraue hoch. »Ich treffe ihn in einer halben Stunde.«
Berichte! Das war es, was Roz eingefallen war. Gemmas Analyse der Sprachaufnahme, die sie von der Polizei in Hull bekommen hatten. Gemma hatte gesagt, sie würde ihren Bericht heute per Telefon durchgeben, aber sie wolle vorher noch etwas mit Roz besprechen. Roz runzelte die Stirn. Sie konnte sich nicht vorstellen, was für ein Problem Gemma damit gehabt haben könnte. Es war ein ziemlich einfacher Auftrag gewesen, obwohl die Aufnahme selbst… merkwürdig war. Der Bericht würde wahrscheinlich auf Gemmas Schreibtisch liegen. Sie könnte nachsehen, ob es irgendwelche offensichtlichen Probleme gab, und ihn dann selbst telefonisch durchgeben. Gemma konnte dann die schriftliche Fassung fertig machen und sie übers Wochenende losschicken. Wenn der Bericht nicht da war … Dann wusste bestimmt Joanna Bescheid.
Zuerst Luke oder Gemmas Bericht? Der Bericht war wichtiger. Sie ging wieder den Korridor entlang zu Gemmas Büro und schaltete den Computer ein. Das Passwort kannte sie – Gemma und sie brauchten öfter Zugriff auf ihre jeweiligen Dateien. Sie ließ die Liste der Dokumente durchlaufen: akustische Profile, grundlegende Frequenzanalyse von … Hier war es: Entwurf, Bericht Hull. Roz öffnete die Datei, sah sich die Einzelheiten an und rief sich ins Gedächtnis, was genau Gemmas Aufgabe gewesen war. Die Aufnahme aus Hull war die polizeiliche Vernehmung einer Frau, die möglicherweise aus Osteuropa kam. Sie war Gemma mit dem Auftrag geschickt worden, die geographische Herkunft der Frau genauer festzustellen.
Roz blätterte den Schriftverkehr durch. Die Polizeibeamtin, die sich an Gemma gewandt hatte, war eine gewisse Lynne Jordan, Detective Inspector. Mit dem Tonband war eine klar formulierte Anfrage gekommen. DI Jordan wollte wissen, wo die Frau herkam, deren Muttersprache offensichtlich nicht Englisch war. Über das Band selbst gab es nur sehr wenig Information.
Roz hatte es mit Gemma zusammen angehört und fand den stockend gesprochenen Text, der nur schwer zu verstehen war, beklemmend. Sie fragte sich, was der Frau, die auf dem Band sprach, geschehen war und warum DI Jordan sie nicht direkt fragen konnte, woher sie kam. Gab sie vor, von woanders zu kommen, aus einem EU-Land, damit sie in Großbritannien bleiben durfte? War sie geflüchtet? War sie schon mal abgeschoben worden? Oder gestorben?
Er (sie) schlagen… ich sage nein, er (sie) machen, er…
Es ging Roz nichts an. Sie gab den Befehl <drucken> ein und überflog den Berichtsentwurf auf dem Bildschirm. Als er ausgedruckt war, las sie ihn genauer. Er war typisch für Gemma: Sehr gründlich und klar und, soweit Roz das beurteilen konnte, vollständig. Ob Gemma das Problem, was immer es gewesen war, gelöst hatte? Aber trotzdem fragte sie sich, was Gemma mit ihr hatte besprechen wollen. Sie saß nachdenklich da. Am späten Mittwochnachmittag war Gemma zu Roz ins Büro gekommen, um zu sagen, dass sie am nächsten Tag an Joannas Stelle nach Manchester fahren musste. »Joanna hat es mir gerade gesagt. Sie will mir später die Einzelheiten mitteilen.« Sie schien verärgert, hatte ihre Tasche abgestellt und darin nach ihren Notizen gesucht, dann war der Füller, dessen Kappe sie abnehmen wollte, quer durch den Raum geflogen.
Roz hatte ihr die Sachlage erklärt. »Ich glaube, Joanna möchte, dass du bei dem Meeting anwesend bist, weil es dein Fachgebiet ist«, sagte sie. Das Team in Manchester arbeitete mit ihnen zusammen und bewarb sich gemeinsam mit ihnen um Mittel für die Untersuchung des von Asylsuchenden gesprochenen Englisch.
» Ich hätte mir gewünscht, ein bisschen früher informiert zu werden«, sagte Gemma, und wie Roz fand, zu Recht. »Ich muss diesen Bericht noch erstellen und habe Detective Inspector Jordan gesagt, dass ich ihn morgen abschicken werde.«
» Gib doch deine Ergebnisse einfach telefonisch durch. Du kannst den Bericht nachschicken, sodass sie ihn am Montag bekommt. Sie wird die Information, die sie braucht, am Freitag haben, das ist die Hauptsache. Ist die Analyse fertig?«
» Ja. Ich habe alles gemacht, was sie verlangte. Es ist nur… Da war etwas, das ich besprechen wollte …« Sie sah auf die Uhr. »O Gott, sieh mal, wie spät. Ich muss gehen. Ich besprech’s am Freitag mit dir. Es läuft nicht weg.« Gemma schien zufrieden und ging.
Was immer sie beunruhigt hatte, Roz konnte keine Spur davon finden. Gemma hatte die Frau als russischsprachig identifiziert, mit sprachlichen Merkmalen, die darauf hinwiesen, dass sie aus dem östlichen Sibirien kam. Mit ihrer über viele Seiten gehenden Analyse belegte sie ihre Ergebnisse. Roz blätterte sie durch. Alles schien problemlos. Sie druckte die Niederschrift der Aufnahme aus und sah sie sich an. Drei Zeilen waren mit Sternchen markiert: 25, 127 und 204. Das war das einzige Anzeichen, dass etwas nicht komplett war, aber daraus ging nicht hervor, warum Gemma diese Zeilen gekennzeichnet hatte.
Mit dem Gefühl, dass aus ihrer Überprüfung jetzt Neugier wurde, blätterte Roz in Gemmas Kalender, um zu sehen, ob sie sich anstehende Termine vorgemerkt hatte und sich so alles klären ließ. Nichts. Sie war sich bewusst, dass sie ihre Nase in Dinge steckte, die sie nichts angingen, deshalb ließ sie den Bericht auf ihrem Tisch liegen und ging zu Luke.
Die Tür zu seinem Büro war angelehnt, und Roz ging hinein. Ein Tonband mit knackenden und zischenden Hintergrundgeräuschen lief, und unter all dem hörte man auch Stimmen. Luke stand bei einem der Computer und schaute auf den Bildschirm, wo ein akustisches Profil zu sehen war. Luke markierte eine Stelle farblich. Er sah nicht auf, sagte aber: »In der Kanne ist Kaffee.« Er hatte immer Kaffee da, um seine Koffeinsucht zu befriedigen, und Roz – und Gemma – kamen oft in Lukes Büro, statt zur offiziellen Kaffeemaschine oder, noch schlimmer, zum Automaten zu gehen. Er führte schon lange einen Zermürbungskrieg gegen Joanna, die klare Trennungslinien liebte – Kaffee in Aufenthaltsräumen mit Kaffeemaschine, Bücher in Bibliotheken, Arbeit an Schreibtischen.
Roz sah Luke über die Schulter und auf den Bildschirm. »Was ist das?«, fragte sie. Er schien zerstreut.
» Es ist diese Überwachung aus Manchester. Wir sollen die Tonqualität des Bandes verbessern. Wenn sie ’ne gescheite Ausrüstung kaufen würden, könnten sie ein Vermögen sparen«, sagte er. Er nahm das Hintergrundgeräusch auf, um es von dem Band zu löschen; jetzt wo es Software gab, die den ganzen Prozess abwickelte, war das eine einfache Aufgabe. Er drückte eine Taste und spielte die Aufnahme ab. Diesmal legten sich nicht mehr die störenden Geräusche über die Stimmen, aber was gesprochen wurde, war verzerrt, hallte nach, und die Tonstärke schwankte. Er drückte eine weitere Taste, alles verschwand vom Bildschirm, und er drehte sich um und sah sie an.
» Hast du die Resultate von unserem letzten Durchlauf mit der Software bekommen?«, fragte Roz. Luke arbeitete mit ihr zusammen an der Analyse der Bandaufnahmen von polizeilichen Verhören.
» Ich hab sie am Mittwoch bekommen. Hörst du eigentlich nie zu?« Er schaute zu ihr hinüber. »Also Roz, kein Kaffee?«
» Ich nehme einen, wenn ich schon da bin.« Sie holte sich eine Tasse vom Regal und goss sich Kaffee ein. Er war stark und schwarz. »Und du?« Er schüttelte den Kopf, lehnte sich gegen seinen Schreibtisch zurück und wartete ab, was sie wollte.» Gemma«, sagte sie. »Joanna war wirklich sauer. Hast du etwas gehört?«
» Was, zum Beispiel?« Er schien leicht gereizt, wie er dieser Tage ihr gegenüber immer war. Einen Moment dachte sie, er würde nichts mehr sagen, aber er fügte hinzu: »Sie wollte gestern Abend nach ihrer Rückkehr noch bei mir vorbeikommen, wenn sie nicht zu müde wäre. Sie sagte, sie würde vielleicht anrufen, aber das hat sie nicht getan.« Er zuckte die Schultern.
» Ach.« Roz wusste nicht, was sie davon halten sollte. Sie erzählte ihm von der E-Mail.
» Das ist Quatsch«, sagte er.
Roz war genervt. Joanna schien zu glauben, dass sie für Gemmas Abwesenheit verantwortlich sei, und Luke blockte ab und gab sich schwierig. »Lass das, Luke«, sagte sie. »Die Mail liegt ja in der Post vor. Ich hab nur gefragt, ob sie mit dir gesprochen hat. Und du sagst nein. Das ist alles, was ich wissen wollte.«
Er beachtete sie nicht und starrte in die Ferne, die Hände in den Taschen seiner Jeans. »Das ist Quatsch«, wiederholte er, schien aber leicht besorgt. »Wann wurde die E-Mail abgeschickt? «
» Ich weiß nicht. Gestern Abend, glaub ich.«
» Warum sollte sie in Manchester übernachten? Es macht keinen Sinn.«
Roz war überrascht. Darüber hatte sie gar nicht nachgedacht. Sie hatte sich geärgert, dass Gemma nicht angerufen hatte, und dann war sie nicht einmal höflich genug gewesen, der E-Mail am Morgen einen Anruf folgen zu lassen. Aber Roz hatte angenommen, dass sie bei dem Chaos von Werkstätten, Reparatur und den anderen Aktivitäten, die bei einer Panne nötig werden, nicht dazu gekommen war. »Wie meinst du das?«, fragte sie.
» Warum ist sie nicht mit dem Zug zurückgekommen? Sie wusste doch, dass das Meeting wichtig ist.«
Roz dachte darüber nach. Es schien trotzdem kein Thema, auf das man viel Zeit verwenden sollte. Es war ein bisschen seltsam, aber Gemma würde alles klarstellen, wenn sie zurückkam.» Vielleicht hat sie es nicht zum Bahnhof geschafft«, sagte sie.
» Das meine ich ja. Wenn sie es nicht zum Bahnhof geschafft hat, dann muss sie schon auf dem Rückweg gewesen sein, als sie die Panne hatte. Dann hätte sie auch kein Hotel finden können. Aber sie ist doch im Automobilklub. Sie hätten sie zurückgebracht, wenn die Sache mit dem Auto zu schlimm war, um es gleich zu reparieren. Warum sollte sie Geld für ein Hotel ausgeben, wenn sie noch in Manchester war? Man nimmt einen Zug, kommt rechtzeitig zum Meeting an, fährt danach wieder hoch und holt das Auto. Ganz einfach.«
Wenn sie es so betrachtete, schien es schon merkwürdig. »Ich glaube …«, sagte sie, als die Tür aufflog und Joanna dastand. Sie sah sie an, und Roz konnte sich das Bild in ihrem Kopf vorstellen: Sie und Luke lehnten sich gemütlich Kaffee trinkend an die Schreibtische und unterhielten sich. Sie bekam ein schlechtes Gewissen und ärgerte sich zugleich über sich selbst, weswegen sie den Impuls unterdrückte, ihre Tasse abzustellen und alles zu erklären. »Gibt es ein Problem?«, fragte sie. Joanna runzelte die Stirn.
Aber als sie Roz ansah, entspannte sich ihr Gesicht. »Nein«, sagte sie. Dann wandte sie sich an Luke. »Die Barnsley-Analyse. Ich sagte, ich würde den Bericht heute brauchen.« Und du stehst hier herum, verschwendest Zeit, trinkst Kaffee und tratschst.
Luke hielt ihrem Blick eine Minute stand, und als die Stille peinlich wurde und Roz den Drang verspürte, das Schweigen zu brechen, sagte er endlich: »Er ist auf deinem Schreibtisch. Ich hab ihn gestern Abend hingelegt.« Er lächelte. »Nachdem du weg warst«, fügte er hinzu.
Kaum merklich zögert Joanna. »Wirf die Sachen nicht einfach auf meinen Tisch. Leg sie zu den Eingängen«, sagte sie und warf einen kritischen Blick auf die Kaffeekanne, die Tassen und das Durcheinander auf den Schreibtischen. Roz sah schnell zu Luke hin und war überrascht, Belustigung in seinen Augen zu erkennen.
Joanna hatte offensichtlich beschlossen, es so stehen zu lassen, solange sie vorn lag, und wandte sich an Roz: »Ich gehe jetzt zu Cauldwell.« Plötzlich schien sie erfreut. »In einer halben Stunde werde ich wahrscheinlich zurück sein. Wir müssen über die neuen Stellen reden. Ich würde gern dieses Wochenende mit der Planung anfangen.«
Roz sah auf ihre Uhr. »Ich habe in fünf Minuten Vorlesung«, sagte sie. »Danach komme ich in dein Büro. Um drei?« Dann würde sie genug Zeit haben, um essen zu gehen.
Joanna überlegte. »Halb drei«, sagte sie. »Wir haben allerhand durchzugehen.«
Ihr Mittagessen hatte sich also erledigt. Luke hatte sich wieder dem Computer zugewandt. Roz beachtete sein Grinsen nicht, sagte »Okay« und ging hinter Joanna aus dem Büro. Als sie ihre Notizen für die Vorlesung herauszog, fiel ihr ein, dass sie wegen Gemma zu keinem Ergebnis gekommen waren.
Die Vorlesungen, die Roz für die ersten Semester hielt, waren beliebt. Sie gehörten zu den obligatorischen Linguistikkursen für Studenten, die im ersten oder zweiten Jahr englische Literatur belegten. Alles, was das Wort forensisch enthielt, erregte die Wissbegier der Studenten, und Roz versuchte, ihnen viele Beispiele für die Anwendung der Theorie zu geben, mit deren Aneignung sie sich abmühten. Ihre Arbeit hatte viel mit der individuellen Beschaffenheit der menschlichen Stimme zu tun, jede charakteristisch, einzigartig. Aber sie konzentrierte sich auf die weniger technischen Aspekte der Arbeit der Law-and-Language-Gruppe, die sich auch mit Drohbriefen und mit Erklärungen und Bekenntnissen, die angefochten wurden, befasste. Bekannte Fälle, die eine gewisse Faszination ausübten.
Sie erzählte ihnen von einem aktuellen Fall, bei dem der Computer gespeichert hatte, welche Tasten beim Schreiben gedrückt wurden, wobei sich zeigte, dass der Abschiedsbrief einer Selbstmörderin sehr wahrscheinlich nicht von der Toten stammte, die mit Textverarbeitungsprogrammen Erfahrung hatte. »Wer immer den Brief schrieb, kannte sich nicht aus und hat die Eingabetaste für den Zeilenumbruch genommen. Und auch andere Informationen werden in einem Computer gespeichert, von denen man oft nichts weiß: Daten und Zeiten, die dann verraten können, ob ein Dokument echt ist. Andererseits kann man nicht feststellen, mit welchem Computer ein Dokument tatsächlich geschrieben wurde. Jede Schreibmaschine hat dagegen ihre besonderen Eigenheiten.«
Sie zeigte ihnen eine unterschriebene Zeugenaussage, in die Zeilen eingefügt waren, durch die der Zeuge sich selbst belastet hatte, und erläuterte, mit welchen Methoden man anhand einer Analyse hatte zeigen können, dass der Text von zwei verschiedenen Verfassern stammte. Die Studenten hörten aufmerksam zu.
Aber während sie sprach, war sie mit den Gedanken nicht bei dem vertrauten Thema. Sie machte ihre üblichen Witze, ließ Beispiele auf der Projektionsfläche erscheinen, beantwortete Fragen. Alles lief automatisch, während sie über Gemma und über das, was Luke gesagt hatte, nachdachte. Er hatte Recht. Natürlich wäre Gemma zurückgekommen, außer wenn es so spät war, dass kein Zug mehr ging. Und das war lächerlich, weil diese Meetings nie länger als bis vier Uhr dauerten. Vielleicht war sie länger geblieben, um etwas zu essen, vielleicht hatte sie spazieren gehen und sich die Gegend an der Canal Street ansehen wollen … Aber das war nicht sehr wahrscheinlich. Gemma tat so etwas nicht. Das erinnerte Roz daran, dass sie DI Jordan drüben in Hull anrufen musste.
Sie dachte an die Stimme auf dem Tonband, an die Frau und deren gebrochenes, dürftiges Englisch, einzelne Wörter, ein paar Wendungen, undeutlich wegen des Rauschens auf dem Band und den Hintergrundgeräuschen eines Krankenhauses, Schritte, Metall, das an Metall stieß, und Stimmen, die unzusammenhängend stammelten. Die Stimme der Frau war leise und monoton, wodurch sich die Dinge, die sie sagte, schockierender und schrecklicher anhörten. »Er« –oder war es sie für mehrere Personen? – »schlagen«, sagte sie immer wieder und» Er zusammenschlagen… «, und ein Satz, den Gemma übersetzt hatte mit: Ich weiß nicht, wie ich es sagen soll und nach Haus und er mich töten und gehen und andere Wörter, Männer jeden Tag und ich sage nein, er (sie?) mir machen und weh. Und hier zitterte die unnatürlich ruhige Stimme, als unterdrücke die Frau die Tränen. Roz erinnerte sich an die nüchterne Sprache in Gemmas Bericht, die aus den Worten Klangmuster und aus den Sätzen Konstruktionen ohne klare Bedeutung machte. Sie erinnerte sich, dass Gemmas Gesicht verwirrt und argwöhnisch ausgesehen hatte, als sie sich zusammen das Band anhörten, und sie fragte sich erneut, was Gemma Sorgen gemacht hatte.
Hull, Freitagnachmittag
Der Anruf war um halb zwölf gekommen. Mittags war der Tatort bereits abgesperrt, und das Ermittlerteam konnte an Ort und Stelle arbeiten. In einem der billigen Hotels an der Straße, die nach Osten aus der Stadt hinausführte, lag eine junge Frau tot im Badezimmer. Die erste und einfachste Vermutung war, dass die Frau eine Prostituierte war, die mit ihrem Freier aneinander geraten war. Das Blenheim war als Absteige für die Prostituierten der Stadt bekannt. Sie war schwer geschlagen worden – ihr Gesicht war so zugerichtet, dass es nicht zu erkennen war –, und es gab andere Körperverletzungen. John Gage, der Pathologe, war bis ein Uhr mit dem Teil seiner Arbeit, den er am Tatort verrichten musste, fertig. »Ihr könnt sie jetzt wegbringen, außer ihr habt irgendetwas Wichtiges zu tun, solange sie noch hier ist«, sagte er und zuckte zusammen, als er sich von der Stelle bei der Badewanne erhob, wo er sich hingekniet hatte.
Detective Chief Inspector Roy Farnham stand an der Tür, die Hände in die Taschen gesteckt. Der Fotograf war fertig, und die Spezialisten für die Spurensuche hatten das kleine Badezimmer durchsucht und die Beweisstücke eingetütet, die sie mitnehmen wollten. »Was hast du?«
Gage sah mit verzerrtem Gesicht auf, während er die steifen Beine lockerte. »Ich bin zu alt, um in Badezimmern auf dem Boden herumzukriechen«, sagte er. »Hallo, Roy. Hab dich gar nicht gesehen. Na ja, sie ist schon ein paar Stunden tot, aber ich muss sie mir auf dem Tisch ansehen, bevor ich etwas Genaueres sagen kann. Todesursache? Ich weiß noch nicht. Druckspuren am Hals. Sie hat Kopfverletzungen, die vielleicht tödlich waren, aber sie ist abscheulich zusammengeschlagen worden. Wer immer das war, ist ein widerlicher Zeitgenosse.«
Farnham widersprach ihm nicht. Aber Gage hatte die Frage nicht beantwortet, auf die er eine Antwort brauchte. »Ist das noch eine?«, fragte er.
Gage warf ihm einen schnellen Blick zu. »Ich spekuliere nicht, bevor die Obduktion gemacht ist, Roy. Bei den anderen hat es keine Druckstellen gegeben.« Er sah auf die Leiche hinunter. Einer der Spezialisten lehnte sich über die Badewanne und schnitt behutsam den Strick durch, mit dem die Handgelenke der Frau an die schwere Mischbatterie gebunden waren. »Ich nehme die Fingerabdrücke und liefere alles im Labor ab, so schnell ich kann. Vom Gesicht her ist keine Identifizierung möglich.«
Farnham sah hin und gleich wieder weg. »Kannst du es nicht ein bisschen herrichten?«
Gage zuckte die Schultern. »Nur notdürftig. Ihr seid besser beraten, sie nach den Fingerabdrücken zu identifizieren. Oder vielleicht hilft euch ihre Uhr weiter, darauf ist etwas eingraviert. «
Farnham sah sich in dem engen Zimmer um und klopfte mit der Hand gegen die Wand hinter dem Bett. Sie war dünn, nur eine Zwischenwand. »Die anderen Zimmer hier unten waren gestern Nacht belegt. Jemand muss etwas gehört haben.«
Gage war skeptisch. »Vielleicht ist sie gar nicht hier unten getötet worden. Zu wenig Blut. Möglicherweise hat das Wasser es weggespült, aber… ihr werdet im Abfluss nachsehen müssen.«
Die Vorstellung, einen anderen Tatort suchen zu müssen, deprimierte Roy Farnham. Einer der Männer von der Spurensicherung kam zu ihm herüber. »Sir?«
Farnham betrachtete das, was der Mann ihm zeigte. In einer durchsichtigen Plastiktüte für Beweisstücke lag eine Visitenkarte, die wohl auf den Boden gefallen war. In einer Ecke war die Silhouette einer knienden Frau, die die Hände hinter dem Kopf verschränkt hatte. In dünner Kursivschrift war Angel Escorts mit einer Telefonnummer aufgedruckt. Am unteren Rand der Karte stand Internationale Begleitagentur. Wir freuen uns, wenn Sie sich wohl fühlen. »Okay«, sagte er und notierte sich, dass er das Sittendezernat anrufen musste, ob man dort etwas über dieses Unternehmen Angel Escorts wusste.
Der Fotograf war fertig. Farnham nickte Gage zu. »Schön«, sagte der Pathologe zu seinen wartenden Assistenten. »Tragt sie raus.«
Farnham sah zu, wie sie die Leiche der Frau vorsichtig aus der Wanne hoben und Plastikbahnen unter sie legten, damit das mit Blut vermischte Wasser nicht auf den Boden tropfte. Nachdem sie sie herausgehoben hatten, sah er in die Badewanne. Gage hatte Recht. Es war nur sehr wenig Blut zu sehen, nur ein wässrig strudelndes Rinnsal, das hier und da über den dunklen Rand an der Seitenwand hochschwappte. Vielleicht hatte der Mörder alles sauber gemacht und Blut und sonstige, durch den Mord entstandene Spuren beseitigt. Im Bad war alles nass. Farnham musste die Gäste, die in dieser Donnerstagnacht in den anderen Zimmern waren, befragen, ob sie Geräusche von einem Streit, noch spät laufendes Wasser oder sonst irgendetwas gehört hatten, das helfen würde, aufzuklären, was geschehen war.
Als man die Leiche weggebracht hatte, fiel ihm die Arbeit leichter. Es war jetzt ein Auftrag, ein Problem, das es zu lösen galt. Als die Frau noch dalag, war es etwas Persönlicheres, das Zorn und Ekel in ihm auslöste über die Dinge, zu denen Menschen fähig waren. Er fragte sich, warum Frauen das taten – sich an Fremde verkaufen. Für die Frauen, die sich auf die Straße stellten oder mit den Männern in Hotelzimmer gingen, die sie sich wie eine Pizza kommen ließen, musste es mehr sein als nur das Geld. So viele von ihnen kamen dabei um – durch Drogen, Gewalt oder durch Verletzungen, die sie sich selbst zufügten. Dies war die Dritte innerhalb der letzten zwei Monate, und es gab beunruhigende Parallelen zwischen den Morden. Seine Vorgesetzten waren nicht überzeugt, dass es einen Zusammenhang gab, aber Farnham hatte ein ungutes Gefühl.
Er überlegte, welche Geschichte hinter dem Schicksal der Frau in der Badewanne stecken könnte. Sie hatte so klein und zerbrochen ausgesehen.
Der Priester war erst sechzig, aber er fühlte sich wie ein alter Mann. Er hatte sein Leben in innerstädtischen Pfarreien zugebracht, ein Leben, das, wie es sich gehört, Armut, Keuschheit und Gehorsam gewidmet war. Er hatte miterlebt, wie die Kirche, die von den frühesten Erinnerungen an sein Leben gewesen war, stetig an Macht und Einfluss verlor. Und jetzt war er müde.
Langsam ging er das Kirchenschiff entlang und dachte an die priesterlichen Pflichten, das Ritual der Gebete, die ihm fast automatisch von der Zunge rollten, die aber immer tief empfunden und voller Bedeutung waren, wenn er sie in die Stille, die schweigende, muffige Luft der Heiligkeit, in die Transzendenz Gottes hineinflüsterte.
Heilig, heilig, heilig, Herr Gott der Heerscharen … Manchmal kamen ihm die Worte in dem alten Kirchenlatein in den Sinn – das aus gutem Grund schon lange nicht mehr in Gebrauch war –, das alte Latein, an das er sich gut erinnern konnte und das ihm manchmal fehlte. Sanctus, sanctus, sanctus … Die Kirche war still und leer. Sie war aus dem Stein herausgehauen und erhob sich bis hoch hinauf zum gewölbten Dach, wo das diffuse Licht durch die Filigranmuster der bunten Fenster hereinfiel und Flecken auf die Steinsäulen malte. Die Steinplatten auf dem Boden waren von den Füßen der Betenden, von reuigen Sündern und Kommunikanten glatt geworden. Manchmal traten auch Touristen auf die in die Gedenksteine eingemeißelten Namen.
Während er weiterschritt, las er die vertrauten Inschriften. Libera me! Erlöse mich, o Herr. Die Bitte war noch leserlich, aber der Name war bereits vor Jahrzehnten von dem Stein verschwunden. Requiescat in pace. Er ruhe in Frieden. Die Heiligenfiguren auf den Säulen standen wartend in ihren Nischen, mit vielen Kerzenhaltern davor. Es waren Schachteln für Spenden und mit Kerzen aufgestellt, die man im Gedenken an eine verblichene Seele und als Bitte um Gnade und Vergebung für die Seelen der toten Sünder anzünden konnte. Die Halter waren leer, schon lange nicht mehr benutzt, und das Metall war fleckig geworden. Er konnte sich daran erinnern, dass früher jeder Heilige viele Reihen von Andachtskerzen vor sich hatte, die ruhig in der Dunkelheit brannten und die Luft mit dem Duft von brennendem Wachs erfüllten.
Er ließ sich von seiner Neugier leiten, die ihn zum äußersten Winkel der Kirche führte, wo das Seitenschiff auf das Querschiff traf. In einer dunklen Ecke stand eine Statue von irgendeinem vergessenen Heiligen in Mönchskutte und Tonsur. Vielleicht war die Figur früher einmal bemalt gewesen, aber jetzt war der Stein nur noch grau. Der Moment, wo der Mönch einen Schritt nach vorn tat und eine Hand segnend oder drohend erhoben hatte, war nachgebildet. Die Augen waren glatt und blind, schienen aber wachsam aus der Dunkelheit herauszuschauen.
Der Priester legte bei seinem Rundgang eine Pause ein. Hier gab es nicht so viele Plätze für Kerzen, aber er hatte vor einiger Zeit bemerkt, dass in einigen der Kerzenhalter, immer denselben, Kerzen steckten, die jetzt frisch heruntergebrannt waren. Er berührte leicht einen schwarzen Docht, der zerfiel. Aber er war noch warm, und das Metall von zwei Haltern war mit Wachs bedeckt, das sich im Lauf von Wochen und Monaten angesammelt hatte. Unter der dritten Kerze war weniger Wachs, als hätte jemand den dritten Halter nicht so oft genutzt wie die beiden anderen. Niemand machte diese dunklen Ecken der Kirche sauber. Die Kerzenhalter wurden so selten benutzt, dass niemand daran dachte, nach ihnen zu sehen. Er seufzte beim Gedanken an die Tage, als bereits die Reinigung der Kirche einen Akt der Gottesverehrung darstellte. Aber jemand war hierher gekommen und hatte in der Dunkelheit eine Kerze aufgestellt. Ein Licht, mit dem er um Gnade oder Vergebung flehte, ein Licht, das auf den Weg der Toten scheinen und darum bitten sollte, dass ihre Seelen nicht vergessen wurden.