Читать книгу Nachtengel - Danuta Reah - Страница 6

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Zuerst war es wie ein Spiel. Der dunkle BMW war hinter ihr aus dem Parkplatz herausgefahren und ihr auf der Durchgangsstraße bis in die Stadtmitte von Manchester gefolgt. »Aufgeblasener Geldsack«, murmelte sie. Luke sagte das immer, wenn er jemanden sah, der einen Luxusartikel besaß, um den er ihn heimlich beneidete. Der BMW blieb bis zur Autobahn hinter ihr, und als alle drei Fahrbahnen leer vor ihm lagen, war der Fahrer zu ihrer Überraschung nicht mit Vollgas an ihr vorbeigezogen. Jedenfalls war der schnittige dunkle Wagen manchmal vor, dann wieder hinter ihr, aber immer in ihrer Nähe. Sie fing an, im Rückspiegel genauer auf den Fahrer zu achten, weil sie wissen wollte, ob es jedes Mal dasselbe Fahrzeug war. Aber die Fenster waren dunkel getönt. Protziger Fatzke! Ebenfalls eine Vokabel aus Lukes Wortschatz. Sie hatte den Eindruck, dass der Fahrer helle Haare hatte – blond oder vielleicht weiß? –, konnte es aber nicht genau erkennen.

Als sie Manchester verließ, fing es an zu dämmern, und als sie auf der geraden Straße an den hohen Steinmauern und den Läden vorbei nach Glossop kam, war es bereits dunkel. Sie fuhr langsamer, als sie den großen Platz erreichte. Am Morgen war hier viel Verkehr gewesen. Die Leute, die aus den Geschäften kamen, liefen, ohne sich umzusehen, so sorglos über die Straße, als sei es Sache der Autofahrer, ihnen auszuweichen, und das hatte sie rasend gemacht. Sobald die Fußgänger ihr Auto wahrgenommen hatten, kümmerten sie sich nicht mehr darum und achteten nur noch auf den Gegenverkehr.

Die Hinfahrt am Morgen war ihr richtig auf die Nerven gegangen. Am schlimmsten war es in der verkehrsreichen Stadtmitte gewesen, wo Ortskundige sie durch Hupen dermaßen belästigt und nervös gemacht hatten, dass sie zu schnell an den Schildern vorbeiflitzte und sich verfuhr, denn alle schienen nur darauf aus zu sein, die Fremde aus ihrem Ort hinauszudrängen.

Deshalb hatte sie sich auf die Rückfahrt gefreut. Dann würde das Meeting hinter ihr liegen und nur noch der Heimweg vor ihr. Die Straßen würden leer sein, und nach dem anstrengenden Stadtverkehr erwartete sie eine ruhige Fahrt durch ländliche Gegenden, über den Snake Pass und die raue Höhenstraße durch das Coldharbour Moor, die abfallenden Serpentinen zwischen Kinder Scout und Bleaklow an Doctor’s Gate vorbei; dann kamen die sanfteren, bewaldeten Hügel und der Ladybower-Staudamm, es ging durch öde Moore, wo die Strecke immer länger schien, als sie erwartet hatte, und schließlich durch die Außenbezirke von Sheffield, wo sie sich entspannen konnte.

Die Fahrt durch Manchester war auf dem Rückweg ruhiger verlaufen, auf der Autobahn war viel los, aber es gab keine ungeduldigen Fahrer mehr, die an ihrer Stoßstange klebten und sie mit der Lichthupe belästigten. Die ausgedehnten Randbezirke von Ashton und Stalybridge wirkten eintönig und fast friedlich. Nur etwas war eigenartig …

Sie hatte geglaubt, den BMW hinter sich gelassen zu haben, als sie die Autobahn an der Ausfahrt zur A57 nach Glossop verließ. Während sie allmählich ruhiger wurde und sich klar machte, dass der Tag vorbei und alles prima gelaufen war, dass sie ihre Sache gut gemacht hatte und alle zufrieden sein würden, sah sie ihn plötzlich wieder, zwei Autos vor ihr. Das Tageslicht war im Schwinden, und die Straßenbeleuchtung wurde bereits eingeschaltet. Man konnte nur schwer Einzelheiten erkennen, aber es schien derselbe Wagen zu sein.

Weswegen war sie besorgt? Dass jemand die gleiche Route wie sie fuhr? Bestimmt taten das viele Leute. Aber es war ein Wagen, der auffiel, und er musste die ganze Strecke seit Manchester mit ihr Schritt gehalten haben. Oder vielleicht war es doch nicht der gleiche Wagen? Wie viele dunkle BMWs gab es denn auf den Straßen? Und wie viele hast du heute früh schon gesehen?

Sie kam zu der Abzweigung mit dem Schild Sheffield in Richtung Woodhead Pass, kümmerte sich aber nicht darum, sondern bog rechts auf die A57 nach Glossop ab – eine einsame, schmale Straße mit dem passenden Namen Snake, die die Pennines vom südwestlichen Teil Sheffields her überquerte. Und bevor sie Sheffield erreichte, ging es – nach Glossop – noch durch ein ländliches Gebiet. Sie schien den BMW jetzt verloren zu haben.

Als sie langsam auf den Marktplatz in Glossop zufuhr, wäre ihr irgendein Lebenszeichen recht gewesen. Es nieselte, und die Sicht durch die nasse Scheibe war schlecht. Sie schaltete die Scheibenwischer an, aber sie kratzten und schabten nur. Sie musste die Wischblätter auswechseln. Die Geschäfte lagen wenig einladend im Dunkeln, nur aus einem Imbisslokal fiel gelbes Licht auf den Gehweg, aber niemand schien dort zu sein. In den Pubs mussten doch Leute sitzen, die der Regen von den Straßen vertrieben hatte. Die leeren Gehwege ließen sie an die nicht mehr fernen, langen Winterabende denken, und das Glänzen der nassen Steinplatten machte sie frösteln.

In der Dunkelheit versuchte sie, eine Telefonzelle ausfindig zu machen. Sie hatte so gut wie versprochen, auf dem Rückweg bei Luke vorbeizukommen, und musste ihm Bescheid sagen, dass sie es erst spät oder wahrscheinlich gar nicht schaffen würde. Der anstrengende Stadtverkehr schien jetzt weniger schlimm als die Vorstellung der Dunkelheit in den Bergen, der einsamen Fahrt durch die öde Landschaft und der langen, gewundenen Straße bis nach Sheffield. Plötzlich war ihr die winterliche, nächtliche Fahrt über die Berge zuwider, obwohl die Winter heutzutage meistens nicht mehr so kalt waren, dass die Straßen in den Hochlagen unpassierbar wurden. Sie konnte sich an Fahrten in ihrer Kindheit erinnern, als sie mit ihrem Vater die Pennines überquerte und sie zwischen hohen Schneemauern fuhren und darauf hofften, dass der Schneepflug den Weg durch die Verwehungen frei gemacht hatte.

Endlich! Sie hatte doch gewusst, dass es auf dem Platz Telefonzellen gab. Sie hielt auf dem Kopfsteinpflaster an, ging schnell hinüber und fluchte, als sie in eine Pfütze trat und ihr Schuh sich mit eisigem Wasser füllte.

Sie humpelte weiter und spürte, wie ihre Zehen anfingen, am Schuh zu reiben, zog die Tür der Zelle auf und suchte in ihrer Geldbörse nach Kleingeld. Während sie auf das Freizeichen horchte, sah sie auf die Uhr. Halb acht, mindestens noch eine Stunde Fahrt bis nach Hause, dann ein großer Gin, oder nein, ein Whisky Mac, letzte Weihnachten hatte sie durch Luke diese sündhafte Mischung aus Whisky und Ingwerbier kennen gelernt. Danach ein heißes Schaumbad und schnell ins Bett. Sie spürte den leicht brennenden Ingwergeschmack schon auf den Lippen.

Das Telefon klingelte, dann hörte sie ein Klicken und Lukes Stimme. »Hinterlassen Sie eine Nachricht, ich melde mich.« Der Anrufbeantworter. Jäh überkam sie Ärger, weil er nicht da war, wenn sie ihn brauchte. Das ist nicht fair! Sie hörte den Piepston und sagte schnell: »Hallo, ich bin in Glossop. Es ist ungefähr halb acht. Es hat länger gedauert, ich fahre direkt nach Hause. In ungefähr einer Stunde bin ich dort.« Sie wartete, ob er abnahm; manchmal ließ er das Gerät laufen, um zu hören, wer anrief, aber er hob nicht ab. »Also, bis morgen«, sagte sie leise und ziemlich deprimiert.

Sie musste sowieso nicht unbedingt mit ihm sprechen, sagte sie sich, als sie zum Auto zurücklief. Es genügte, eine Nachricht zu hinterlassen. Aber sie hatte sich darauf verlassen, mit ihm reden zu können, nur zwei Minuten mit ihm verbunden zu sein, bevor sie die Fahrt über die hohen dunklen Berge und den einsamen Snake Pass antrat. Sie steckte den Schlüssel ins Schloss und hielt inne. Eine Zigarette. Sie würde eine Zigarette rauchen, denn sie fühlte sich immer noch erschöpft nach diesem harten Tag, und es wäre vernünftig, vor der Weiterfahrt fünf Minuten auszuruhen. Eigentlich – sie sah sich schnell um, aber die Straße war immer noch leer – hatte sie eine bessere Idee. Sie suchte in ihrer Tasche nach einem kleinen Beutel mit einem dünnen Joint, den Luke ihr am Abend zuvor gegeben hatte. Hatte sie ihn dabei? Ja!

Sie saß ruhig da und inhalierte den Rauch, hielt die Luft an und atmete dann langsam aus. Sie spürte, wie sie sich entspannte und ihre Furcht vor der einsamen Fahrt sich langsam verflüchtigte. Ihr wurde angenehm schwindelig, und das Licht der Straßenlaternen brach sich und blitzte in den Regentropfen auf. Genug. Sie musste noch fahren. Sie stellte den Sitz bequemer ein und legte den Sicherheitsgurt an. Dann rückte sie den Spiegel zurecht, war sich aber bewusst, dass sie nur versuchte, das Unaufschiebbare hinauszuzögern. Ihre Furcht hatte sich in Müdigkeit verwandelt, und sie wäre am liebsten einfach sitzen geblieben, um im Schutz des Wagens die Stille zu genießen. Aber je eher sie weiterfuhr, desto besser.

Sie drehte den Zündschlüssel um, sah in den Rückspiegel, legte den Gang ein, ließ die Kupplung kommen und fuhr los. Hinter sich hörte sie ein anderes Auto starten und anfahren. Sie war also nicht die Einzige, die sich in dieser Nacht zum Snake Pass aufmachte. Die Scheinwerfer eines Wagens hinter sich zu haben würde tröstlich sein und das Gefühl vertreiben, die Welt sei untergegangen und sie wäre die einsame Überlebende einer Katastrophe. Aber auf dem letzten ebenen Stück, bevor die Straße anstieg, kam der Wagen hinter ihr näher und überholte sie zügig und mühelos. Aufgeblasener Geldsack. Teilnahmslos sah sie die Rücklichter vor sich in der Dunkelheit verschwinden. Sie war bekiffter, als sie gedacht hatte, und musste vorsichtig fahren.

Sie fröstelte und drehte die Heizung auf. Der Wind heulte und drückte den Motorengeruch ins Wageninnere. Ihre Füße waren heiß, aber sonst fror sie in der eiskalten Luft, die durch die undichten Fenster und die klappernde Tür hereinkam.

Sie fuhr hinter Glossop den Berg hinauf. Die Straße machte eine Rechtskurve und führte dann an einem Haus vorbei, durch dessen Fenster ein warmer Lichtschein auf die Straße drang, dann nach links. Auf der einen Seite waren Felsen, auf der anderen ein schroffer Abhang. Es war eine lange, steile Steigung. Sie schaltete in den dritten, dann in den zweiten Gang herunter. Der Motor dröhnte. Weiße Wölkchen flogen vor ihr durch die Luft, und plötzlich steckte sie in einer Nebelbank, in der die grellen Scheinwerfer sie blendeten. Sie fuhr langsamer, spähte hinaus und versuchte, etwas zu erkennen, denn auch die Scheibenwischer halfen nichts. Dann war es wieder klar, die Scheinwerfer beleuchteten die nasse Straße, die Felsen und das Gras des Heidemoors, auf dem ein Schaf hinter einem Felsbrocken Schutz suchte. Sie war fast auf dem Gipfel, und die Straße stieg nicht mehr an. Um sie herum war nichts als wilde Landschaft, flaches Torfmoor und Grasbüschel. Ihre Scheinwerfer spiegelten sich im Wasser der dunklen Tümpel. Bald würde die Straße abfallen, an Doctor’s Gate vorbei, zwischen Bleaklow und Kinder Scout hinunter, zwischen dicken Bäumen hindurch und weiter durch die leere Nacht.

Sie war halb in Trance, die Straße verschwand unter den Rädern. Bald zu Hause, bald zu Hause ging es ihr wie ein beruhigendes Mantra durch den Kopf. Sie dachte an Luke und fragte sich, ob sie ihn anrufen solle, wenn sie heimkam. Die letzten paar Monate mit ihm waren schön gewesen. Er würde ihr fehlen … Lichter tanzten durch die Dunkelheit, und sie betrachtete sie teilnahmslos. Der Wagen geriet ins Schleudern, sie schreckte auf und konzentrierte sich. Den Joint zu rauchen war eine schlechte Idee gewesen. Ärgerlich kurbelte sie das Fenster herunter und zuckte zurück, als der Regen auf ihr Gesicht und ihren Arm traf. Waren da Lichter vor ihr? Sie erinnerte sich an den Wagen, der sie überholt hatte, als sie aus Glossop herausfuhr. Aufgeblasener Geldsack… Sie versuchte, sich zu erinnern, wie der Wagen ausgesehen hatte. Dunkel, es war ein dunkles Auto gewesen …

Ohne jegliche Vorwarnung streikte der Motor ihres Wagens. Was zum…? Sie trat aufs Gas. Nichts. Sie sah auf den Benzinanzeiger. Noch halb voll. Sie hatte heute früh aufgetankt. Der Wagen rollte noch ein Stück weiter, wurde immer langsamer. Sie fuhr an die Seite und blieb stehen. Was nun …? Das Licht der Scheinwerfer brach eine Schneise durch Regen und Finsternis. Ihr war kalt. Mit steifen, ungeschickten Fingern drehte sie den Schlüssel im Zündschloss. Der Motor jammerte ein paar Mal, sprang aber nicht an. Sie versuchte es noch einmal und bemerkte, dass das Scheinwerferlicht dunkler wurde. Schnell schaltete sie die Scheinwerfer aus. Die Batterie war alt. Sie hätte das Licht sofort abdrehen sollen.

Sie saß da, starrte in die Dunkelheit und hörte den Regen aufs Dach und gegen die Türen trommeln und den Wind pfeifen. Dann sah sie die Lichter vor sich. Plötzlich kamen aus der Finsternis zwei Lichtpunkte auf sie zu. Wie von einem Auto, aber… es waren Rücklichter, ein Auto kam rückwärts auf sie zugefahren. Ein großes Auto, ein dunkles? Sie drehte den Schlüssel noch einmal im Schloss, und der Motor schien anzuspringen, starb dann aber wieder ab.

Der Motor war tot.

Nachtengel

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