Читать книгу Gestohlene Seelen - Darian North - Страница 10

Kapitel 4

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Dan wachte in einem Krankenhauszimmer auf. Es war Nacht, aber ein Licht war an, das seinen Augen weh tat. Er drehte den Kopf zur Seite. Im Bett neben ihm lag ein Patient. Er war sehr alt, und seine Lippen bewegten sich, als schnarche er, doch nur ein leises Zischen drang hervor.

Warum war er im Krankenhaus?

Er konnte sich noch dunkel an eine Fahrt im Sanitätswagen erinnern und daran, wie er in der Notaufnahme ein hektisches Gewirr aus Klinikkleidung, Labormänteln und Augen, die ihn über Operationsmasken hinweg anstarrten, über sich sah. Er wußte noch, daß ihm das zu dem Zeitpunkt merkwürdig erschienen war, so als sei er ein Zuschauer und nicht selbst an der Szene beteiligt.

Er versuchte sich zu bewegen, doch er war an Kabel und Schläuche angeschlossen. Sich zu bewegen war zuviel Aufwand. Und er war so müde. Er schloß eine Minute lang die Augen. Als er sie wieder aufschlug, war Tageslicht. Er war noch immer in der Klinik. Die Kabel und Schläuche waren verschwunden. Der alte Mann war ebenfalls weg, doch hatte es den Anschein, als sei seine Abwesenheit nur vorübergehend.

Warum war er im Krankenhaus? Bis auf ein paar wunde Stellen und einen eigentümlichen Geschmack im Mund fühlte er sich relativ normal. Er setzte sich auf und schwang die Beine über den Bettrand. Schmerzen schössen ihm durch den Kopf, und sein Magen begehrte warnend auf. Vielleicht fühlte er sich doch nicht so normal.

Er musterte das Zimmer. Auf dem Nachttisch des alten Mannes waren ein Telefon und ein Karton Papiertaschentücher. Auf seinem eigenen stand lediglich ein Krug mit Wasser. Er zog die Schublade auf. Sie enthielt einen Willkommensbrief der Klinik und ein Paar Wegwerfhausschuhe aus Papier. Er zog sich die Pantoffeln über, hielt sich die Rückseite seines Baumwollhemds zu und schlurfte zu dem kleinen Wandschrank bei der Tür. Die eine Seite des Schranks war leer. Die andere enthielt einen kleinen gebrauchten Anzug, der vermutlich dem alten Mann gehörte.

Er warf einen Blick in das Bad. Er spähte zur Zimmertür auf einen leeren Korridor hinaus. Er ging zu seinem Bett zurück und drückte auf den Alarmknopf.

»Kann ich Ihnen helfen?« fragte eine Stimme durch einen Lautsprecher an der Wand über seinem Bett.

»Was für ein Tag ist heute?«

»Dienstag.«

»Ich kann meine Kleider nicht finden«, sagte Dan.

»Ich schicke Ihnen gleich jemanden rüber ins Zimmer.«

»Was fehlt mir überhaupt?«

»Die Ärzte sind gerade auf ihrer Visite unterwegs. Sie können sie dann fragen.«

Er trank etwas Wasser und benutzte die Toilette. Dienstag. Vierundzwanzig Stunden hatten sich in Luft aufgelöst. Mehrere Minuten lang betrachtete er das Telefon am Bett des alten Mannes, bis er entschied, daß es keinen Grund gab, weshalb er es nicht benutzen sollte. Ruhig wählte er seine Wohnungsnummer. Es klingelte vergeblich. Dann rief er bei Felice an. Auch dort meldete sich niemand. Seine Armbanduhr war weg, und er wußte nicht, wie spät es war. Er ging zum Fenster und schaute hinaus. Außer einem Stück Teerdach auf einem niedrigeren Abschnitt des Gebäudes war nichts zu sehen, aber er konnte den Himmel erblicken, und aus der Position der Sonne leitete er ab, daß es Nachmittag war. Vielleicht war Felice gerade dabei, Hana von der Schule abzuholen.

Eine Pflegerin kam herein, und er fragte sie nach seiner Kleidung. Sie versprach vage, daß sie nachschauen werde, und wies ihn an, wieder ins Bett zu gehen. Sie ging hinaus, ohne abzuwarten, ob er sich auch fügte.

Er setzte sich in einen türkisfarbenen, vinylbezogenen Sessel. Aus dem Polster entwich Luft, als sein Gewicht darauf traf, und das Plastik fühlte sich unter seinem kaum verhüllten Rücken und Hintern unangenehm an, aber er wollte nicht wieder ins Bett zurückgehen. Nun fiel ihm der auf sein Gesicht gerichtete Gewehrlauf wieder ein, die Handschellen, der Streifenwagen und die Vernehmung. Müßte er eigentlich nicht im Gefängnis sein?

Gefängnis.

Wie bizarr. Jetzt war er ein Verbrecher. Ein Verbrecher ohne Reue.

Er würde erneut gegen die Gesetze verstoßen, wenn sich eine Chance ergab, Alex zu retten.

Alex. Alex. Alex.

Er hatte sie, blaß und leblos, aus dem Wasser gezogen. Aus dem Wasser gerettet.

Messerscharfe Erinnerungen durchzuckten ihn. Die endlosen Stunden bangen Wartens auf die Nachricht, daß sie am Leben bleiben würde und daß sie wieder bei Bewußtsein war. Darm wieder warten, als er sich eigensinnig geweigert hatte, zu gehen, ehe er sie zu sehen bekam, als er die Krankenschwestern bedrängt, die Tür zu Alex’ Zimmer belagert und die Ärzte aufgefordert hatte, sich doch für ihn einzusetzen. Und dann, endlich, die Erlaubnis, sie zu sehen.

Ihr Gesicht war weiß vor dem Hintergrund des Kopfkissens. Ihre Augen waren dunkel umschattet. Ihre langen Haare schlaff und zerzaust.

Während des Wartens hatte er an so viele Dinge gedacht, die er ihr gern sagen wollte, doch in ihrer Gegenwart brachte er fast kein Wort heraus.

»Ich bin Dan Behr« hatte er nach einem peinlichen Moment des Schweigens zustande gebracht. »Ich bin ... ich bin froh, daß ich neulich abends da war.«

»Sie reden nicht wie ein New Yorker«, sagte sie.

»Bin ich auch nicht. Ich bin neu hier. Aus Georgia.«

»Sie klingen auch nicht gerade wie einer aus den Südstaaten.«

»Na ja, ich bin in Sacramento aufgewachsen. Kalifornien. Ich bin erst mit sechzehn in den Süden gezogen.«

»Ich hasse Kalifornien«, erklärte sie voller Vehemenz.

Dann wandte sie den Kopf ab zum deutlichen Zeichen, daß sie kein Interesse mehr an ihm hatte. Er dachte, vermutlich sollte er jetzt gehen, doch statt dessen zog er einen Stuhl an das Bett heran. Dort saß er die bewilligte Stunde lang, sprach gelegentlich, füllte jedoch das Schweigen zumeist mit seiner Anwesenheit. Am Ende der Besuchszeit erhob er sich von seinem Stuhl.

»Morgen komm ich wieder«, sagte er.

Und sie hatte ihn angeblickt, ihn mit diesen goldenen, grün gesprenkelten Augen durchbohrt, und sie hatte gefragt: »Warum?«

Er hatte damals keine angemessene Erklärung parat, und so hatte er einfach wiederholt: »Morgen komm ich wieder.«

Alexandra.

Diesmal war es ihm nicht gelungen, sie zu retten.

Etwas regte sich in seiner Brust. Er verschränkte die Arme und kauerte sich auf dem Stuhl nach vom, um es möglichst zurückzuhalten, aber das Schluchzen brach sich trotzdem Bahn.

Bis die Ärzte erschienen, hatte Dan wieder Beherrschung über seine Gefühle erlangt. Er hatte die weiße Baumwolldecke vom Bett abgezogen und sich darin eingewickelt, um gegen die Wirkungen des Stuhls anzukämpfen und etwas von seiner Würde wiederherzustellen. Die Schar weißer Mäntel schwärmte wie Seemöwen, die auf ein weggeworfenes Sandwich am Strand niederstoßen, ins Zimmer.

Ein sehr gewichtig auftretender Mann in Dans Alter hatte offenbar die Leitung inne, und er setzte dazu an, den Fall in Fachausdrücken abzuhandeln, wobei er die Assistenzärzte so ansprach, als wäre Dan gar nicht vorhanden.

»Entschuldigen Sie«, sagte Dan.

Der junge Arzt gönnte ihm ein flüchtiges Lächeln, fuhr jedoch mit seiner Ansprache fort.

»Ich möchte wissen, weshalb ich hier bin«, ließ Dan nicht locker. Mit einem übertriebenen Seufzer drehte sich der Mann um und bemerkte: »Mr. Behr scheint jetzt wieder ganz auf dem Posten zu sein.«

»Mr. Behr ist ganz auf dem Posten«, erklärte Dan, »und Mr. Behr will wissen, was zum Teufel passiert ist.«

»Sie haben eine toxische Substanz zu sich genommen. Sie konnte nicht identifiziert werden.«

»Sie meinen, ich hatte eine Vergiftung?«

»Im Prinzip. Ja.«

»Lebensmittelvergiftung?«

»Nein. Nein. Etwas Chemisches und höchst Ungewöhnliches. Uns blieb nur übrig, Ihren Organismus zu unterstützen, während Ihr Körper dagegen angekämpft hat. Zum Glück waren Sie stark und gesund.«

»Aber wie ...« Dan streckte in einer Geste der Verwirrtheit die Hände aus, und dabei fiel sein Blick auf die Einstichstellen. »Könnte es an den Eisenspitzen gesteckt haben, die mir in die Hände gedrungen sind?«

Der Arzt beugte sich vor, um Dans Hände zu untersuchen. »Das könnte sein.«

In Dans Augen gab es gar keinen Zweifel. Die Leute, die Alex in der Gewalt hatten, hatten versucht, ihn zu vergiften.

»Kann ich jetzt raus?« fragte er.

»Wie fühlen Sie sich?«

»Blendend«, log Dan.

»Dann unterschreibe ich die Entlassungspapiere. Aber ich glaube, die Polizei will erst noch mit Ihnen reden.«

Gasparino erschien mit Greenberg und Brown im Schlepptau. Dan fühlte sich unbehaglich, wie er so in dem dürftigen Klinikhemd und mit der um seine Schultern gewickelten Decke dasaß. Sie schienen es nicht zu bemerken.

»Also – Sie haben überlebt«, stellte Gasparino fest.

Dan nickte.

Der Kriminalbeamte wanderte mehrere Minuten lang in dem Zimmer auf und ab, wandte sich dann abrupt an Dan. »Die Anklagepunkte sind zurückgezogen worden.«

»Was?«

»Sobald man Sie ins Krankenhaus gebracht hatte, schlugen die alle einen anderen Ton an. Das junge Mädchen gab zu Protokoll, sie hätte Gelegenheit gehabt, die Sache zu überdenken, und wüßte nun, daß Sie sie nicht angegriffen haben. Sie wäre gestolpert und hätte sich selbst das Gewand zerrissen. Und der Anwalt der Leute hat mit irgendeiner Version darüber aufgewartet, wie sie doch Verständnis dafür hätten, daß Sie verzweifelt waren, und sie keinen Ärger deswegen machen wollten, daß Sie über den Zaun gesprungen sind.« Dan dachte kurz nach. Er blickte auf seine Hände hinab. »Die hatten Gift an den Metallspitzen des Zauns.«

Gasparino runzelte die Stirn. »Ich hab heute morgen einen Techniker rübergeschickt, um die Zaunspitzen zu überprüfen. Da war keine Spur von etwas Toxischem.«

»Dann haben sie es weggeputzt. Können wir nicht Tests mit meinen Händen machen?«

Der Kriminalbeamte stieß voller Unmut die Luft aus. »Danny ... Danny ... Danny ... Hören Sie auf, James Bond zu spielen. Sie haben diesmal noch Glück gehabt. Treiben Sie es nicht zu weit.«

»Und was ist mit meiner Frau? Soll ich sie einfach vergessen? Vergessen, daß sie in Schwierigkeiten steckt?«

»Ich weiß nicht, was ich Ihnen dazu sagen soll, mein Freund. Außer, daß Sie nicht zulassen dürfen, daß die Sache Ihr Leben zerstört. Sie wollen die Dinge doch nicht noch schlimmer machen, als sie schon sind. Weder für Sie selbst noch für Ihr Kind. Das einzige, was Sie tun können, ist zu beten, daß sie wieder zu sich kommt und heimkehrt.«

Dan schüttelte den Kopf. »Ich kann einfach nicht glauben, daß das alles wirklich passiert. Eine Frau ist entführt worden. Man hat sie unter Drogen gesetzt oder einer Gehirnwäsche unterzogen oder irgend so was ... und keiner kümmert sich darum.«

»Wir kümmern uns nicht? Wir zeigen nicht genug Anteilnahme? Hören Sie sich mal um, Junge. Wir sind dazu da, das Gesetz zu hüten. Und bis jetzt hat niemand außer Ihnen gegen irgendwelche Gesetze verstoßen.«

»Es ist eine Sekte, die Erstes Licht heißt«, erklärte Dan. »Sie haben das schon mal gemacht. Da gibt es einen Mann – Ben Khadra. Die haben seine Tochter, und er kann alles bestätigen, was ich Ihnen sage.«

»Ja, und?« Gasparino warf die Hände in die Luft. »Selbst wenn es eine Sekte ist! Das ist doch nicht illegal. In der Welt wimmelt es nur so von Verrückten, Spinnern und Wahnsinnigen, Sekten, Gruppen und Groupies. Und hier in der Stadt gibt’s noch mehr als sonstwo. Wir haben hier geradezu eine Tradition von übergeschnappten Gruppen. Aber solange sie nicht gegen Gesetze verstoßen, hat die Polizei nichts damit zu schaffen.«

Dan stützte die Stirn auf seine Hand.

»Schätzen Sie sich glücklich, daß Sie nicht im Gefängnis sitzen, Dan, und machen Sie mit Ihrem Leben weiter. Außerdem sollten Sie sich einen Rechtsanwalt besorgen.«

Sobald er wieder seine Kleidung hatte, zog sich Dan an und ging, ohne irgendwelche Unterlagen abzuwarten. Er schritt zum Haupteingang des Krankenhauses hinaus, sammelte sich erst einmal und schlug dann den Weg zu der Stelle ein, wo er seinen Wagen zurückgelassen hatte, nur einen Häuserblock von der Vanzant Street entfernt, vielleicht neun oder zehn Straßen von der Klinik weg. Die Entfernung erschien ihm unbedeutend, als er aufbrach, doch die Kraftanstrengung führte dazu, daß er sich noch schlechter fühlte. Als er schließlich seinen Wagen erreichte, gestand er sich ein, daß der Fußmarsch keine gute Idee gewesen war.

Allerdings erreichte er in Wirklichkeit gar nicht sein Auto, denn es war nicht mehr da. Dan stand verunsichert und geschwächt an der Straßenecke und vermutete, daß das Gift wohl noch sein Gehirn vernebelte. Er überprüfte die Straßenschilder. Er sichtete die Straßen an der Kreuzung nach allen Richtungen. Er bemerkte die Bäckerei und erhaschte einen Blick auf denselben rundlichen Mann mit Halbglatze im Inneren. Das hier war die richtige Stelle. Aber das Auto war nicht mehr an dem Platz, wo er es geparkt hatte. Das Auto war verschwunden. Wahrhaft verschwunden.

Er sackte gegen einen Laternenmast. Wahrscheinlich hatte der Wagen mehrmals einen Strafzettel bekommen, während er im Krankenhaus war. Den Schildern zufolge hatte das Auto während zwei Parkverbotsphasen dort gestanden. Das war die eine effiziente Verwaltungsfunktion in der Innenstadt von New York – die Jagd auf Parksünder. Und das Abschleppen. O ja. Die gute alte Stadtverwaltung in Aktion. Ohne Zweifel würde er Hunderte von Dollar zahlen und endlose bürokratische Hürden überwinden müssen, um das Fahrzeug wieder zurückzubekommen.

Aber er fühlte sich zu mitgenommen, um sich jetzt darum zu kümmern. Er schloß einen Moment die Augen und überlegte, wie er nach Hause kommen sollte. Die Vorstellung einer langen U-Bahn-Tortur brachte seinen Magen in Aufruhr, aber ein Taxi nach Brooklyn war teuer, und er hatte nur sehr wenig Bargeld in seiner Brieftasche. Er blickte die Straße hinunter. Sicher gab es einen Bankautomaten in der Nähe.

Er marschierte drei Häuserblocks entlang, ohne einen Automaten zu entdecken. Die Übelkeit und Schwäche verschlimmerten sich bis zu dem Punkt, da er befürchtete, mitten auf dem Gehsteig zusammenzubrechen und wieder in die Klinik abtransportiert zu werden. Das einzige, woran er denken konnte, war, sich hinzulegen. Irgendwohin. Das Pappkartonbett eines Obdachlosen in einem Hauseingang sah verlockend aus. Dan beschloß, den Bankautomaten zu vergessen und das bißchen Energie, was ihm noch blieb, dafür zu verwenden, ein Taxi heranzuwinken. Sofort hielt eines an.

»Bay Ridge, Brooklyn«, sagte er und öffnete die hintere Wagentür. Der Fahrer brauste mit der noch halb offenen Tür davon. Als wieder ein Taxi anhielt, stieg Dan ein, bevor er dem Chauffeur seine Zieladresse angab, da ihm einfiel, daß Taxifahrer weite Fahrten in nur einer Richtung zu außerhalb gelegenen Stadtteilen nicht ausstehen konnten.

»Nichts Brooklyn!« sagte der Fahrer. »Raus! Raus! Nichts Brooklyn.«

»Doch Brooklyn!« brüllte Dan zu ihm zurück. »Ich sehe Ihren Namen und die Nummer. Das werde ich melden.«

Der Fahrer begann eine phantasievolle multikulturelle Fluchlitanei. »Bay Ridge, Brooklyn«, sagte Dan erneut. »Nehmen Sie die Brücke zur Brooklyn-Queens-Schnellstraße. Fahren Sie Richtung Staten Island. Die Ausfahrt an der Sechsundachtzigsten runter.« Dann sackte er gegen den ausgebeulten Rücksitz und fiel in einen unruhigen Schlaf.

»Sechsundachtzigste Straße!« bellte der Fahrer einige Zeit später. Dan setzte sich auf. Er fühlte sich ein wenig besser.

»Fahren Sie an der nächsten Ampel nach rechts und halten Sie am Bankautomaten an«, ordnete Dan an. Der Fahrer machte ein finsteres Gesicht und brummte etwas vor sich hin, bog aber um die Ecke.

Dan schleppte sich aus dem Wagen und zum Automaten. Er schob seine Karte in den Schlitz, gab seine Geheimnummer und die nötigen Daten seines Girokontos ein, dann die Anforderung um Bargeld. EINEN MOMENT BITTE, flimmerte es auf dem Bildschirm auf. Der Automat surrte, und Dan lehnte sich seitlich an das kühle Metall, während er auf das typische Geräusch des in die Klappe fallenden Geldes wartete. Aber das Geld kam nicht zum Vorschein. Statt dessen erschien eine neue Botschaft auf dem Monitor: DER GEWÜNSCHTE BETRAG STEHT ZUR ZEIT NICHT ZUR VERFÜGUNG INFOLGE MANGELNDER DECKUNG AUF DIESEM KONTO. FALLS SIE WEITERE FRAGEN HABEN, BENUTZEN SIE DAS KUNDENDIENSTTELEFON.

Dan schüttelte den Kopf. Ganz offensichtlich hatte er an irgendeiner Stelle etwas Falsches eingegeben. Langsam und angestrengt wiederholte er die Prozedur, wobei er sich jede Ziffer vorsagte, bevor er sie eingab. Wiederum erschien die Ankündigung über den unzureichenden Saldo.

Etwas stimmte nicht. Der Bankcomputer hatte einen schlechten Tag, oder irgendwo hatte sich jemand an seinem Girokonto vergriffen. Doch er fühlte sich den Mühen der Benutzung des Kundendiensttelefons nicht gewachsen, und so begann er aufs neue, nur daß er diesmal die Nummer seines Sparkontos eingab.

DER GEWÜNSCHTE BETRAG STEHT ZUR ZEIT NICHT ZUR VERFÜGUNG INFOLGE MANGELNDER DECKUNG AUF DIESEM KONTO. FALLS SIE WEITERE FRAGEN HABEN, BENUTZEN SIE DAS KUNDENDIENSTTELEFON.

Fassungslos starrte er die Worte an. Draußen ertönte ungeduldig die Hupe des Taxis.

Er griff sich mit den Händen an den Kopf und drückte gegen den Schmerz in seinen Schläfen an. Das konnte doch nicht wahr sein. Zuerst war sein Auto verschwunden und nun auch sein Geld? Er nahm den schwarzen Hörer des Kundendiensttelefons ab und lauschte dem Klingeln am anderen Ende der Leitung. Das konnte einfach nicht wahr sein.

Doch dann wurde ihm bewußt, daß sein Auto nicht das erste gewesen war, was verschwand. Seine Frau war es gewesen.

»Hallo, kann ich Ihnen helfen?«

»Da stimmt etwas nicht«, sagte Dan und fügte dann hinzu: »mit meinen Konten.«

Die Frau fragte ihn nach all den Nummern und Daten, die ihn zu erkennen gaben. Er hörte das leise Klappern ihrer Finger auf einer Computertastatur.

»Mr. Behr ...«, erklärte sie schließlich, »ich habe die entsprechenden Daten überprüft, und es liegt kein Fehler vor. Sowohl Ihr Giro- wie Ihr Sparkonto haben beide einen Kontostand von Null.«

»Das ist unmöglich«, entgegnete Dan und hielt sich das freie Ohr gegen erneutes Hupen von dem Taxi draußen zu.

»Die Beträge wurden an einem Bankschalter abgehoben.«

»Nein. Ich habe überhaupt nichts abgehoben.«

»Aber da ist noch jemand zeichnungsberechtigt für die Konten«, rief ihm die Frau ins Gedächtnis.

»Ja, meine Frau, aber ...«

Die Erkenntnis kam ihm, als treffe ihn ein Ziegelstein auf den Kopf. Die Sekte hatte sie gezwungen, ihnen alles zu geben. Ihr gemeinsames Haushaltsgeld für den Monat – jeder Penny davon bereits verplant für Miete und Lebensmittel, für Benzin und Kreditratenzahlungen. Die Ersparnisse, die unter so vielen Mühen zusammengekommen waren. Das alles war gestohlen worden.

»Danke«, murmelte er und hängte wieder ein.

Er mußte fürchterlich ausgesehen haben, als er den Raum mit den Bankautomaten verließ, denn der Taxifahrer hörte zu hupen auf und starrte ihn entsetzt an.

»Doktor?« fragte der Fahrer. »Krankenhaus?«

»Nein. Bringen Sie mich einfach heim. Aber ... tut mir leid ... ich konnte kein Geld kriegen. Ich muß erst zu Hause nach Geld schauen. Oder Ihnen einen Scheck ausschreiben.«

Einen ungedeckten Scheck, begriff Dan, als er den Kopf gegen den Sitz zurückfallen ließ.

»Gasparino am Apparat.«

»Hallo, hier ist Dan Behr.«

»Behr? Sie sollten doch im Bett sein. Hat der Arzt nicht gesagt, Sie sollen nach Hause gehen und sich erst mal gesund schlafen?«

Dan schob sich das Telefon an das andere Ohr. Er hatte Medizin eingenommen, an eisgekühltem Wasser genippt und es sich auf dem Sofa bequem gemacht. Er fühlte sich nicht gerade großartig, aber es ging ihm etwas besser. Und die Hoffnung, die sich wie ein Knoten in seinem Magen bemerkbar machte, pumpte ihn voll Energie.

Er machte einen tiefen Atemzug in der Absicht, gefaßt und vernünftig zu klingen. »Es gibt neue Verdachtsgründe. Den Beweis, daß meine Frau gegen ihren Willen gefangengehalten wird.«

»Ach ja? Was zum Beispiel?«

»Unsere beiden Bankkonten sind leergeräumt worden.«

»Herrgott! Haben Sie denn noch nie was von grauenhaften Scheidungsgeschichten gehört? Diese Konten hätten Sie sofort sperren lassen sollen.«

»Das ist doch keine grauenhafte Scheidungsgeschichte! Können Sie nicht sehen, was da passiert? Wir haben eine gute Ehe. Sie ist dazu genötigt worden, Geld abzuheben. Also haben Sie jetzt etwas, was Sie gegen die Leute vorbringen können. Jetzt können Sie ...«

»Halt!« befahl Gasparino. »Die Konten Hefen doch auch auf ihren Namen, stimmt’s?«

»Schon, aber ...«

»Kein Aber. Juristisch gesehen haben Sie noch immer nichts, es sei denn, Sie können Zwang oder Nötigung beweisen. Sie hatte alles Recht auf das Geld, und ich habe nichts davon gehört, daß sie sich darüber beschwert hätte, es würde ihr irgend jemand wegnehmen.«

»Sie hätte niemals ...«

»Sie haben keinen Beweis. Hören Sie, was ich sage? Keinen Beweis für Einschüchterung, Belästigung oder Nötigung irgendeiner Art. Alles, was wir hier haben, ist eine Erwachsene, die erklärt, daß sie nicht nach Hause will, und eine Bankabhebung von einem legal berechtigten Kontoinhaber.«

»Also wollen Sie mir nicht helfen.«

»Wir können Ihnen nicht helfen. Wann kriegen Sie das endlich in Ihren Kopf rein? Ich persönlich glaube ja, daß man Ihnen übel mitspielt, aber das hat verdammt noch mal gar nichts zu bedeuten. Es gibt nichts, was die Justiz für Sie tun kann.«

Dan starrte sein Wohnzimmer an. Alles so ordentlich und normal. Er hätte am liebsten alles zertrümmert.

»Hören Sie, Sie müssen jetzt anfangen, auf sich und Ihr Kind aufzupassen. Reden Sie mit einem Anwalt. Besorgen Sie sich einen aus dem Branchenverzeichnis, wenn’s sein muß, aber tun Sie’s, sobald Sie aufgelegt haben. Und wenn Sie noch irgendwelche anderen Vermögenswerte haben, dann bringen Sie die umgehend in Sicherheit.«

»Da gibt es sonst nichts. Außer dem Auto – und das ist verschollen.«

»Was meinen Sie mit verschollen?«

»Abgeschleppt. Als ich im Krankenhaus war.«

»Haben Sie schon wegen dem Auto angerufen?«

»Noch nicht. Aber ...«

»Tun Sie’s. Da ist ’ne Nummer unter Verkehrsverstößen im Telefonbuch. Rufen Sie dort an. Dann rufen Sie einen Anwalt an.«

Ein Klicken war zu hören, gefolgt von einem Freizeichen. Er blieb am Apparat und lauschte dem mechanischen Summen, ließ das unpersönliche Gefühl der toten Leitung auf sich wirken. Als er endlich wieder den Hörer auf die Gabel legte, währte das Summen noch in seinem Kopf fort.

Er warf einen Blick auf die Uhr. Es war fünf. Er war jetzt seit fast einer Stunde zu Hause und hatte noch immer nicht Felice angerufen, um sich nach seiner Tochter zu erkundigen oder ihr mitzuteilen, daß er aus dem Krankenhaus entlassen war. Er starrte auf das Telefon und wußte, daß er den Anruf machen mußte, doch schauderte ihn vor jedem Kontakt mit seiner Tochter. Es war doch so viel besser für sie, in Felices Wohnzimmer zu sein, mit ihren Puppen zu spielen oder lesen zu üben, frohgemut, geborgen und abgeschirmt von dem Chaos, zu dem das Leben ihrer Eltern geworden war. Was würde er ihr nur sagen? Wie um alles in der Welt konnte er ihr all das erklären?

Also schob er es vorläufig auf, Felice anzurufen, und wählte die Nummer für Verkehrsverstöße. Die junge Frau, die sich meldete, ließ ihn wissen, es gebe keine Unterlagen darüber, daß die Stadt seinen Wagen hätte abschleppen lassen. Sie versicherte ihm, die Verwaltung sei sehr effizient, die Computerdaten enthielten nur selten Fehler und er solle doch mit seinem Fahrzeugschein zum Polizeirevier gehen und seinen Wagen gestohlen melden, denn zweifellos sei es das, was damit geschehen sei. All das trug sie mit übertriebener Geduld vor, ganz so, als sei er nicht ganz bei Trost. Als mache er den Eindruck, kurz vor einem Nervenzusammenbruch zu stehen.

Es gab also keine Meldung, daß der Wagen abgeschleppt worden war. Eine dunkle Resignation legte sich ihm auf das Gemüt. Das Auto war gleich um die Ecke geparkt gewesen, als die Polizei ihn von der Vanzant Street Nummer 44 abtransportiert hatte. Die Häscher von Alex hätten es leicht entdecken können. Und Alex hatte einen Satz Schlüssel in ihrer Handtasche. Wenn sie das Geld gestohlen hatten, weshalb sollte es ihn dann noch überraschen, daß sie auch das Auto an sich nahmen? Er schaute sich in der Wohnung um. Hier war nichts angerührt oder entwendet worden. Er fragte sich, warum sie nicht während seines Krankenhausaufenthalts Alex’ Schlüssel dazu benützt hatten, das Apartment auszuräumen. Doch vielleicht war ein Sammelsurium persönlicher Habseligkeiten nicht den Aufwand wert. Schließlich waren keine kostbaren Juwelen oder seltenen Münzen in der Wohnung zu finden.

Er dachte an Ben Khadra, den kummervollen Vater, der ihn auf dem Gehsteig angefallen hatte. Eine Tochter hatte sicher wesentlich weniger Zugang zu dem Familienvermögen. Khadra war dieser Teil der Tortur möglicherweise erspart geblieben. Spontan durchsuchte er seine Manteltasche nach der Visitenkarte, die ihm Khadra gegeben hatte, und rief bei dem Mann an.

Khadra nahm nach dem zweiten Klingelzeichen den Hörer ab. Dan erkannte die verzweifelte Hoffnung in der Stimme des Mannes, als er sich meldete.

»Tut mir leid, Ben. Es ist nicht Bibi. Dan Behr ist dran.«

»Dan«, sagte Khadra leise. »Ich denke immer ... jedesmal, wenn das Telefon läutet ... daß vielleicht doch ...«

»Ich weiß.«

»Wo haben Sie denn nur gesteckt, Dan? Ich hab versucht, Sie anzurufen.«

»Ich war krank. Von diesen Leuten vergiftet.«

»Was!«

Dan erzählte ihm die ganze Geschichte.

Als er fertig war, sagte Khadra: »Und Sie sind gerade erst aus dem Krankenhaus heimgekommen?«

»Ja.«

»Dann wissen Sie’s nicht.«

»Weiß ich was nicht?«

»Die sind weg. Sie haben den Laden dichtgemacht und sind irgendwann in der Nacht abgehauen.«

»Die sind aus der Vanzant Street ausgezogen?«

»Das Haus ist leer.« Khadra zögerte eine Weile. »Ich hab mit einem Mann geredet. Einem Umprogrammierer von Sektenopfern. Meine Schwester hat mal vor langer Zeit was über ihn in einer Zeitschrift gelesen, und sie ist in die Bücherei, hat den Artikel gefunden und seinen Namen festgestellt ... und mir ist es schließlich gelungen, mit ihm in Verbindung zu treten.«

»Was macht er denn genau?«

»Er holt die Menschen da raus.«

»Wie?«

»Er macht, was immer er für nötig hält. Wir haben den Zeitschriftenartikel kopiert, und ich hab ihn schon für Sie in die Post gesteckt. Haben Sie Interesse daran?«

»Ja.«

»Es kostet eine ganze Stange Geld, aber er hat gesagt, daß es billiger wäre, wenn er für mich und Sie zusammen arbeiten würde.«

»Würde er sie dann gemeinsam rausholen?«

»Wahrscheinlich nicht. Aber es entstehen eine Menge Kosten allein schon, um die Leute aufzuspüren und um rauszufinden, was es mit dieser Sekte auf sich hat. Wir könnten diese Kosten unter uns aufteilen, falls er Bibi und Ihre Frau zur selben Zeit findet.«

»Wieviel Geld brauch ich denn dazu?«

»Zwischen fünfzehn und zwanzig Riesen.«

Dan seufzte niedergeschlagen.

»Das ist ein niedriger Preis, um einen Menschen, den man liebt, wiederzubekommen.«

»Ich mache mir keine Sorgen wegen der Höhe der Kosten, Ben. Ich würde alles und jedes bezahlen. Aber ich mach mir Sorgen, wo ich das Geld auftreiben soll. Die haben meine Frau dafür benutzt, unsere Bankkonten leerzuräumen.«

»Das ist schlimm. Wirklich schlimm. Wir leihen uns das meiste davon von Verwandten. Alle schicken so viel, wie sie können.«

»Geben Sie mir die Nummer«, sagte Dan. »Vielleicht fallt mir ja noch was ein.«

Nachdem er sich verabschiedet hatte, fühlte er sich wie ausgepumpt. Er starrte auf den Namen und die Nummer, die er auf die Rückseite von Khadras Visitenkarte notiert hatte. Everett May. In der Region der Vorwahlnummer 520.

Umprogrammierung. Wenn er auch nicht genau sagen konnte, was er eigentlich über Umprogrammierung wußte, so ließ ihn die Vorstellung doch schaudern. Schon das Wort an sich hatte etwas Unheilvolles und Häßliches an sich.

Und das Geld. Woher sollte er nur so viel Geld auftreiben? Vielleicht gab sich der Umprogrammierer für den Anfang mit einer Anzahlung zufrieden. Außerdem konnte er ja vielleicht einen Vorschuß auf sein Gehalt bekommen. Und ein paar Sachen verkaufen ... die gute alte Standuhr von seinem Vater und die Taschenuhr von seinem Urgroßvater. Und dann gab es noch die Wertpapiere, die Hana zur Geburt bekommen hatte. Sie konnte er einlösen. Aber wem machte er da eigentlich was vor? Selbst wenn er den vollen Wert für die beiden Uhren erzielen konnte – was in einer Verkaufssituation unter Zeitdruck zu bezweifeln war –, war er noch weit von dem Betrag entfernt, den er brauchte.

Irgendwie mußte er sich Geld ausleihen. Abgesehen von einem Studentenkredit für das College hatte er sich noch nie um einen Bankkredit bemüht und besaß daher keine Erfahrung damit, aber er war überzeugt davon, daß er Sicherheiten benötigte, um kreditwürdig zu sein. Und er besaß keine Sicherheiten. Plötzlich dachte er an die Kreditkarte. Die Kreditkarte für Notfälle. Er hatte sie erst ein einziges Mal eingesetzt, für eine Reifenreparatur, als sie bei einem Wochenendausflug eine Panne hatten.

Er fingerte nach seiner Brieftasche und durchsuchte die verschiedenen Fächer gründlich, da ihm wieder einfiel, daß er die Karte absichtlich außer Sichtweite verstaut hatte, um gar nicht erst in Versuchung zu geraten. Und da war sie, ein glänzendes silberfarbenes Rechteck, das seine Hoffnung sofort wieder beflügelte. Er las das Kleingedruckte auf der Rückseite. Da stand nichts von Barauszahlungen, aber er wußte, daß die Karte dazu tauglich war. Wieviel konnte er wohl bekommen?

Er rief die Kundendienstnummer an, die auf der Rückseite der Karte angegeben war. Nach der automatischen Vermittlung meldete sich endlich eine menschliche Stimme, und er nannte seine Daten und erkundigte sich, was die Vorgehensweise sei, um eine Barauszahlung bis zu seinem gesamten Dispolimit zu erhalten.

Der Mann am anderen Ende der Leitung bat ihn, doch bitte zu warten, bis der Computer das Konto parat habe. Dann erklärte er in einem gewissen Ton des Bedauerns: »Mr. Behr, von diesem Konto sind vor zwei Tagen siebentausend Dollar als Barzahlung abgehoben worden. Sie haben keinen Betrag zur Disposition.«

Dan lachte verbittert. Die waren schlauer als er. Die hatten an alles gedacht. Ihm wurde bewußt, daß er für den Kundenbetreuer am anderen Ende der Leitung so klang, als habe er nicht mehr alle Tassen im Schrank, aber es war ihm egal. Um ehrlich zu sein – er hatte sie wirklich nicht mehr alle.

Völlig ausgelaugt sank er zur Seite und gab dem Bedürfnis nach, sich auszustrecken, mit dem Kopf auf dem Armpolster, damit das Sofa seiner Körperlänge genügend Raum bot. Einen Rechtsanwalt. Er mußte einen Anwalt auftreiben. Nicht, daß es jetzt noch eine Rolle gespielt hätte. Was war denn noch übrig, das es zu schützen galt?

Das Telefon läutete. Er stemmte sich auf den Ellenbogen und riß den Hörer an sein Ohr. »Hallo? Alex?«

»Behr, bist du das?«

Er erkannte die Stimme und sagte mit einem Seufzer der Enttäuschung: »Hallo, Medford.«

»Wir haben dich zu erreichen versucht. Warum zum Teufel hast du keinen Anrufbeantworter?«

»Sollte ich wohl, oder?« antwortete Dan, der sofort an die Anrufe denken mußte, die ihm entgangen waren und von Alex hätten stammen können.

»Also, was ist los? Wo warst du die ganze Zeit?«

»Ich bin ... Ich war krank und bin gerade erst aus dem Krankenhaus zurück.«

»Im Ernst? Himmel Herrgott!«

Eine Weile lang fingerte jemand herum, ertönte Geflüster. Dan konnte erkennen, daß Medford den Hörer von seinem Mund weggeschoben hatte und nun Wendell Crispin und Karen Lai die Neuigkeit berichtete.

Plötzlich war Karens Stimme zu vernehmen. »Dan, bist du okay? Was ist denn passiert? Hast du einen Unfall gehabt?«

»Mir geht’s jetzt wieder gut. Es war eine komische Art von Vergiftung, ist aber ausgestanden.«

»Du meinst, so was wie eine Lebensmittelvergiftung?«

»Vielleicht ... Hör mal, ich ...«

Doch dann fingerte wieder jemand herum, und Crispins Stimme war zu hören. »Das ist ja nicht zu fassen! Verflucht noch mal. Das ist der Untergang des Abendlandes. Auf hunderterlei Weise wird unsere Gesundheit untergraben, denkt man bloß an die Luftverschmutzung und die Gier der Konzerne und keine Dienstleistungen für unser Steuergeld. Unser Lebensmittelvorrat sollte eine wichtige Priorität sein, ist es aber nicht. Ich kann dir sagen ...«

Es gab eine Reihe von Stößen und Schubsgeräuschen, und Dan hörte Crispin hartnäckig mit Medford streiten, schließlich sei er noch an der Reihe und was er zu sagen habe, sei einfach zu wichtig. Dann war Medford wieder am Apparat.

»Na gut, Behr, alter Kumpel, wir haben dich beim hohen Tier gedeckt. Haben ihm verklickert, du hättest dich wegen ’ner Grippe krank gemeldet. Aber das hier ist natürlich viel schlimmer. Ich meine, es ist wirklich eine viel bessere Entschuldigung.«

»Danke.«

»Ich hoffe, du bist fix wieder gesund, weil es zur Zeit wirklich schlecht steht, wenn man nicht im Büro ist. Die haben heute morgen eine Personalreduzierung verkündet, und du kannst dich drauf verlassen, daß die nach Gründen Ausschau halten, um Leute wegzurationalisieren.«

»Verdammt ...«, schnaufte Dan.

Warum jetzt? Schon seit einem Jahr machten Gerüchte über einen bevorstehenden Personalabbau die Runde. Warum mußte es ausgerechnet jetzt passieren?

»Also«, fuhr Medford fort, »kommst du dann morgen rein?«

»Ich glaube nicht ... ich ... Ja. Ja. Ich sollte lieber kommen.« Er brauchte das Geld. Er mußte weiterarbeiten.

»Mannomann ... Du klingst überhaupt nicht wie du selber. Bist du dir sicher, daß du’s morgen schaffst, wenn du nämlich nicht reinkommen kannst, dann müssen wir unsere Projekte hier ernsthaft neu organisieren.«

»Ich komme schon.«

»Okay. Und wie steht’s mit dem Brunner-Zeug? Bist du damit noch ein Stück weitergekommen, bevor’s dich erwischt hat?«

Dan verzog bei der Erinnerung an die verlorene Aktenmappe schmerzlich das Gesicht. »Es ist weg.«

»Weg?«

»Mit meiner Aktenmappe. In der U-Bahn, glaub ich. Bin mir aber nicht sicher.«

Es trat eine lange Pause ein.

»Was sollen wir jetzt tun?« fragte Medford schließlich.

»Ich weiß es nicht«, gestand Dan ein. »Ich muß darüber nachdenken. Sag mal ... kennt einer von euch einen guten Anwalt?«

»He, he? Das ist der richtige Kampfgeist, Behr. Diese Arschgeigen verdienen verdammt noch mal ein Strafverfahren – dir das Krankenhaus einzuhandeln und deine berufliche Stellung zu gefährden. Das war eine echte, hochkarätige Lebensmittelvergiftung, und du solltest dicke Kohle als Schmerzensgeld dafür einheimsen. War es ein berühmtes Restaurant? Eines mit ordentlich was auf der Kante?«

»Ich bin eben erst nach Hause gekommen, und ich sollte eigentlich ins Bett«, erwiderte Dan, um weiteren Fragen aus dem Weg zu gehen. »Wenn du den Namen von dem Anwalt gerade nicht da hast, könnte ich ...«

»Ich hab ihn gleich hier. Er ist hervorragend. Die Familie meiner Frau benutzt ihn für alles.«

Als er endlich vom Telefon weg war, blickte Dan wieder auf die Uhr. Er mußte Felice anrufen. Doch zuerst sollte er wohl Kontakt mit dem Rechtsanwalt aufnehmen. Er wählte die Nummer, die ihm Medford genannt hatte. Eine Ansage auf Tonband teilte mit, die Kanzlei sei für diesen Tag geschlossen, jedoch am Folgetag wieder offen. Man könne nach dem Signalton eine Nachricht hinterlassen. Dan wartete den Ton ab, konnte sich dann jedoch nicht entscheiden, wieviel er sagen wollte. Schließlich nannte er seinen Namen und seine Telefonnummer, gab an, Richard Medford habe ihm die Kanzlei empfohlen, und legte auf.

Nun gab es keine Ausflüchte mehr. Er mußte wegen Hana anrufen. Er mußte seine Tochter nach Hause holen. Er mußte sie in diese höllische Qual mit hineinziehen.

Ruckartig wurde ihm klar, daß er ganz allein für Hana verantwortlich war, bis Alex zurückkam. Nicht Felice. Nicht die Lehrerin der Kindergartenklasse in der Schule. Nur er allein. Hanas schieres Überleben und emotionales Wohlergehen würden ganz in seinen Händen sein. Seine Entscheidungen würden ihr Leben gestalten. Seine Fehler würden sie vermutlich lebenslang traumatisieren.

Er verspürte den Drang, gleichzeitig zu lachen und zu weinen. Hatte er nicht gelegentlich eine leise Wehmut verspürt? Hatte er nicht Augenblicke des Bedauerns empfunden? Hatte er nicht den Wunsch gehegt, er könne ein stärker engagierter Vater sein? Hatte er sich nicht auf eine Zukunft gefreut, in der es ihm sein Arbeitspensum erlauben würde, mehr Zeit mit seiner Tochter zu verbringen, und Hana alt genug sein würde, daß ihre Mutter sich nicht mehr so gluckenhaft und besitzergreifend ihr gegenüber verhielt? Hatte er nicht den Tag herbeigesehnt, an dem Hana genauso zu ihm wie bisher zu Alex gehören würde? Nimm dich in acht, was du dir wünschst, hielt er sich reumütig vor Augen, während er mit Zähneknirschen gegen die dumpfen Anfalle von Übelkeit und Schwäche anging, die in Wellen wiederkehrten. Verfluchte Alex. Wie hatte sie nur zulassen können, daß das alles passierte? Hatte sie die Gefahr nicht erkannt? Hatte sie keinen Hinweis, kein Warnzeichen erhalten?

Was sollte er jetzt bloß tun? Hana erzählen, daß ihre Mutter in Gefangenschaft war und möglicherweise das Opfer einer schrecklichen Sache? Sollte er der Kleinen sagen, ihre Mutter habe sich dazu entschlossen, wegzugehen und sie beide zu verlassen?

Wie sollte er eigentlich eine Fünfjährige angemessen versorgen? Alex, die stets die aufmerksamste und fürsorglichste Mutter – die perfekte Mutter – gewesen war, hatte ihn nie zu etwas anderem als bloßen Hilfeleistungen für fähig gehalten. Was immer er von sich aus an väterlicher Initiative ergriffen hatte, war stets falsch gewesen, und schon vor langer Zeit hatte er einfach aufgegeben und sich damit abgefunden, daß er die sichere Methode, ein kleines Kind auf dem Spielplatz zu überwachen, die richtige Art, wie man kleinen Füßen Socken überstülpte, oder die angemessene Weise, Disziplin zu vermitteln, nun einmal nicht beherrschte. Und jetzt sollte er plötzlich dazu fähig sein? Jetzt, da er das Gefühl hatte, durchzudrehen? Und – der furchterregendste Aspekt überhaupt – jetzt, da er sich keinen einzigen weiteren Schnitzer in der Arbeit leisten konnte? Er schaute das Telefon an. Ein Anruf, und Hana wäre bei ihm zu Hause. Was für ein Feigling er doch war, ihn nicht einfach zu machen. Er wischte sich die feuchte Stirn mit dem Hemdsärmel ab, ließ eine Welle der Übelkeit über sich ergehen, legte sich dann hin und schloß die Augen. Nur für eine Minute. In seinen Träumen klingelte das Telefon, aber er konnte sich nicht rühren, um an den Apparat zu gehen. Als er die Augen wieder aufschlug, war es neun Uhr, und es schellte an der Wohnungstür. Er stolperte durch das Zimmer zu der Gegensprechanlage hinüber.

»Hallo.«

»Ich wußte doch, daß du da bist! Hana, dein Daddy ist daheim!«

»Ich bin daheim«, sagte er und drückte auf die Taste für den Türöffner, um die beiden zur Haustür hereinzulassen.

Er spritzte sich kaltes Wasser ins Gesicht, rubbelte es mit einem Handtuch trocken, machte dann die Wohnungstür auf und ging in den stillen Flur, um auf die beiden zu warten. Nach einigen Minuten öffnete sich mit einem hellen Klang die schmale Messingtür des Fahrstuhls.

»Da bist du ja!« rief Felice aus.

Sie stapfte den Flur entlang auf ihn zu, und die dunklen langen Haare baumelten in Zöpfen hin und her, während sie Hana hinter sich her zog. Alles an Felice Navarre war zart, beinahe kindlich, von ihrer zierlichen Größe bis zu ihrem koboldhaften ovalen Gesicht, aber sie trat mit der wilden Entschlossenheit einer angreifenden Amazone auf. Er vermutete, daß zu ihren Vorfahren kubanische Freiheitskämpfer gehörten.

»Du schuldest mir Rede und Antwort, Mann, und zwar eine gute Begründung.«

»Willst du reinkommen?« fragte Dan.

»Du kannst deinen Arsch drauf setzen, daß ich reinkommen will. Und glaub bloß nicht, daß ich ...« Felice unterbrach sich und widmete sich Hana. »Schau doch«, sagte sie sanft. »Dein Daddy ist in Ordnung. Du hast dir ganz umsonst solche Sorgen gemacht.«

Das Kind klammerte sich an die Beine der Frau und spähte zu Dan hoch, als sei er ein Fremder.

»Sie hat schrecklich Angst um ihre Mommy und ihren Daddy gehabt«, erklärte Felice weich, während ihre dunklen Augen ihn weiterhin anfunkelten. »Sie hatte sogar Alpträume.«

»Also, ich bin daheim«, sagte Dan und beugte sich steif herunter, um Hana den Kopf zu tätscheln. »Wohlbehalten und gesund wieder daheim.« Er fürchtete den Versuch, sie zu umarmen. Befürchtete, sie würde nicht empfänglich dafür sein, und befürchtete ebenso, daß ihm von zuviel Bewegung erneut schlecht werden würde.

»Ist meine Mommy daheim?« fragte Hana.

»Nein«, antwortete Dan, während er die Tür aufhielt. Hana klammerte sich weiterhin an Felices Bein.

»Geh schon, bonita«, lockte sie Felice. »Geh mit deinem Daddy hinein.«

»Ich will meine Mommy.«

»Haben dir nicht alle deine Spielsachen gefehlt? Ich wette, daß du ihnen gefehlt hast.«

»Kommst du auch mit?« flüsterte Hana.

»Ich komme mit. Aber nur, wenn du versprichst, in dein Zimmer zu gehen und all deinen Plüschtieren Hallo zu sagen, während ich mit deinem Daddy rede.«

Hana überlegte sich die Bedingungen und nickte dann mit ernster Miene.

Als sie alle in der Wohnung waren, mußte Felice Hana an ihre Übereinkunft erinnern und das Kind mit Nachdruck zur Tür ihres Zimmers lotsen. Dan schaute zu, und ein ohnmächtiger Zorn stieg angesichts des Kummers seiner Tochter in ihm auf.

Es tut mir leid! hätte er am liebsten geschrien. Ich wünschte, deine Mutter wäre hier. Ich wünschte, ich wüßte etwas, was ich für dich tun könnte. Ich wünschte, ich könnte alles wieder in Ordnung bringen.

Hana blieb vor ihrem Zimmer stehen und drehte sich zu ihnen um. Das Licht fiel ihr aufs Haar und ließ kupferfarbene Glanzlichter in dem Dunkelrot auffunkeln. Genau die gleichen Haare wie die ihrer Mutter. Aber mit Dans dunklem Teint und seinen hellbraunen Augen. Eine Mischung aus ihnen beiden.

»Geh nicht weg, Felice«, bettelte sie mit bebender Unterlippe.

»Irgendwann mal muß ich gehen«, sagte Felice entschieden zu ihr.

»Du wohnst hier mit deinem Daddy und deiner Mommy, und ich wohne mit Peppy bei mir zu Hause.«

»Aber meine Mommy ist nicht da.«

»Sie ist bald wieder da.« Felice warf einen Blick auf Dan. »Oder nicht?«

»Ich weiß nicht«, antwortete Dan, und Felices Augen verrieten Bestürzung.

»Ich möchte bei dir und Peppy bleiben, bis meine Mommy heimkommt«, jammerte Hana.

»Das ist nicht möglich, Hana. Das hab ich dir gesagt. Ich muß manchmal bis spät abends weg sein. Du kannst dort nicht alleine bleiben, wenn ich weg bin.«

»Peppy bleibt alleine dort.«

»Hunde können allein bleiben. Kinder aber nicht. Und außerdem – wer wäre denn dann hier, um deinem Daddy Gesellschaft zu leisten? Stell dir bloß mal vor, wie einsam er ohne dich wäre. Ich hab Peppy, aber solange deine Mommy weg ist, hat er bloß dich.«

Hanas Gesicht verfinsterte sich, doch bevor sich der Protest weiter zusammenbrauen konnte, eilte Felice auf sie zu. »Hast du das eben gehört, Hana?« rief sie aus, während sie das Kind zur Zimmertür führte. »Alle deine Freunde rufen nach dir!«

Dan beobachtete, wie die beiden hinter der Tür verschwanden, und dachte sich, wie gut Felice doch mit Hana umging, wie gut Alex mit Hana umgegangen war. Und wie gern er jene Fähigkeit zur Fürsorge besessen hätte, die anderen so selbstverständlich war.

Felice trat aus dem Zimmer heraus und schloß sorgfältig die Tür.

»Also schön«, verkündete sie, während sie durch den Raum schritt. »Hana ist für eine Weile versorgt. Ich will jetzt die ganze Wahrheit hören. Was ist eigentlich verdammt noch mal los? Himmel noch mal! Ich mach meinen Anrufbeantworter an und hör die Nachricht, daß du Hana nicht pünktlich abholen kannst, weil du in einer Polizeiwache bist. Okay. Aber das war gestern nachmittag, Dan! Ich bin ganz verrückt geworden – hab bei dir in der Arbeit angerufen und überall bei der Polizei hemmgefragt.«

Dan blickte auf seine Hände, unsicher, wo und wie er anfangen sollte. Er schaute auf das Mondgesicht der alten Standuhr in der Ecke, der Standuhr, die sein Vater so liebevoll restauriert hatte. Was würde sein Vater jetzt tun? Wie würde sein Vater diese Situation in den Griff bekommen?

»Raus mit der Sprache! Sag was!«

»Ich war über Nacht im Krankenhaus.«

Die Augen von Felice wurden groß.

»Alex ist ...« Er kämpfte darum, die Fassung zu wahren.

»Mein Gott, was ist passiert? Gab’s einen Unfall?«

»Nein. Nein.« Er machte einen tiefen Atemzug. »Ich bin hingefahren, um sie von dem Workshop abzuholen, und sie hat sich geweigert, rauszukommen.«

»Was?«

»Ich hab sie überhaupt nicht zu sehen gekriegt. Die Polizei kam. Die haben mit ihr geredet.« Er ließ sich auf das Sofa fallen, da ihm wieder übel wurde oder zumindest übel zumute war. »Es ist eine lange Geschichte. Ich bin immer wieder hin und hab versucht, sie rauszuholen. Ich bin über einen Zaun gestiegen und hab irgendein Gift an den Händen abbekommen. Die Polizei hat mich verhaftet, aber von dem Gift bin ich krank geworden, deshalb mußten sie mich ins Krankenhaus schaffen.«

Felice wich zurück, bis sie einen Sessel erreichte, und setzte sich dann hin.

»Das verstehe ich nicht. Habt ihr beide euch gestritten oder so was Ähnliches?«

Er schüttelte den Kopf. »Es lief gut mit uns. Das weißt du. Es lief gut.«

»Also weigert sie sich einfach so aus heiterem Himmel, wieder heimzukommen?«

»Ich glaube nicht, daß es so ist, Felice. Ich habe nie mit ihr reden können. Kein einziges Mal. Ich glaube, daß da etwas nicht stimmt.«

»Dios mio«, schnaufte Felice ungläubig und schüttelte den Kopf. »Was haben die Bullen gemacht?«

»Nichts. Sie sagen nur, daß sie ist rechtlich gesehen erwachsen ist und nicht dazu gezwungen werden kann, rauszukommen oder mich zu treffen.«

»Das würde sie nie tun.« Felice schüttelte den Kopf. »Sie würde niemals Hana im Stich lassen.«

»Ich weiß! Aber ich kann die Polizei nicht davon überzeugen. Selbst als ich herausgefunden hatte, daß es eine Sekte ist. Die sind einfach nicht bereit, etwas zu unternehmen.«

»Eine Sekte? Du liebe Güte, Dan! Die haben ihr eine Gehirnwäsche verpaßt oder sie hypnotisiert oder so was. Gott allein weiß, was für eine irre Scheiße da läuft!«

»Sie haben unsere sämtlichen Konten leergeräumt. Sie haben den Wagen geklaut. Sie haben sich sogar über unsere Kreditkarte Bargeld auszahlen lassen.«

»Und das ist legal?«

»Offensichtlich. Weil ich nicht beweisen kann, daß sie Alex dazu genötigt haben.«

»Das ist ja zum Gruseln, Mann. Wirklich grauenhaft.« Sie musterte ihn, als fiele ihr jetzt erst auf, wie er aussah. »Du siehst schlecht aus. Fühlst du dich noch krank?«

»Es hat sich schon fast gegeben. Morgen geht’s mir wieder gut.«

Felice schüttelte den Kopf. »Das tut mir so leid, Dan. Ich bin ... wirklich vor den Kopf gestoßen.«

»Bin ich auch«, sagte er. »Vor den Kopf gestoßen.«

»Du meine Güte ... Hast du ihre Mutter angerufen?«

»Ihre Mutter?« fragte Dan stirnrunzelnd. »Alex’ Mutter? Ich bin gar nicht auf die Idee gekommen.«

Alex’ Mutter. Was sollte er zu der Frau schon sagen? »Hallo, hier spricht der Schwiegersohn, den Sie noch nie getroffen haben. Ich weiß, daß Sie und Alex sich hassen und seit Jahren nicht mehr miteinander reden, aber ich hab mir gedacht, Sie wüßten vielleicht gern ...«

»Wie steht’s mit den McAteers? Hast du sie angerufen?«

Dan schüttelte den Kopf. »Da hab ich auch nicht dran gedacht.«

»Ian muß Bescheid wissen, daß sie nicht zur Arbeit kommt.«

»Stimmt.«

Wieder legte sich ein bleierner Klumpen Verzweiflung auf sein Gemüt. Alex war von Blumen begeistert und hatte im Laufe ihrer Ehe zahlreiche Kurse über Blumengebinde mitgemacht. Sobald Hana in den Kindergarten gekommen war, hatte Alex prompt einen Job bei einem freundlichen Blumenhändler in der Nachbarschaft gefunden, der damit einverstanden war, daß sie nur während der Schulstunden arbeitete. Gegenwärtig war sie jeweils für Donnerstag und Freitag eingeteilt, doch für die Zeit vor dem Erntedankfest hatte sie volle fünf Tage zugesagt. Felice hatte recht. Er mußte die Leute wirklich anrufen. Doch solch ein Anruf, die Mitteilung, daß sie nicht kommen werde, schien einer Bestätigung seines Scheiterns gleichzukommen. Fast wie die Bekanntgabe eines Todesfalls.

Felice runzelte die Stirn und rieb sich mit den Fingerspitzen die Schläfen. »Ich denke, ich kann Hana morgen wieder zur Schule bringen und danach abholen. Und sie bei mir behalten, bis du heimkommst. Ich könnte es vielleicht noch ein paar Tage länger machen. Aber du mußt unbedingt jemanden finden oder vielleicht einen dieser Horte anrufen, wo sie die Kinder nach der Schule abholen, weil ich bloß begrenzt Arbeit habe, die ich zu Hause erledigen kann.«

»Okay.«

»Du kannst es dir nicht leisten, deine Stelle zu verlieren, Dan.«

»Ich weiß.«

»Und du mußt vorsichtig mit Hana umgehen. Sie war noch nie so wie jetzt von ihrer Mutter getrennt, und sie ist allmählich ziemlich verstört darüber.«

»Ich weiß.«

Felice beugte sich zu ihm hin und blickte ihm eindringlich in die Augen.

»Du mußt sie unbedingt zurückholen, Dan. Alex kann sich nicht selber retten.«

»Ich weiß.«

Gestohlene Seelen

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