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Kapitel 3

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Die Straßen in Greenwich Village waren von professionell gekleideten Männern und Frauen bevölkert, die mit ihren Geschäftskoffern energisch auf einen weiteren Arbeitstag zuschritten. Doch als er zur Vanzant Street kam, lag die Straße ruhig da. Es schien unmöglich, daß seine Frau innerhalb einer so anheimelnden, freundlichen Szenerie wie vom Erdboden verschluckt sein sollte. Und wieder einmal durchflutete ihn Hoffnung. Die ganze Sache mußte einfach ein Mißverständnis sein.

Er überquerte die Straße, ging die Steinstufen hinauf und stand nun unterhalb der Überwachungskamera vor der zum Wahnsinnigwerden stabilen Haustür, die ihn von ihr trennte.

»Hallo. Hier ist Dan Behr.«

Nichts. Er lauschte dem schwachen Summen einer bestehenden Leitung.

»Ich weiß, daß mich jemand hören kann, also – ich wollte bloß sagen, daß ich die Dinge gern in Ordnung bringen möchte. Ich meine ... ich glaube, das war wohl ein schlechter Auftakt gestern. Ich hatte ganz bestimmt nicht die Absicht, wütend oder drohend zu wirken, als ich zum ersten Mal nach meiner Frau fragte, aber vielleicht hat es doch jemand so aufgefaßt. Und ich kann es ja verstehen ... Wenn alle gedacht haben, ich wäre nur da, um Ärger zu machen ... dann kann ich verstehen, warum Sie nicht wollten, daß sie mit mir redet. Aber ich bin nicht wütend. Und es ist mir auch recht, wenn sie noch ein bißchen länger bleiben will. Ich muß bloß ... ich muß einfach mit ihr reden. Damit ich weiß, daß es ihr gutgeht. Und um ein paar Dinge mit ihr zu besprechen.« Er lachte kurz auf, eher aus Nervosität als zum Zeichen der reumütigen Belustigung, die er beabsichtigt hatte. »Ich hab unsere Tochter noch nie ganz alleine versorgt, und ich denke, ich brauche ein bißchen Beratung.«

Mehrere Sekunden tickten dahin.

Plötzlich erschreckte ihn eine laute Stimme. »Hören Sie auf, uns zu belästigen.«

»Warten Sie! Wer sind Sie? Bitte ... ich will nur mit ihr reden. Ich muß sie bloß fragen ...«

»Ihre Belästigungen werden der Polizei gemeldet!«

»Warten Sie! Sie ist meine Frau, verdammt! Ich ...«

Doch dann ertönte ein Knistern in der Leitung, und die Gegensprechanlage verstummte. Die Leute hörten nicht mehr zu. Er drückte mehrere Male auf die Taste, doch ohne Resonanz. Dann hämmerte er mit den Fäusten auf die Tür ein. Was konnte er nur tun? Er wünschte sich, er hätte einen Hammer oder eine Axt zur Hand gehabt. Er ging die Stufen hinunter, rannte zu dem öffentlichen Telefon an der Avenue und wählte die Nummer der Kriminalpolizeieinheit.

»Detective Pell«, meldete sich eine weibliche Stimme.

Kurz erklärte Dan seine Situation. »Jemand muß wieder zur Vanzant Street rüberschauen«, sagte er abschließend. »Jetzt sofort. Es bleibt keine Zeit, um darauf zu warten, bis Detective Gasparino seinen Dienst antritt. Irgendwas Schlimmes spielt sich in diesem Haus ab. Vielleicht Drogen. Vielleicht haben die meine Frau unter Drogen gesetzt.«

Pell schwieg einen Augenblick. Als sie antwortete, tat sie es mit der übertriebenen Geduld einer Lehrerin, die einem lernbehinderten Schüler eine Lektion auseinandersetzt. »Mr. Behr. Haben Sie irgendwelche neuen Beweise, daß an diesem Ort ein Verbrechen verübt wird?«

»Das liegt doch auf der Hand!« sagte er mit Nachdruck. »Finden Sie es vielleicht nicht verdächtig, Detective, wie sie dieses Haus wie eine Festung verrammelt haben? Und dieser ganze Quatsch mit der Sprechanlage und der Überwachungskamera und daß sie sich weigern, die Tür aufzumachen ... Wenn es alles Rechtens ist, warum haben sie dann so eine Angst, mich mit meiner Frau reden zu lassen? Ich sag Ihnen, warum – weil ich Alex kenne und auf der Stelle wüßte, ob sie ganz sie selber ist oder nicht.«

»Tut mir leid, Mr. Behr. Ich wünschte, wir könnten Ihnen helfen, aber es gibt wirklich nichts mehr, was wir tun können. Ein Verdacht reicht nicht aus. Sobald Detective Gasparino da ist, sage ich ihm, daß Sie angerufen haben, aber ohne stichhaltige Hinweise auf kriminelle Aktivitäten kann auch er nichts unternehmen.«

Dan legte den Hörer auf. Aus der polierten Metallplatte des Telefons starrte ihn sein durchbrochenes Spiegelbild an. Er starrte eine Weile zurück. Was konnte er nur tun? Mit hämmerndem Herzen, von rasendem Zorn und einem Gefühl der Ohnmacht erfüllt, stand er auf dem Gehsteig. Dann lief er zur Vanzant Street zurück.

Er näherte sich gerade dem Haus, als zwischen zwei geparkten Wagen ein Mann hervorschoß und ihn auf das Pflaster niederschlug. »Wo ist sie?!« forderte der Mann drohend mit rotem Gesicht und geballten Fäusten.

Langsam kam Dan wieder auf die Füße, kauernd, auf eine neue Attacke des Mannes gefaßt.

»Wo ist sie?« schrie der Mann wiederum, diesmal eher mit einem verzweifelten als einem drohenden Unterton.

»Wer?« fragte Dan.

»Sie wissen schon, wer. Meine Tochter Bibi! Bibi Khadra. Sie haben sie in dieses Haus mitgenommen, und ich will sie wiederhaben!«

»Ich bin nicht einer von diesen Leuten«, erklärte Dan.

»Ich hab Sie doch vor ein paar Minuten da rauskommen und weglaufen sehen! Ich hätte Sie schon da erwischt, aber Sie waren zu schnell für mich.«

»Ich bin nicht da rausgekommen. Ich kam bloß die Stufen runter. Die haben meine Frau da drin.«

Die Wut des Mannes verpuffte, und sein ganzer Körper fiel in sich zusammen. Er war ein kleiner, aber gedrungener Mann mit großflächigen, abgehärteten Händen. Nun streckte er diese Hände aus und blickte sie an, als hätten sie ihn im Stich gelassen.

»Ich weiß nicht, was ich tun soll«, sagte er. »Es bricht meiner Frau noch das Herz. Sie ist unsere einzige Tochter.«

»Ich weiß auch nicht, was ich tun soll«, erwiderte Dan. »Ich war bei der Polizei ...«

»Hach! Die von der Polizei reden nicht mal mit mir. Die behaupten, es läge kein Verbrechen vor. Die erzählen mir ständig, daß neunzehnjährige Mädchen nicht mehr so wie früher brav zu Hause bleiben. Die hören einfach nicht zu, wenn ich ihnen zu erklären versuche, wie Bibi ist. Sie ist was Besonderes. Nie in irgendwelchen Schwierigkeiten. Sehr rücksichtsvoll und ruhig und sensibel.«

»Mit mir haben sie geredet«, berichtete ihm Dan. »Die sind sogar reingegangen und haben mit meiner Frau gesprochen. Hat aber nichts geholfen.«

Der Mann streckte seine Arme aus und blickte zum Himmel. »Was ist nur los? Ich versteh rein gar nichts mehr. Wieso können sich solche Leute einfach erlauben, so was zu tun? Wie kann die Polizei einfach darüber hinweggehen?«

»Weiß ich nicht«, erwiderte Dan. »Ich versteh nicht, was ihr Ziel ist. Sind es Kidnapper? Was sind sie?«

Der Mann nickte traurig. »Das kann ich beantworten. Es ist eine Sekte. Genau so, wie’s immer in den Zeitungen zu lesen steht. Haben Sie nicht dieses Pamphlet gesehen, mit dem die früher geworben haben? Sinngebung und Augenblick hat oben groß drüber gestanden. Unten hieß es dann in winzigen Buchstaben Erstes Licht. Ja, genau. Erstes Licht. Das ist eine Sekte, die die Leute in den Wahnsinn treibt.«

Eine Sekte. Eine Sekte. Eine Sekte. Die Wörter hallten in Dans Gehirn wider, als er mit der U-Bahn nach Brooklyn zurückfuhr, ohne einen weiteren Gedanken daran zu verschwenden, noch ins Büro zu gehen. Seine Frau war in den Fängen einer Sekte. Erstes Licht. Eine Sekte.

Zeitungsschlagzeilen quälten ihn. Die Davidianer in Waco, Texas. Diese hirnverbrannte Schweizer Sekte mit den Massenselbstmorden in mehreren Ländern. Der geisteskranke japanische Guru der Gemeinschaft Aum Shinri Kyo, der seine Anhänger in Sklaverei hielt, seine Feinde umbrachte und Nervengas in der Untergrundbahn verteilte. Und natürlich Jonestown. Trinkt jetzt euer Gift, hatte Jim Jones seine Gemeinde angewiesen. Gebt es zuerst euren Babys. Fast tausend Menschen starben dort. Mit Kugeln für die, die sich weigerten, das Zeug zu trinken.

Eine Sekte.

Seine instinktiven Vermutungen waren von Anfang an richtig gewesen.

Eine Sekte. Und die Polizei konnte nichts unternehmen, weil Sekten vollkommen legal waren.

Eine Sekte.

Er mußte sie da selbst herausholen. Er mußte sie retten.

Er krümmte sich zusammen, stützte die Ellenbogen auf seine Oberschenkel und begrub sein Gesicht in den Händen. Er hatte sie schon einmal gerettet. Damals waren ihre Haare noch lang gewesen. Lang genug, um wie seidiger Seetang im Wasser zu treiben. Lang genug, daß er sich die Strähnen um die Hand wickeln konnte. So lang. Und schon so lange her. Nicht viele Jahre, aber in einem anderen Leben. Sie kannten sich damals noch nicht. Sie hatten nicht einmal von der Existenz des anderen geahnt.

Es ging ihm zu dem Zeitpunkt absolut glänzend, da er gerade die Zusage für ein Stipendium und für die Aufnahme in das Graduiertenprogramm der Columbia University in Architektur erhalten hatte. Es war Ende Mai. Er hatte seinen College-Abschluß vom Georgia Tech erhalten, seine Sachen gepackt und war mit dem Bus nach New York City gefahren, dem Architektenmekka, da er plante, den Sommer über zunächst Manhattan gründlich kennenzulernen, bevor er im Herbst an der Columbia University zu studieren begann.

Es war ein warmer Tag damals, allerdings mit einem launischen Wind, der in einem Moment sanft blies, um im nächsten den Menschen die Hüte vom Kopf zu reißen. Kurz vor Einbruch der Dämmerung ging Dan zum East River. Nur hier und da gesellten sich ein Jogger oder ein lustwandelndes Paar zu ihm auf dem Uferweg, und da es so ruhig und angenehm war, wanderte er mit den Händen in den Jeanstaschen weiter, als er ursprünglich beabsichtigt hatte, und beobachtete dabei, wie der Wind mit dem Wasser spielte, während die Schatten länger wurden.

Er erblickte sie vor sich in der Ferne, wie sie sich über das niedrige Geländer lehnte, die Hände um die Eisenspitzen klammerte und in das Wasser starrte. Sie trug ein so zartes und altmodisches weißes Kleid, daß er zunächst dachte, sie stehe vielleicht Modell für einen Fototermin – ein Anblick, der sich ihm schon einmal zuvor in der Woche, die er bereits in der Stadt war, geboten hatte. Doch da war kein Kamerateam. Sie war allein.

Jetzt im Rückblick wußte er, daß dies der Augenblick war, in dem alles aufeinander zuströmte – sein Leben und ihr Leben, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Alle Linien vorwärts und zurück trafen sich in diesem winzigen Zeitpunkt, als wäre er der Angelpunkt in einem Gemälde von Vermeer.

Er war zur Seite abgeschwenkt und im Schutz eines Baumes stehengeblieben, in einer Position, die es ihm ermöglichte, sie zu beobachten, ohne ihre Träumerei zu stören. Sie starrte weiterhin völlig versunken und ohne den Einbruch der Nacht zu beachten in das tintenschwarze Wasser hinab. Ein feiner Sprühregen benetzte ihr Kleid jedesmal, wenn eine Welle gegen die Staumauer klatschte, aber sie bemühte sich nicht, auszuweichen. Der Wind spielte in den langen, dunkelroten Strähnen ihres Haars, hob sie hoch und zerzauste sie, schlug sie ihr gegen die Wangen. Sie behielt die Hände auf dem Geländer und das Wasser im Blick.

Er war fasziniert. Die Frauen von New York waren generell eine Offenbarung für ihn gewesen. So viele glanzvolle und elegante weibliche Wesen von sexueller Ausstrahlung an einem einzigen Ort versammelt. Und diese Frau insbesondere zu diesem besonderen Zeitpunkt war für ihn der Höhepunkt aller Phantasiegeschöpfe. Sie war der Inbegriff aller Mysterien und aller Mythen, der Inbegriff jeden Jugendtraumes.

In der Ferne am Flußufer gegenüber blitzten Lichter auf, und der Vollmond trat in Erscheinung, blaß und leuchtend, verblüffend in seiner Traurigkeit. Er blickte zum Mond hinauf, bekam aus dem Augenwinkel irgendeine rasche Bewegung mit, und schaute wieder zu der Frau hinüber, aber sie war verschwunden. Vom Erdboden verschluckt.

Einen Augenblick lang stand er vor Fassungslosigkeit ganz erstarrt da, die Augen wie festgenagelt auf die Stelle gerichtet, wo sie gewesen war, wo jetzt nur noch ein Fetzen weißen Stoffes von einer Zaunspitze durchbohrt flatterte. Dann rannte er los, schleuderte noch seine Schuhe von sich, während er sich hinter ihr her ins Wasser warf.

Die schockierende Kälte wurde ihm als erstes bewußt. Dann die Wucht. Die mahlende, pulsierende, voranbrausende Wucht des heimtückischen uralten Flusses. Er kämpfte gegen das Saugen der Strömungen an, arbeitete sich mit schier berstender Lunge zur Oberfläche hinauf. Mit panischer Angst suchte er nach ihr. Sah etwas gleich einem silbernen Fisch im Mondlicht aufglänzen. Ihr Kleid. Schwamm voran. Verlor sie aus den Augen. Sah dann ihr in den Wellen nach oben gerichtetes Gesicht. Sie war höchstens drei Meter von ihm entfernt, aber der Fluß lieferte ihm – obschon er seit jeher ein kraftvoller Schwimmer und zu dem Zeitpunkt körperlich gut durchtrainiert war – um jeden einzelnen Zoll dieser wenigen Meter einen harten Kampf.

»Ich komme!« brüllte er prustend, da ihm das ölige Wasser die Luft abschnitt.

Ihre Augen waren geschlossen. Ihre Haut war von gespenstischer Blässe. Und gerade als er sie erreichte, schlugen die Wogen über ihr zusammen, und sie verschwand. Unter Anspannung all seiner Kräfte holte er Schwung und tauchte. Blindlings griff er in der Finsternis um sich, und er erwischte sie an ihren langen, dahintreibenden Haaren, zog sie an ihrem dunkelroten Haar mit sich empor.

Das übrige war nur noch verschwommen. Er hatte keine Ahnung, wie lange er dann noch gekämpft und im Tauziehen mit dem Fluß um ihren schlaffen Körper gerungen hatte.

Als die Rettungsleute sie beide endlich herausholten, brannten ihm die Muskeln und sein Herz und die Lunge, doch äußerlich war er betäubt von Eiseskälte und kaum in der Lage, zu reagieren. Sie mußten sie mit Gewalt von ihm ablösen. Daran konnte er sich noch erinnern. Sein Arm hielt sie wie im Schraubstock fest, und er konnte einfach nicht loslassen.

Sie zeigte keinerlei Lebenszeichen. Er schaute zu, wie die Rettungssanitäter sie bearbeiteten. Sie brachten ihren Herzschlag und ihre Atmung wieder in Gang, aber sie war noch immer ohne Bewußtsein, als die Rettungsleute sie neben ihn in den Ambulanzwagen einluden.

Im Krankenhaus wärmten sie ihn, belebten ihn und stachelten seine Lebensgeister an, gaben ihm Spritzen, um die in dem verseuchten Gewässer lauernden Übel abzuwehren, und entließen ihn dann kurz vor Tagesanbruch. Er vermochte nicht wegzugehen. Er fand ein Sofa im Wartezimmer außerhalb der Intensivstation, und dort schlief er ein.

Als Dan aus seinem Tagtraum erwachte, um an der Haltestelle Bay Ridge auszusteigen, wurde ihm bewußt, daß er seine Aktentasche nicht mehr bei sich hatte. Er hatte keine Ahnung, wann er sie verloren hatte. Der größte Teil seiner Arbeit am Brunner-Projekt war darin verstaut gewesen. Das alles war für immer verloren. Er hegte keine Illusionen, daß irgend jemand die Mappe beim Fundbüro abgeben würde. Aber die Arbeit war jetzt nicht wichtig. Er mußte seine Frau aus diesem Haus herausbekommen. Er mußte einen Plan schmieden. Er mußte sich organisieren. Er mußte sehr raffiniert vorgehen.

Es war mitten am Nachmittag, als er schließlich mit dem Wagen zum Village zurückfuhr. Er war mit einem Overall bekleidet, den er in einem Laden für Arbeitsbekleidung in Bay Ridge besorgt hatte, und auf dem Kopf trug er eine mit A1 Sanitär- und Heizungstechnik beschriftete Baseball-Kappe, die sie damals beim Einzug in ihre Wohnung vorgefunden hatten. Auf dem Sitz neben ihm lag ein Klemmbrett, bestückt mit einem Stapel authentisch aussehender Formulare, die man in Wirklichkeit bei ihm in der Firma als Notizpapier verwendete. Auf dem Wagenboden war eine große Werkzeugtasche verstaut, die er in der Eisenwarenhandlung mit einer Axt, einem überdimensionalen Hammer, einem Glasschneider und einem Sortiment verschiedenster Werkzeuge aufgestockt hatte.

Er fuhr nicht am Haus Nummer 44 vorbei, nur für den Fall, daß sie die Straße im Auge behielten. Statt dessen wartete er auf einem Parkplatz um die Ecke, damit keine Möglichkeit bestand, daß man seinen Wagen von dem Haus aus sehen konnte. Er hatte keinen festgelegten Plan, vielmehr schwebte ihm eine Liste möglicher Zutrittsmanöver vor, die er bereits verworfen hatte.

Das Klemmbrett in der einen Hand und die Werkzeugtasche in der anderen, stand er an der Ecke und blickte die Vanzant Street hinunter. Die braunen Sandsteinhäuser stellten auf der Vorderseite eine lückenlose Festung dar. Keine Seitenfenster, die er hätte erforschen können. Dort kam nichts außer einem Frontalangriff in Frage. Und daß er es schaffen könnte, hinter diese stahlummantelte Tür zu gelangen, bevor die Polizei erschien und ihn fortschleppte, das bezweifelte er. Er wandte sich ab und ging die Seitenstraße entlang, lief dann um den Block herum, bis er wieder das Haus Nummer 44 im Blickfeld hatte. Vom Gehweg aus gesehen, schienen die Rückseiten der Gebäude an der einen Straße direkt an die Rückseiten der Gebäude an der nächsten Straße angebaut zu sein, so daß der gesamte Häuserblock ein kompaktes Rechteck aneinander angrenzender Mauern war. Er drehte um und ging auf demselben Weg zu seinem Wagen zurück, um nicht an der Nummer 44 vorbeizukommen.

Als er am Ende des Blocks in die Seitenstraße einbog, bemerkte er, daß hinter der Reihe der zur Straße hin gelegenen Geschäftsgebäude eine Baumspitze sichtbar war. Ein Baum bedeutete, daß es einen Durchgang oder eine freie Fläche geben mußte. Vielleicht einen Zugang zu den Rückseiten der Häuser. Vielleicht Fenster ohne Gitterstäbe. Vielleicht sogar Hintereingänge.

Er spürte, wie sich sein Unterleib verkrampfte, als er eine kleine Bäckerei betrat, die in der Mitte der Ladenzeile an dieser Straße lag. Er wünschte, er hätte sich besser mit Installationsarbeiten ausgekannt.

»Hallo«, sagte er zu dem Mann mit einer angehenden Glatze hinter der Theke. »Ich bin von der Firma ähh ... A1 Sanitär- und Heizungstechnik, und jemand hat bei uns angerufen, daß da hinten irgendwas mit den Rohren nicht stimmt. Haben Sie einen Hinterausgang?«

»Ja schon, aber ich hab nicht angerufen«, protestierte der Mann.

»Nein? Na gut, das muß ich dann später mit der Zentrale klären. Aber erst geh ich mal lieber nach hinten und schau mir die Sache an.«

»Ich hab nicht bei Ihnen angerufen, und ich bezahle auch nichts«, erklärte der Mann.

»Kein Problem«, versicherte ihm Dan. Er starrte auf seine Notizzettel auf dem Klemmbrett und kreuzte irgend etwas beliebig an, um dem Mann nicht ins Gesicht sehen zu müssen. »Sie sind nicht verantwortlich für die Sache. Aber ich kann keine Zeit damit vergeuden, rauszufinden, wer es ist, weil die Lage gefährlich werden könnte. Entweichendes Gas könnte zu einer Explosion führen.«

»Scheiße«, brummte der Mann. »Das fehlt mir grade noch. Sollte dann nicht auch die Gasgesellschaft dasein?«

»Die sind wahrscheinlich schon unterwegs«, improvisierte Dan.

Die Hintertür des Geschäfts ging mit einem quietschenden Schaben von Metall gegen Metall auf, und Dan blickte auf eine grüne Oase. Da war ein schmales Stück offenes Land, das hinter mehreren der Läden entlanglief, mit einer Grenzlinie, die von einem morschen, knapp zwei Meter hohen Holzzaun markiert wurde. Weiter in der Ferne lagen briefmarkengroße Hinterhöfe für die braunen Sandsteinhäuser. Und Hinterhöfe bedeuteten auch Hintereingänge.

Er trat über herumliegende Getränkedosen und hingestreute Zigarettenkippen, die darauf schließen ließen, daß dies ein beliebter Aufenthaltsort in den Pausen der Angestellten der verschiedenen Läden war. Doch an diesem Montagnachmittag war niemand draußen und rauchte. Er zog sich am ersten Zaun hoch, blickte sich um und kletterte darüber. Keine Rufe des Protests ertönten. Er ging weiter, überwand einen Zaun nach dem anderen und zählte dabei mit, damit er wußte, wann er zur Rückseite des Hauses Nummer 44 kam. Die meisten der winzigen Hinterhöfe waren ordentlich und gepflegt. Er bemühte sich, keine der bepflanzten Stellen zu beschädigen. Schließlich erreichte er einen höheren, neueren Zaun aus solidem Holz mit spitzen Pfählen am oberen Ende, und er wußte, daß die Sekte diese Barriere errichtet hatte.

Er suchte den Zaun nach einem Spalt oder Astloch ab, um hindurchzuspähen, das Holz bestand jedoch aus zwei sich überkreuzenden Schichten. Er lauschte, konnte aber nichts vernehmen.

Er schob sich an dem kürzeren Zaun des Nachbarhofs hoch und blickte in den Hof von Hausnummer 44 hinunter. Er war mit Pflastersteinen ausgelegt und von Betonbänken gesäumt. Eine Frau in einem langen weißen Gewand kniete mit gesenktem und teilweise von einer Kapuze verdecktem Kopf auf dem Steinboden neben einer der Bänke. Sein Herz machte einen Satz.

Doch es war nicht Alex. Es war eindeutig nicht Alex.

Fest entschlossen, die Sache durchzuziehen, packte er den mit Pfählen besetzten Zaunrand und schwang sich hinüber. Zu spät entdeckte er, daß oben in jeden Holzpfahl winzige Metallspitzen eingelassen waren. Mit brennendem Schmerz an seinen Handflächen plumpste er auf die Pflastersteine. Die kniende Frau schrie auf.

»Bitte...« Er hielt beschwichtigend seine blutbefleckten Hände hoch. »Ich suche nach meiner Frau ... Alexandra. Kennen Sie sie? Alexandra Behr?«

Die Frau starrte ihn mit aufgerissenen, emotionslosen Augen an, und er sah, daß ihre Handgelenke gefesselt und irgendwie an einen am Ende der Bank eingelassenen Metallring angekettet waren.

»Sind Sie in Ordnung?« Er näherte sich ihr, um herauszufinden, ob er sie befreien konnte, und sie schrie wieder und kauerte sich dann in einer embryonalen Haltung zusammen.

»Schhhh. Bitte. Ich möchte Ihnen helfen. Ich nehme Sie später mit. Ich werde meine Frau finden, und Sie schaffe ich dann auch raus.« Die Hintertür knallte auf, und ein junger Mann trat heraus. Er hielt eine sehr große, sehr furchterregende Waffe in der Hand.

»Hinlegen«, brüllte er. »Gesicht nach unten und Hände ausstrecken.« Dan starrte ihn an, starrte auf die runde Mündung des Gewehrlaufs. »Sofort!« Der Mann wedelte mit der Waffe. »Oder ich knall dir die Rübe ab.«

Dan holte tief Luft und ließ sich zu Boden.

Der Mann hockte sich knapp außer Reichweite hin und zielte mit dem Gewehr auf Dans Gesicht.

Dan schluckte schwer, und während er spürte, wie ihm die rauhen Pflastersteine in die Wange schnitten und ihn die Stichwunden an seinen Handflächen schmerzten, sagte er: »Ich will bloß meine Frau.«

»Klappe halten! Die Polizei ist schon unterwegs. Aber ich könnte dich trotzdem noch abknallen.« Der Mann schnalzte vorwurfsvoll mit der Zunge. »Einfach einzubrechen und dieses arme Mädchen zu attackieren ... kannst von Glück reden, daß ich auf die Polizei warte.« Dan schloß die Augen, um das Gewehr aus seinem Sichtfeld zu verbannen. Es war eine echte Waffe. Daran bestand kein Zweifel. Und ihm war bewußt, daß er eigentlich zutiefst erschreckt hätte sein sollen, doch alles erschien ihm ohne Zusammenhang und unwirklich. Und er fühlte sich unbekümmert. Achtlos. Ganz so, als wäre er nicht mehr für seine eigene Sicherheit verantwortlich.

Wußte Alex wohl, was sie ihm antaten? Wußte Alex das mit dem Gewehr? Vielleicht war sie irgendwo angekettet, genauso wie das arme junge, auf den Pflastersteinen kniende Mädchen. Vielleicht stand sie unter Drogen. Hatten die Augen des jungen Mädchens nicht seltsam leer ausgesehen? Das war vermutlich eine übliche Methode, um sich Menschen zu unterwerfen.

Die Vorstellung seiner mit Drogen vollgepumpten und angeketteten Frau versetzte ihn in eine solche Wut, daß er plötzlich Angst bekam. Nicht vor dem Gewehr, sondern vor sich selbst. Vor dem, was er zu tun imstande war. Er konzentrierte sich auf das Brennen an seinen Händen. Das war wirklich vorhanden. Und er konzentrierte sich auf das kalte Gewicht des Gewehrlaufs, der gegen seine Schläfe drückte. Das war erst recht die Wirklichkeit. Und es würde ebenso wirklich sein, wenn er dort auf dieser kleinen Terrasse sterben sollte. Es würde ganz real passieren, und es würde keine Lösung bringen.

»Mr. Behr ...«

Er schlug die Augen auf und sah, daß das kniende Mädchen verschwunden war und der Hof sich mit Polizisten gefüllt hatte. Gasparino sah mit einem bedauernd resignierten Blick auf ihn herab. Er seufzte schwer.

»Da kam dieser Anruf, und ich wußte gleich, daß Sie das sind«, erklärte der Kriminalbeamte mit einem Kopfschütteln. »Da haben Sie einen guten Job und ein Kind und ein angenehmes Leben, aber Sie vermasseln alles, weil Sie sich partout nicht beherrschen können. Hätten Sie den Dingen nicht einfach ihren Lauf lassen können? Und ihr ’ne Gelegenheit geben, wieder heimzukommen?«

»Die lassen sie doch nicht heimkommen. Sehen Sie das denn nicht? Das ist eine Sekte. Die lassen die Leute nicht wieder weg.«

Zwei Beamte in Uniform zogen Dan mit einem Ruck auf die Füße hoch und legten ihm Handschellen an. Der bewaffnete junge Mann, der auf einer Bank saß und seine Aussage machte, grinste höhnisch, als man Dan an ihm vorbei auf die Hintertür zu eskortierte. Dan begriff plötzlich, daß der einzige Weg aus dem Hof hinaus durch das Haus führte. Er ging also hinein. In das Gefängnis von Alex.

Er trat durch die Tür. Im Inneren war es kühl und schwach beleuchtet und roch nach Putzmitteln. Wie so viele Häuser aus jener Stilperiode hatte es einen geraden Korridor, der von hinten bis ganz nach vorne reichte. Er versuchte Einblick in andere Räume zu gewinnen, als sie an Zimmertüren vorbeikamen. Das Gebälk glänzte. Die Wände waren frisch gestrichen. Da hingen gerahmte Fotos von Menschen, die im Grün irgendeiner Bergregion versammelt waren. Alles hatte den ehrbaren Anschein von Normalität.

Als sie bei der Treppe und dem bogenförmigen Durchgang zum Wohnzimmer ankamen, riß sich Dan von seinen Begleitern los.

»Alex!« brüllte er. »Alex! Ich bin’s, Dan!«

Er warf sich auf die Stufen. Irgend etwas schlug ihm in den Rücken. Er wand sich herum, um zu entkommen. Etwas traf ihn am Brustkorb, und er sackte zu Boden, rang keuchend nach Luft.

»Herrgott, Behr ...« Gasparino hockte sich neben ihn. »Warum machen Sie’s sich bloß selber so schwer?«

»Meine Frau«, sagte Dan mit schwerem Atem. »Wo ist sie? Können Sie sie finden?«

»Ich hab Brown schon losgeschickt, um sie zu suchen«, erwiderte Gasparino. »Sie müssen jetzt die Beamten hier ihre Arbeit machen lassen.«

Erneut zerrte man Dan wieder auf die Füße.

»Ich will doch nicht, daß Ihnen was zustößt«, sagte Gasparino brummig.

Sobald sie draußen auf dem Gehsteig angelangt waren, befreite man ihm die Hände und legte sie dann wieder in Handschellen, nur diesmal vorn. Es war genauso demütigend, aber wesentlich erträglicher. »Kopf einziehen«, sagte jemand, als er auf den Rücksitz eines Streifenwagens befördert wurde.

Leute sagten etwas. Er antwortete. Sie verlasen ihm seine Rechte und fragten, ob er einen Anwalt zu Rate ziehen wolle. Doch im weiteren Verlauf verschwomm alles immer mehr.

»Sind Sie ansprechbar, Dan?«

»Ja. Hab ich Ihnen schon von Khadra erzählt? Die haben seine Tochter. Die ... die ...« Die Handschellen waren jetzt weg. Er war im Gebäude der Polizeiwache. Gasparino war da. Und Greenberg Ihm war übel. Er fror, fühlte sich verschwitzt und schwach. Und es fiel ihm schwer, seine Gedanken zu ordnen.

»Also noch mal von vorn, Dan. Sie sagen, Sie sind über den Zaun gesprungen, um nach Ihrer Frau zu suchen, und das junge Mädchen war in dem Hof.«

Dan nickte. »Sie hat da gekniet, auf diesen harten Steinen, und dann hab ich gesehen, daß sie an den Handgelenken gefesselt war ... an einen Ring in der Bank gekettet ... also wollte ich versuchen, sie zu befreien ... aber sie hat geschrien.«

»Sie sagt, man hätte sie nicht gefesselt. Und Mr. Carle...«

»Ist das der Kerl mit der Kanone?«

»Ja. Er behauptet, die Ringe in den Bänken sind bloß zur Dekoration da. Er sagt, daß niemand gefesselt wird und daß es noch nie Ketten gegeben hat.«

»Die hatte doch Drogen gekriegt oder so was. Ansonsten hätten ihr die Knie auf diesen Steinen weh getan.«

»Wieso kommen Sie darauf, daß sie auf Drogen war?«

»Ihre Augen. Haben Sie nicht ihre Augen gesehen?«

»Sie hat behauptet, daß sie da draußen wegen irgendeiner Art von Buße gekniet hat.«

»Sie war angekettet.«

»Wieso war ihr Gewand zerrissen?«

»Weiß ich nicht. Kam mir nicht zerrissen vor.«

»Wir haben’s da. Es ist zerrissen. Sie behauptet, daß Sie es zerrissen haben.«

»Ich hab sie nicht angerührt.«

»Da sagt sie was anderes.«

»Ich wollte versuchen, sie freizukriegen, aber sie hat geschrien und sich auf dem Boden zusammengekauert. Dann kam der Kerl mit der Kanone raus. Wie kann das legal sein ... so einen Schießprügel hier in der Stadt zu haben? Und jemanden damit zu bedrohen?«

»Die Waffe ist zugelassen. Und Sie waren ein Eindringling, der eine Frau im Hinterhof angegriffen hat. Er hat alles richtig gemacht.«

»Er hat gedroht, mir die Rübe abzuknallen und nicht erst zu warten, bis Sie kommen.«

»Hat er aber nicht getan, oder?«

»Ich habe niemanden angegriffen. Ich hab nach meiner Frau gesucht.«

Nun tauchte Brown auf und unterhielt sich flüsternd mit Gasparino.

»Haben Sie mit meiner Frau geredet?« fragte Dan sie.

Brown blickte auf Gasparino, und der Beamte nickte kaum merklich.

»Sie ist nicht mehr dort«, erklärte Brown.

»Was? Was meinen Sie damit? Ist sie nach Hause gefahren? Ist sie ...«

»Immer mit der Ruhe, Dan«, ermahnte ihn Gasparino.

Dan starrte Brown an. Er konnte nicht scharf sehen. Alles an ihr war verschwommen.

»Die haben mir gesagt, daß Ihre Frau sich jetzt an einem anderen Ort aufhält. In einem anderen Staat. Das ist das einzige, was ich rausfinden konnte.«

Dan verbarg das Gesicht in den Händen. Ein Aufschluchzen entwand sich seinem Brustkorb. Es war ein herzzerreißendes, qualvolles Geräusch. Ein Geräusch, das ihn verlegen machte. Er ließ die Hände auf seinen Schoß fallen und starrte auf die kleinen Einstichwunden an seinen Handflächen. Lange blieb es still.

»Wollen Sie jetzt einen Anwalt anrufen?« fragte Gasparino schließlich.

»Ich kenne keine Anwälte«, sagte Dan, und der Kriminalbeamte wiederholte einen Passus darüber, daß man ihm einen Anwalt zur Verfügung stellen werde, falls er es wünsche.

»Was passiert als nächstes mit mir?« fragte Dan. »Ich kann hier nicht bleiben. Mein Gott.« Er griff sich an die Stirn und versuchte, einen klaren Kopf zu bekommen. »Hana. Meine Tochter ... Ich müßte eigentlich Felice anrufen ... Ich müßte ...«

»Sie haben schon angerufen«, bemerkte Gasparino.

»Ach, wirklich?« Er kniff die Augen zusammen und schüttelte den Kopf angesichts des Durcheinanders, daß sich in seinem Gehirn breitmachte. Sein Magen schlingerte, als hätte Dan sich in einem kleinen Boot auf rauher See befunden.

»Sind Sie okay?« hörte er eine Stimme fragen.

Er versuchte aufzustehen, aber der Boden raste auf ihn zu und knallte ihm ins Gesicht.

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