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Sehnsucht nach den Roten

Stell dir vor, die Roten spielen – und du kannst die Partie im Niedersachsenstadion nicht live vor Ort verfolgen. Für mich gibt es kaum einen dramatischeren Umstand. Entsprechend werden Urlaube vorzugsweise in der spielfreien Zeit verbracht und berufliche Termine wegen angeblicher »Unabkömmlichkeit« umgelegt. Zwar erschweren die kurzfristigen Spielansetzungen heutzutage erheblich die zuverlässige Planung, doch sollte es mir eigentlich immer gelingen, live vor Ort zu sein. Als ich im Jahr 2001 einen viermonatigen Arbeitsaufenthalt in den Niederlanden hatte (siehe dazu auch Kapitel »Auswärts«), verpasste ich trotzdem kein Heimspiel – und wurde von Ralf Rangnick und seinem Team um den etwas verrückten, aber genialen Jan Simak mit Traumfußball und den Durchmarsch in die 1. Liga belohnt.

Ein Jahr später ging es für drei Monate nach Warschau. Von der polnischen Hauptstadt gab es damals nach Hannover noch keine Direktflüge, und die Zugfahrt dauerte acht Stunden. Selbstverständlich nahm ich diese Strapaze auf mich, um die ersten Bundesligaspiele nach 14 Jahren Zweit- und Drittklassigkeit live zu erleben. Ein Spiel sollte ich dann aber doch verpassen. Es war das Heimspiel gegen Borussia Dortmund. Ich dachte, ich müsste mir ja auch mal Warschau etwas genauer angucken – und sollte diesen Entschluss bitter bereuen. Völlig nervös, an Sightseeing war gar nicht zu denken, rannte ich wie ein aufgescheuchtes Huhn durch die Innenstadt Warschaus, um auf den versprochenen SMS-Service meines sehr guten Kumpels Eppe zu warten. Der Ticker ließ auch nicht lange auf sich warten: Jiri Stajner schießt Elfmeter nicht ins Tor, sondern Richtung Maschsee; Dame Diouf fliegt mit Rot vom Platz – ich war mit meinen Nerven am Ende. Nie wieder würde ich, nur um mir läppische 16 Stunden Hin- und Rückfahrt im Zug zu ersparen, leichtfertig auf ein Spiel meiner Roten verzichten. Zwar ging das Spiel gegen den BVB verloren, doch ich ärgerte mich schwarz, bei einer so turbulenten Begegnung nicht live dabei gewesen zu sein – und meine Nerven wurden in der Ferne mehr strapaziert, als es vor Ort der Fall gewesen wäre. Im Stadion hätte ich das Geschehen durch meine Anfeuerungsrufe beeinflussen oder mit Freunden zumindest gemeinsam den Frust abbauen können.

Wenn im Niedersachsenstadion der Ball rollte, sollte ich seit der Saison 1984/85 ansonsten immer live vor Ort sein – eigentlich. Denn es gab noch zwei Ausnahmen: Die eine war mein Studienjahr in Südafrika 1996, die andere meine Zeit als Gastprofessor in Washington DC von Mitte 2006 bis Mitte 2007.

Die Zeit in Südafrika war grauenvoll, trotz eines schönen Anfangs. Zwei Jahre nach Ende der Apartheid feierte das Land seine Wiederaufnahme in die Weltgemeinschaft. Nachdem es bereits erfolgreich eine Rugby-WM ausgerichtet (und gewonnen) hatte, fand Anfang 1996 auch der Afrika-Cup in dem Land von Präsident Nelson Mandela statt. Dieser zählt neben einigen Fußballern, über die ich später noch schreiben werde, definitiv zu meinen Idolen.

Nachdem ich am Vortag noch über den zugefrorenen hannoverschen Maschsee spaziert war, stieg ich am nächsten Tag bei strahlendem Sonnenschein in Johannesburg aus dem Flieger. Mit meinem Kommilitonen Carsten, der sich ebenfalls für den Studienaufenthalt in Südafrika entschied, nutzte ich die Gunst der Stunde und besuchte sowohl das Halbfinale als auch das Endspiel, das »Bafana Bafana« – so der Rufname des südafrikanischen Teams – souverän gewann. Was interessiert mich die 2. Liga, in der 96 damals kickte, dachte ich für einen Moment, wenn ich solchen Weltereignissen wie dem Finale des Afrika-Cup-Finale beiwohnen kann.

So kann man sich täuschen. Die Roten stiegen in der Saison 1995/96 in die Regionalliga ab. Da das Internet noch in den Anfängen steckte, hing der Informationsfluss im Wesentlichen vom Faxgerät in meiner Wohnung in Johannesburg ab. Zuverlässig ratterte es am Morgen nach den 96-Spielen, wenn mir mein Vater die Spielberichte aus den hannoverschen Zeitungen sendete. So hilflos, so untätig den Sturz der Roten in die Drittklassigkeit zu verfolgen, es war grauenvoll. Wahrscheinlich war ich an allem schuld – wie konnte ich in so weiter Ferne die Mannschaft unterstützen? Natürlich gar nicht.

Umso schöner war es dann aber auch, als zu einem Zeitpunkt, da ich mit meinem Fußball-Fanleben fast schon abgeschlossen hatte, wieder Faxe eingingen: Auftaktsieg in Herzlake, Euphorie um neue Spieler wie Otto Addo, Zuschauerrekorde (für Drittliga-Verhältnisse) in Hannover – die Artikel machten Lust auf Fußball auch in Liga 3.

Mein erstes Spiel in der Regionalliga, ziemlich direkt nach meiner Rückkehr nach Deutschland im Herbst 1996, war ein hoher Kantersieg gegen die Amateure vom Hamburger Sportverein (7:0, 14. Spieltag). Die Fußballwelt war für mich wieder in Ordnung, auch dank einer Dauerkarte, die mir mein Patenonkel für die Rückrunde schenkte.

Eine komplette Halbserie zu verpassen, wie die Abstiegs-Rückrunde der Saison 1995/96, so etwas sollte mir nie wieder passieren.

Ein Jahrzehnt später wurde meine Leidensfähigkeit aber noch mal ordentlich auf die Probe gestellt. Im Mai 2006 erhielt ich die Nachricht, dass ich ab August 2006 für ein Jahr Gastprofessor in Washington DC werden sollte. An der renommierten School of Foreign Service der Georgetown University, wo unter anderem der ehemalige US-Präsident Bill Clinton, EU-Kommissionspräsident Barroso, der spanische Kronprinz Felipe sowie der jordanische König Abdullah II. studiert haben und Madeleine Albright, die ehemalige US-Außenministerin, als Dozentin lehrt. Nach meiner Habilitation im Fach Politikwissenschaft war das der absolute berufliche Höhepunkt. In die Euphorie mischten sich aber schnell Zweifel: Würde ich die Trennung von meinen Roten verkraften? Die Erinnerungen an die Zeit in Südafrika wurden wieder wach: Würde ich wieder leiden, würde es wieder einen sportlichen Absturz geben, oder würde ich gar zum Baseball-Fan konvertieren?

Als Präventivschlag gegen Letzteres wurde ich noch kurz vor meinem Abflug Vereinsmitglied. Während sich die meisten Dauerkarten-Besitzer, die zugleich Mitglied sind, für eine goldene Dauerkarte entscheiden, bestand ich zur Verblüffung der Mitgliederbetreuung auf zwei getrennten Karten: einen Mitgliederausweis und eine Dauerkarte. Letztere konnte ich dann zum Verleihen bei meinem Dauerkartennachbarn Malte in Hannover deponieren, während der Mitgliederausweis prominent in meinem Portemonnaie platziert und bei jedem Bezahlvorgang in den USA sichtbar wurde.

Aus Washington schrieb mir die Direktorin: Mein Arbeitsvertrag laufe ab dem 1. August 2006, aber da die Vorlesungen erst Ende August beginnen, würde es ausreichen, wenn ich Mitte August mein Büro bezöge und vorher von zu Hause aus arbeite. »Mitte August« – der erste Bundesliga-Spieltag sollte am Wochenende des 11./12./13. August liegen. Somit buchte ich meinen Flug für Montag, 14. August, und hoffte auf ein Heimspiel, wäre aber im Zweifelsfall auch nach Cottbus oder Mainz gefahren. Meine Stoßgebete wurden erhört, die Saison begann mit einer Partie in heimischen Gefilden gegen Werder Bremen. Dabei erlebte ich nicht nur das bewegende Abschiednehmen von Per Mertesacker, der vor der Saison nach Bremen gewechselt war, sondern auch eine 2:4-Auftaktniederlage. Dennoch reiste ich mit einem guten Gefühl am nächsten Tag in die Hauptstadt der USA. Ich bin dabei gewesen, und nicht nur das erste, sondern höchstwahrscheinlich auch das letzte Rückrunden-Heimspiel sollte ich miterleben. Über Weihnachten gab es für einige Wochen Vorlesungsunterbrechung, und ich würde genau zum Spiel gegen Arminia Bielefeld wieder in der guten alten Landeshauptstadt sein – wenn die DFL das Spiel nicht für Freitagabend terminieren sollte. Dies war zum Glück nicht der Fall, und so landete ich am Samstagmittag in Hannover und machte mich sogleich in die AWD-Arena auf, die für mich immer noch das gute alte Niedersachsenstadion ist.

Ich sah aber in der Hinrunde der Saison 2006/07 nicht nur die Heimspiele gegen Bremen und Bielefeld, sondern – für mich völlig überraschend – auch die gegen Leverkusen und Stuttgart sowie das Pokalspiel gegen Duisburg. Vortragsanfragen aus Deutschland – ich bin ein Experte für erneuerbare Energien – kam ich gerne nach, nachdem mir nicht nur die Übernahme der Flugkosten zugesichert wurde, sondern mein Blick auf den Spielplan auch ergab, dass dies prima mit einem Heimspiel zu verbinden ist. In der Rückrunde hatte ich ähnliches Glück und sah das Heimspiel gegen Dortmund (das 4:2 gewonnen wurde und in dem Arnold Bruggink seine ersten beiden Tore für 96 erzielte), die Auswärts-Niederlage in Bielefeld und das letzte Heimspiel gegen Nürnberg, in dem leider die UI-Cup-Teilnahme vergeigt wurde.

Auch das restliche Saisongeschehen konnte ich in den USA intensiv verfolgen, vor allem dank des Internets sowie des nordamerikanischen Spartensenders GOL TV, der bis zu vier Bundesliga-Spiele am Wochenende live überträgt. Meine Vermieterin Tracy fragte ich, ob sie mich zu einem glücklichen Mann machen wolle. Fragend und erwartungsvoll zugleich schaute sie mich an. Schließlich, nach einer kleinen Kunstpause, schob ich nach, ob sie diesen Fußballsender für mich abonnieren könnte. Sie lachte – und griff zum Telefonhörer, um beim Kabelanbieter Comcast die Bestellung in Auftrag zu geben.

Als Alternative zum heimischen Fernseher und zur Bundesligakonferenz im Internetradio (von NDR 2 oder der Deutschen Fußball Liga, DFL) bot sich noch im Herzen der schönen Stadt, mitten auf der Connecticut Avenue, die Lucky Sports Bar an, die neben der Champions League (zu der CL-Zeit musste ich in der Regel allerdings an der Uni unterrichten) die Spiele aus den großen europäischen Ligen übertrug. Die Lucky Sports Bar war ein kosmopolitischer Ort und Treffpunkt von Menschen aus verschiedensten Nationen. Der Wirt, ein fußballverrückter Waliser, hat die Bar mit Fanschals aus aller Herren Länder verziert und bietet seinen Gästen nicht nur das zuweilen leicht gewöhnungsbedürftige amerikanische, sondern auch europäisches Bier an. Noch dazu glänzt die Lucky Sports Bar mit 25 Bildschirmen und diversen Satellitenprogrammen, so dass der Satz auf der Homepage »We’re ready for your favorite team« mehr als eine hohle PR-Phrase ist.

Hier lernte ich auch US-Amerikaner kennen, die eigens zur WM nach Deutschland eingeflogen waren und von den Stadien sowie den (aus ihrer amerikanischen Perspektive) perfekt organisierten öffentlichen Verkehrsmitteln schwärmten. Beseelt von mir und meinem Besucher Malte, versprach uns ein Amerikaner sogar, auf der Webseite von »Hanover Ninety-six« ein Trikot von Steven Cherundolo zu ordern. Ob das amerikanische Freundlichkeit oder ernster Vorsatz war, wir werden es nie erfahren …

Schöne Stunden verlebte ich in der Lucky Sports Bar, übrigens ganz ohne die damals noch aus deutschen Gaststätten gewohnten Rauchschwaden: In Washington DC galt schon damals, wie in den meisten anderen US-Bundesstaaten auch, ein striktes Rauchverbot. In der Lucky Bar sah ich nicht nur Per Mertesackers erstes Champions-League-Tor im Dress von Werder Bremen gegen Chelsea London (wegen eines Feiertages in den USA konnte ich – offenbar eine Fügung des Fußballgottes – diesem historischen Ereignis beiwohnen statt unterrichten zu müssen), sondern auch gemeinsam mit meinem Besucher Malte den Auswärtssieg der Roten in Wolfsburg durch zwei Treffer von Thomas Brdaric.

Nicht nur mit Besuchern wie Malte konnte ich über die Roten fachsimpeln. In Washington lernte ich über meinen inzwischen guten Freund Axel von der Deutschen Botschaft (leider Fan des Hamburger Sportvereins, also des kleinen HSV) noch den aus Hannover stammenden Jan kennen. Sein Opa Günther Neutze war in den fünfziger, sechziger und siebziger Jahren nicht nur einer der bekanntesten deutschen Schauspieler, sondern auch bundesweit als Fan der Roten bekannt. Bei seinem Deutschland-Aufenthalt Weihnachten 2007 gewährte mir Jan einen Einblick ins Fotoalbum der Familie Neutze, das unter anderem Zeitungsartikel mit Fotos von Günther als Teilnehmer beim 96-Training zeigt sowie einen Ausschnitt aus der Stadionzeitung mit einem Porträt des Promi-Fans.

Mit seinem Bruder Hanns Lothar, ebenfalls ein begnadeter Schauspieler, besuchte Günther 1954 die Mannschaft im berühmten »Geheimtrainingslager« der Roten in Bendestorf vor dem historischen Meisterschaftsendspiel gegen Kaiserslautern in Hamburg. Wie der Autobiografie von Fiffi Kronsbein zu entnehmen ist, hat sich der Trainer darüber »besonders gefreut«.

Mit Jan und später auch seinem Kumpel Lutz konnte ich in der Ferne über die Roten fachsimpeln. Einmal in der Woche spielten wir mit dem Team der Deutschen Schule Fußball, und Jan ließ es sich hierbei nie nehmen, in der US-Hauptstadt im Trikot der Roten aufzulaufen. Einmal hatte Jan, der bei einem der vielen Think Tanks in der Stadt arbeitet, einen beruflichen Termin in der Ukraine. Seine gesamte Flugroute organisierte er so, dass er für ein paar Stunden in Hannover war und (mit meiner Dauerkarte) das Spiel der Roten gegen Schalke besuchen konnte. Umgeben von solch glühenden 96-Verehrern fühlte ich mich in Washington DC schnell zu Hause.

Zumal eine neue Zeit angebrochen war, das GOL-TV-Zeitalter. Auch im fernen Amerika war mir die heimische Bundesliga nun ganz nah. Fortan hörte ich nicht nur freitags mittags auf zu arbeiten – bei sechs Stunden Zeitunterschied begann das Freitagspiel bereits um 14.30 Uhr meiner (Ostküsten-)Zeit –, sondern stellte mir selbst nach durchzechten Nächten samstags für 9 Uhr den Wecker, um Punkt 9.30 Uhr zur Bundesliga-Übertragung vor dem Fernseher zu Hause oder in der Lucky Bar Platz zu nehmen …

Problematisch wurde es nur, wenn Bundesliga-Spieltage unter der Woche stattfanden und ich zeitgleich (eigentlich) unterrichten musste. Und hier folgt nun eine Beichte der besonderen Art: Als die Roten zum Auswärtsspiel bei Bayern München antraten, hätte ich normalerweise meinen Kurs »Methods of Policy Analysis« (Methoden der Politikanalyse) unterrichten müssen. Ich aber wollte an jenem Mittwochnachmittag nicht Politik, sondern das 96-Spiel beim Rekordmeister analysieren. Folglich nuschelte ich meinen Studierenden gegenüber mit bedeutungsvoller Miene etwas von einem wichtigen Termin (was ja nicht ganz gelogen war) – und verlegte kurzerhand den Kurs …

Für diese Entscheidung sollte ich nicht enttäuscht werden: Jiri Stajner luchste seinem Gegenspieler, dem Argentinier Martin Demichelis, an der Außenlinie den Ball ab und legte schön quer zum Ungarn Szabolcs Huszti, der gekonnt vollendete. Am Ende feierten die Roten einen historischen Erfolg in München und siegten 1:0 in der Allianz-Arena. Hätte ich zu dieser Stunde pflichtschuldig unterrichtet, ich wäre meines Lebens nicht mehr froh geworden …

Verrückt nach den Roten

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