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Geleitwort von Ralf Rangnick

Das Buch von Danyel Reiche »Verrückt nach den Roten« ruft bei mir viele Erinnerungen an meine Tätigkeit als Trainer von Hannover 96 wach. Die knapp drei Jahre in Niedersachsen von Mitte 2001 bis März 2004 bleiben mir unvergessen und mit vielen angenehmen Assoziationen verbunden.

Zuerst sind da nicht nur die sportlichen Erfolge, sondern die Emotionen, die wir auslösen konnten. Unsere offensive Spielweise war von Abenteuerlust und extremer Risikobereitschaft geprägt. Von der harten Arbeit und akribischen Planung, die hinter der Spielweise steckte, war auf dem Platz nichts zu sehen. Wir haben einen »geilen« Fußball gespielt, so dass wir die meisten Punkte und die meisten Tore vorweisen konnten, die je ein Aufsteiger hatte.

Unvergessen bleiben mir die 45.000 Zuschauer gegen Babelsberg und Schweinfurt, nicht gerade die attraktivsten Mannschaften der Liga. Die Fans kamen nur wegen uns und unserer Art, den Fußball mit Leichtigkeit zu zelebrieren.

Geprägt wurde er vom Tschechen Jan Simak, vielleicht der beste Fußballer, den ich je trainiert habe. Und dazu gehörten auch andere Topspieler wie Krassimir Balakov und Alexander Hleb vom VfB Stuttgart oder Schalkes Lincoln.

Bevor ich in Hannover anfing, besuchte ich ein Heimspiel, um mir vor Ort ein persönliches Bild machen zu können. Ich erinnere mich noch genau: Gerade einmal 3.500 Zuschauer verloren sich beim Spiel gegen Greuther Fürth im weiten Rund der AWD-Arena, die damals noch Niedersachsenstadion hieß. Zu der Zeit, es war Mitte 2001, waren die zwölf Jahre in Liga 2 und 3 überall zu spüren. Nur der Vereinsname und das altehrwürdige Stadion erinnerten noch an die Tradition, die ich nahezu mit der des VfB Stuttgart gleichsetzte. Doch musste ich schnell feststellen, dass nahezu jegliche Infrastruktur fehlte. Also galt es, sowohl die Fans zurückzugewinnen als auch wichtige Positionen, die für ein modernes Profiunternehmen unabdingbar sind, neu zu schaffen bzw. zu besetzen. Fan-Betreuung und Öffentlichkeitsarbeit fanden noch nicht statt. Wir mussten auch in diesen Bereichen Schritt für Schritt Aufbauarbeit leisten, stellten beispielsweise einen Mannschaftsbetreuer ein und schufen die Voraussetzungen für Video-Spielanalysen und eine Scouting-Abteilung.

Auch die Medienlandschaft, in jeder Stadt anders strukturiert, galt es einschätzen zu lernen und damit umzugehen. Zwar ist Hannover 96 in erster Linie ein regionales und nicht wie Schalke 04 ein bundesweites Thema, doch schafft die Existenz und Konkurrenz zweier Boulevard-Zeitungen eine ganz besonders reizvolle Situation. Wie überall galt es das Lob in guten Zeiten nicht überzubewerten und mit Kritik in schlechteren Zeiten zu leben, Störfeuer auszumachen und versuchen auszuschalten. Eine spannende Aufgabe, die zum Trainerjob dazugehört. Noch heute pflege ich zu dem ein oder anderen Hannoveraner Journalisten ein gutes Verhältnis.

Fünf höherklassige Fußballklubs stehen inzwischen auf meiner Trainerliste, neben Hannover noch Schalke, Stuttgart, Ulm und jetzt Hoffenheim. Noch heute verfolge ich die Entwicklung von Hannover 96 mit besonderem Interesse. Nach wie vor besteht eine emotionale Verbindung. Denn für mich persönlich war das auch eine ganz besondere Zeit. Viele – selbst meine Frau – hatte die Entscheidung, das Engagement in Hannover zu übernehmen, überrascht. Es war meine erste Trainerstation nördlich des Mains und damit auch ein Abschied von zu Hause. Während ich von meinem Heimatort Backnang nach Hoffenheim täglich pendle und in weniger als einer Stunde am Arbeitsplatz bin, war die Entfernung nach Hannover deutlich größer, so dass ich immer wieder längere Zeit von meiner Familie räumlich getrennt war.

Trotz dieser Trennung fieberten meine beiden fußballbegeisterten Söhne mit 96. Der kleinere Sohn liebte den Senegalesen Dame Diouf, ansonsten standen bei den Kids Jan Simak, Nebojsa »Krupi« Krupnikovic und später, in der Bundesliga, Jií Štajner hoch im Kurs. Noch heute gibt es bei uns viele Erinnerungen wie Autogrammkarten und Trikots. Vom Eishockeyspiel, das wir einmal mit den Roten gegen die Hannover Scorpions aus der DEL gemacht haben, hängt bei uns zu Hause sogar noch ein Trikot an der Wand.

Auch jeder Gang in den heimischen Weinkeller ist eine Erinnerung an die Zeit bei Hannover 96: Zum Abschied hatte mir eine Gruppe von Fans einige Flaschen Wein geschenkt, mit eigens angefertigten Etiketten, die auf eine sehr kreative Art an meine Zeit bei den Roten erinnerten. Diese Flaschen werden nur zu ganz besonderen Anlässen geöffnet.

Meine Verbindung zu den 96-Fans war sehr emotional, so wie die Fans auch mit dem Verein sehr eng verbunden sind. Als ich in der zweiten Bundesliga-Saison nach der Winterpause überlegte, vorzeitig aufzuhören, ich durch viele kleine Konflikte mürbe geworden war, waren es echte 96-Fans, die mich ermunterten weiterzumachen. Sie warteten vor dem Hotel am Maschsee, wo ich in meiner Hannover-Zeit wohnte, auf mich und redeten intensiv auf mich ein. Das war ein Schlüsselerlebnis, um dann doch zu bleiben.

An dieser Stelle kann ich ja gestehen, dass ich als Kind ein glühender Fan von Borussia Mönchengladbach und der attraktiven Spielweise unter Hennes Weisweiler war. Rund zehn Jahre währte meine Liebe zu den Fohlen. Aufgrund dieser Kindheitserfahrung kenne ich gut die Perspektive der Fans. Sie sind der Motor eines Fußballvereins und auch die emotionale Triebfeder für die Mannschaft, in guten wie in schlechten Zeiten. Sie spüren, wann ein Verein Hilfe, wann eine Mannschaft Unterstützung braucht. Sie sind hart in der Kritik und leben die Emotionen, die unseren Sport ausmachen. Ohne Fans wäre der Sport für mich gar nicht vorstellbar. Deshalb habe ich auch ihre Reaktion verstanden, als sie nach dem Stadionneubau auf die Barrikaden gingen, weil die Preise explodierten. Dieser drohende Riss zwischen Fans und Verein hat auch die Mannschaft belastet und damit auch die Leistung. Ich habe da gelernt, wie wichtig der Umgang mit den Fans für den Verein und die gegenseitige Akzeptanz ist. Es hat mir geholfen, meinen ohnehin offenen Umgang mit den Fans weiter zu intensivieren und ihre Sorgen ernst zu nehmen.

Das gilt in guten wie in schlechten Zeiten. Unvergessen bleibt mir da die Derby-Niederlage im Pokalspiel gegen Eintracht Braunschweig. Das war eine brutale Enttäuschung. Die sehr emotionalen Reaktionen waren für mich nachvollziehbar. Die Mannschaft ist aber sehr gut mit der schwierigen Situation umgegangen und hat sich den Fans gestellt. Ich bin vor dem nächsten Spiel in Köln in den Fanblock gegangen und habe mit ihnen diskutiert, sie eindringlich gebeten, uns auch nach der für alle Beteiligten schmerzhaften Pokal-Niederlage zu unterstützen und treu zur Seite zu stehen. Wir haben nicht nur das Spiel in Köln gewonnen, sondern auch die Fans, weil wir einen Schritt auf sie zugegangen sind und ihre berechtigte Enttäuschung sehr ernst genommen haben.

Es war schon bewundernswert, wie viele Fans nach der Pokalniederlage zum Auswärtsspiel nach Köln mitgefahren sind. Auch das war ein Beweis für die enge Verbundenheit. Wer behauptet, Fans, die ihr Leben nach dem Spielplan ihres Lieblingsteams planen, zeugen von wenig Intelligenz, liegt falsch. Nirgends lassen sich Emotionen so stark ausleben wie im Sport, besonders im Fußball. Ein guter Freund von mir, leider viel zu früh an Leukämie verstorben, war hochintelligent und beruflich sehr erfolgreich. Wenn es aber um seinen Lieblingsklub Arsenal London ging, war er ein anderer Mensch. Der Fußball vereint längst alle Gesellschaftsschichten. In Deutschland hatte Fußball viel zu lange das Image eines Sports einfacher Leute. In England, wo Fußball-Fans schon immer einen erheblichen Querschnitt der Gesellschaft abbildeten und ihren Vereinen selbst dann die Treue halten, wenn sie wie Nottingham Forest oder Leeds United nur noch in der dritten Liga spielen, war das von jeher ganz anders.

Zu der Entwicklung bei uns haben sicherlich die neuen Stadien, in denen sich Frauen und Familien ebenso sicher und wohl fühlen wie die sportbegeisterten Hardcore-Fans, und die enorme Medienpräsenz beigetragen. Ein Prozess, der nach dem WM-Titelgewinn 1990 begann und noch immer nicht abgeschlossen ist. Die Zuwachsraten und jährlich neuen Zuschauer-Rekordzahlen belegen das. Heute ist es ja fast schon so, dass man ein Außenseiter ist, wenn man zu Wochenbeginn im Büro die Bundesliga-Ergebnisse nicht kennt.

Auch dass Danyel Reiche mit seinem persönlichen Hintergrund ein Fußballbuch schreibt, ist für mich Ausdruck dieser Entwicklung. Selbst Autoren mit hohem Bildungsgrad werden zu Fußball-Fans und bekennen sich offen dazu. Ich finde das Buch klasse. Ich konnte mich beim Lesen sofort in meine Zeit in Hannover hineinversetzen und hatte viele extrem positive Erinnerungen. »Verrückt nach den Roten« erinnert mich an das Kult-Buch »Fever Pitch« von Nick Hornby. Beide Werke sind eine vergnügliche Lektüre, die auf leichte Art in die Psyche der in positiver Hinsicht verrückten Fußball-Fans eintaucht und sie zu verstehen hilft.

Ralf Rangnick, Trainer bei Hannover 96

vom 23. Juni 2001 bis 7. März 2004

Verrückt nach den Roten

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