Читать книгу Gestohlene Seelen - Darian North - Страница 8

Kapitel 2

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Behr stapfte wieder zum Gehsteig hinunter, blieb eine Weile stehen, drehte sich dann um und machte sich auf in Richtung der Straße, in der die Geschäfte lagen, um ein öffentliches Telefon aufzutreiben. Unzweifelhaft hatte er etwas mißverstanden. Vielleicht hatte man es sich anders überlegt, und das Treffen war schon früher zu Ende gegangen. Vielleicht hatte Alex ja versucht, ihn im Büro zu erreichen, ihn dann aber um ein paar Minuten verpaßt. Vielleicht war sie bereits zu Hause.

Als er endlich ein funktionierendes öffentliches Telefon fand, rief er in ihrer gemeinsamen Wohnung an. Es klingelte und klingelte. Sie war nicht da. Er hielt den Hörer in der Hand und überdachte seine Möglichkeiten, wählte schließlich Felice Navarre an, bei der seine Tochter untergebracht war. Die Frau ließ sich mit einem fröhlichen Hallo vernehmen.

»Hallo, Felice ... Dan Behr am Apparat. Hast du was von Alex gehört?«

»Nein. Sollte sie denn anrufen?«

»Nein.« Er seufzte unwillkürlich. »Ich bin hier in Greenwich Village und kann sie nicht finden, und ich bin mir nicht einmal sicher, ob die Adresse stimmt, die sie mir gegeben hat.«

Felice lachte. »Ich glaube, ihr zwei braucht einen Aufpasser. Falls sie hier anruft, sage ich ihr, daß du sie suchst.«

»Sag ihr, ich hab das Auto in der Nähe der Vanzant Street Nummer 44 im West Village geparkt.«

»Eine Minute. Ich schreib’s eben auf.«

Er wartete. Hana sagte etwas im Hintergrund und brachte Felice erneut zum Lachen. »Deine Tochter macht sich Sorgen, ihr könntet euch beide verlaufen und den Nachhauseweg nicht mehr finden.«

»Hol sie doch bitte mal her.«

Nach einer Menge krachender und schleifender Geräusche sagte eine kleine Stimme: »Hallo, Daddy.«

»Hallo, Purzelchen. Mach dir mal keine Sorgen. Wir finden schon wieder nach Hause.«

Sofort beruhigt, schnitt Hana ein neues Thema an. »Felice hat mich die Hundeleine halten lassen, als wir mit Peppy raus sind, und ich hab mit Peppy schlafen dürfen. Nicht die ganze Nacht, aber bloß so zum Kuscheln.«

»Gut«, erwiderte er, so überzeugt er auch war, daß Alex nicht damit einverstanden sein würde, daß ihre Tochter mit dem Hund kuschelte. »Morgen ist Schule, und wir richten dann unser ganzes Zimmer schön geschmückt für den Tag der offenen Tür her. Felice hat einen Zettel von meiner Lehrerin darüber gelesen.«

»Okay, Schätzchen. Du kannst mir später noch mehr davon erzählen. Hol jetzt bitte Felice wieder ans Telefon.«

»Der öffentliche Abend ist morgen um sieben«, erklärte Felice, sobald sie wieder an der Leitung war. »Als wir ihre Hausaufgaben fürs Wochenende aus der Schultasche geholt haben, fiel mir die Notiz in die Hand.«

»Gut. Alex ist sicher schon informiert.« Er zögerte. »Es sieht so aus, als könnte es noch eine ganze Weile dauern. Ich meine, wir sind noch nicht mal zu einem Restaurant unterwegs. Vielleicht sollten wir das Essengehen ausfallen lassen und ...«

»Nein, nein, nein. Geht mal aus. Amüsiert euch. Falls es spät wird, leg ich Hana schon auf der Couch schlafen, und ihr könnt sie dann nach Hause befördern, ohne sie zu wecken.«

»Und falls Alex anruft ...«

»Kapiert. Du liebe Güte, Dan, das kenne ich gar nicht, daß du so angespannt klingst. Nur die Ruhe, Mann. Das geht schon alles in Ordnung.«

Während er zur Vanzant Street zurückging, holte er die Notiz von Alex aus der Hosentasche und las sie erneut. »Vergiß nicht, mich abzuholen«, hatte sie geschrieben. »Fünf Uhr am Sonntag. 44 Vanzant. Alles Liebe, A.« Und dann hatte sie die wenigen Zeilen an Richtungsangaben hinzugefügt.

Er erreichte die Hausnummer 44 und stand nun frustriert und verunsichert auf dem Gehsteig vor dem Gebäude, hart am Rand eines nicht genauer bestimmbaren Zorns, der sich auf die Situation ganz allgemein bezog. Was tun? Sollte er in seinen Wagen zurückkehren und dort sitzen bleiben? War es besser, erst einmal zu gehen und später wiederzukehren? Oder sollte er auf die Gegensprechanlage drücken, bis irgendein vernünftiger Mensch sich meldete?

Zwei Männer traten aus dem Hauseingang nebenan. Sie trugen identische Jogginganzüge und steckten, in ein Gespräch vertieft, die Köpfe zusammen. Behr eilte auf sie zu, erregte jedoch erst ihre Aufmerksamkeit, als er ausrief: »Entschuldigen Sie bitte!«

Die beiden blieben stehen und beobachteten skeptisch, wie er näher kam. »Ja?« sagte der ältere, kleinere Mann.

»Tut mir leid, daß ich Sie störe, aber ich versuche hier an der Straße jemanden zu finden und bin mir nicht sicher, ob ich die richtige Adresse habe.«

Der kleinere Mann zuckte mit den Achseln. »Wir kennen kaum irgendwelche Nachbarn hier.«

Der zweite Mann war Mitte Dreißig und hatte eine kräftige Statur. Er lächelte. »Nach wem suchen Sie denn?«

»Ich habe eigentlich gar keinen Namen einer Person«, räumte Dan ein. »Aber es ist eine Wohnung, wo sich Leute zu Wochenendtreffs zurückziehen. Ich dachte, die Adresse wäre die Nummer 44.«

Das Lächeln schwand, und die beiden Männer tauschten argwöhnische Blicke aus. »Sie sind schon ganz richtig, 44«, erklärte der kleinere Mann, und die beiden begannen sich rasch in Bewegung zu setzen.

»Warten Sie! Bitte ... Kennen Sie die Leute? Haben Sie die Telefonnummer? Meine Frau ist da drin, aber keiner will mir aufmachen.«

»Wenn ich Sie wäre«, rief der größere Mann noch über die Schulter zurück, während sie davonjoggten, »dann würde ich schnurstracks zur Polizei gehen.«

Die Worte trafen Dan wie ein Faustschlag. Während sein Puls zu rasen begann und sein Magen sich verkrampfte, wandte er sich ab, um erneut an dem Haus hochzuschauen. Es fügte sich nicht mehr harmonisch in die übrige Gebäudereihe ein. Nun ragte es ominös und drohend vor ihm auf. Irgend etwas stimmte nicht an diesem Haus. Als er an der nachgedunkelten Fassade hinaufblickte, bewegten sich die schweren Vorhänge hinter einem vergitterten Fenster, und ihm wurde bewußt, daß er beobachtet wurde.

Alexandra war dort drin. Urplötzlich war er sich dessen sicher. Seine Frau war dort drin. Und er wußte tief in seinem Inneren, daß er sie dort herausholen mußte. Und zwar schleunigst.

Das Polizeirevier lag nur wenige Straßen entfernt. Während seiner Suche nach der Vanzant Street hatte er das Sixth Precinct House, die Wache des sechsten Distrikts, gar nicht übersehen können, weil das Gebäude so gar nicht zu der nostalgischen Atmosphäre des Village paßte. Es war seiner Vermutung nach ein typisches Produkt der siebziger Jahre – einer Ära gnadenlos gleichförmigen Baustils für öffentliche Gebäude –, und er hatte es als Ironie empfunden, daß die Stadt ein Verbrechen gegen ein historisches Viertel begangen hatte in der Absicht, ebendort Verbrechen zu bekämpfen.

Er stürmte durch den Eingang an der Zehnten Straße, dann durch ein weiteres Paar Türen. Da er noch nie im Inneren eines Polizeireviers gewesen war, ergriff ihn äußerstes Entsetzen. Es war der komplette Gegensatz zu der supermodernen, klar umrissenen Art von Einrichtung, wie sie in so vielen Kriminalfilmen dargestellt wurde. Deckenfliesen hingen durch, und der Zementboden sah aus, als sei er einem Erdbeben ausgesetzt gewesen. Die grauen Schreibtische und Aktenschränke aus Metall waren so verbeult und zerkratzt, als hätte man sie von einer Müllhalde gerettet. Und über dem Ganzen – über Zimmerdecke wie Boden, über den Möbeln, über den kakaofarben gekachelten Wänden und der in der Farbe von Blaukehlcheneiern gehaltenen Betonziegelwand – lag eine alles durchdringende Ermattung. Diese Ermattung spiegelte sich auch in der Körperhaltung und dem manierierten Gehabe der uniformierten Beamten hinter den ramponierten Schreibtischen und trüben Plexiglasunterteilungen wider.

Dan zügelte seine Panik, stellte sich zu der Traube von Bürgern, die sich an der Anmeldung zusammengefunden hatten, und wartete, daß er an die Reihe kam. Er wartete während Berichten über gestohlene Geldbörsen und fehlende Chipkarten für den Bankautomaten. Ein junger Hengst von der Wall Street verlangte nach einem Kriminalbeamten. Eine Frau mit einem blauen Auge wollte von dem auf sie verübten Überfall berichten. Ein älterer Mann beschwerte sich jammernd, daß die Streifenpolizisten seinen Vetter nicht hinter Gitter brächten. In einem freien Bereich hinter dem Schreibtisch rackerte sich eine Stenotypistin damit ab, handgeschriebene Berichte in getippte Beschwerdeschriften zu verwandeln.

»Wer ist der nächste?«

Dan trat vor.

»Meine Frau wird in einem Haus in der Vanzant Street festgehalten.«

Der mit einem riesigen Brustumfang ausgestattete Beamte hinter dem Schreibtisch blickte mit einem sorgsam neutral gehaltenen Ausdruck zu ihm hoch. »Wie festgehalten? Was bezeichnen Sie mit ›festhalten‹?«

Dan gab die ganze Geschichte wieder. Er wurde an einen weiteren, mit einem Stift und Formular bewappneten Beamten weitergereicht, und wiederum erzählte Dan seine Geschichte. Bei der Wiederholung wurde ihm bewußt, daß die ganze Sache fadenscheinig und vielleicht sogar bedeutungslos wirkte. Nicht im mindesten vermittelte er den bedrohlichen Charakter des Vorfalls. Und er hatte weder Beweise noch Zeugenaussagen dafür, daß hier in der Tat ein Verbrechen verübt wurde.

»Ist dies eine familiäre Auseinandersetzung, Sir?« fragte der junge Beamte schließlich.

»Nein. Keinesfalls.«

»Drogen mit im Spiel?«

»Nicht, daß ich wüßte.«

»Raubüberfall?«

»Nein! Die haben sie dort einfach ... in der Gewalt. Hören Sie ...«, er straffte sein Rückgrat und folgte dem Beispiel des Börsenmannes, dessen effektives Auftreten er zuvor mitbekommen hatte. »Ich möchte einen Kriminalbeamten sprechen. Auf der Stelle. Meine Frau ist in Gefahr, und ... und einer der Nachbarn hat gesagt, in dem Haus dort hat es schon früher Ärger gegeben.« Nur eine leichte Ausschmückung der Wahrheit. »Ich möchte einen Kriminalbeamten sprechen«, sagte er mit Nachdruck.

»Ich seh mal nach, ob einer der Beamten frei ist, Sir. Setzen Sie sich.«

»Könnte ich erst noch telefonieren und mich nach meiner Tochter erkundigen ... um sicherzugehen, daß sich nichts geändert hat und ...«

»Kommen Sie hier rüber. Ich hab hier einen Apparat, den Sie benutzen können.«

Nachdem Behr sich erneut mit Felice in Verbindung gesetzt hatte, nahm er auf einem der in Form gegossenen Plastikstühle Platz, die an der Wand gegenüber dem Schreibtisch aufgereiht waren. Es war ein orangefarbener Stuhl mit Chrombeinen, doch im Lauf der Jahre hatte sich so viel Schmutz in das Plastik eingerieben, daß die Farbe ganz stumpf war. Als Dan einfach nicht mehr stillsitzen konnte, tigerte er ziellos zwischen der Eingangstür und der Stuhlreihe hin und her, behielt dabei den Schreibtisch im Auge und wartete darauf, aufgerufen zu werden. Nun wurde der Mann mit dem faßförmigen Oberkörper von zwei Frauen abgelöst, einer in Uniform und einer in Zivil. Als er das Warten nicht mehr aushielt, näherte er sich den beiden von der Seite, ohne auf die Proteste aus der versammelten Menge zu achten, wo man sich beschwerte, er drängle sich einfach vor. »Was ist eigentlich los?« verlangte er zu wissen.

Die Beamtin in Uniform streckte den Brustkorb heraus und blickte ihn strafend an. »Halten Sie sich im Zaum«, erwiderte sie im Kommandoton. Im Gegensatz zu ihrem modisch femininen Haarschnitt war ihr Auftreten rigoros und einschüchternd.

»Meine Frau ist in Gefahr! Bedeutet das denn gar nichts? Gibt es hier denn keinen, der mehr tut als Fragen zu stellen und Formulare auszufüllen?«

Sie blähte sich auf und fixierte ihn mit einem warnenden Blick.

»Ich glaube, einer von der Kripo kommt gleich runter für ihn«, sagte die Frau in Zivilkleidung.

»Wann?« ließ er nicht locker.

Angespanntes Schweigen herrschte für eine Weile, während die aufgeblähte Beamtin ihn anstierte, die andere Frau im oberen Stockwerk anrief und die rings um den Anmeldetresen versammelte Menge erwartungsvoll das Schauspiel verfolgte.

»Ja, genau«, sprach die Frau in den Telefonhörer und hielt dabei die Augen auf Behr gerichtet. »Ja. Ja. Genau. Wie wär’s also, wenn ihn einer raufbringt?«

Eine Treppenflucht aus Beton und Metalltreppen weiter oben, einen kurzen Korridor hindurch und hinter einer Metalltür war die Mannschaft der Kriminalabteilung zu finden. Dan wurde auf eine Holzbank ohne Rückenlehne gleich hinter dem Eingang verwiesen. Offene Türen zu kleinen Büros waren zu sehen, doch der größte Teil der Etage wurde von einem großen Raum voller Schreibtische eingenommen. Das geräumige Zimmer hatte eine Menge Fenster und erhielt zur Tageszeit sicher reichlich Licht. Dan registrierte verschiedene Farbtöne von Beige und Braun, die üblichen grauen Schreibtische aus Metall, eine mit Telefonbüchern beladene Regaleinheit, metallene Aktenschränke und die schwarzen Gitterstangen einer Arrestzelle ganz hinten in der Ecke. Die Wände waren vor nicht allzu langer Zeit gestrichen worden, und hier gab es auch persönliche Akzente – an ein Brett geheftete Schnappschüsse von lächelnden Kripoleuten, einen selbstgebastelten Schlüsselanhänger, verschiedenen Krimskrams auf einigen der Schreibtische. Dan war etwas wohler zumute. Das hier war menschlicher und vertrauenerweckender als der Schauplatz im Erdgeschoß.

»Bin in ’ner Minute für Sie da«, sagte ein Mann von einem Schreibtisch aus. Er war wie ein Geschäftsmann gekleidet, Hemd und Krawatte, schwarze, elegante Schuhe, dazu die Anzugjacke über der Lehne seines Stuhls.

Dan holte tief Luft. Ein halbes Dutzend Männer saß beim Telefonieren oder mit Papieren beschäftigt an den verschiedenen Schreibtischen. Der Raum ertrank schier in Papieren – Stapel von Formularen auf den Schreibtischen, Plakate, Bekanntmachungen und Mitteilungen, die an die Wände geklebt waren, Listen und abteilungsinterne Notizen, die mit Reißzwecken an die Schwarzen Bretter geheftet waren. Er beobachtete die Männer bei der Arbeit. Da gab es dunkle Gesichter und helle Gesichter. Er hörte einen melodischen Inselakzent von dem einen Mann und einen von der Bronx geprägten von einem anderen. Sie waren alle verschieden, und dennoch glichen sie sich in der Art ihrer Kleidung und in ihrer Darbietung geschäftsmännischer Tüchtigkeit. Hoffnung erfüllte ihn. Das hier waren Leute, die ihm helfen konnten. Das waren Männer, die bestimmt wußten, was zu tun war.

Der Kriminalbeamte, der ihn angesprochen hatte, erhob sich nun und kam an die hüfthohe Barriere heran, die den Wartebereich von dem restlichen Zimmer abtrennte. »Sie sind Mr. ...« Er blickte auf einen Zettel hinunter. »Spricht man das wie das Tier aus?«

»Ja, wie das Tier.«

»Ich bin Detective Gasparino«, erklärte der Mann. »Kommen Sie doch zu meinem Schreibtisch rüber.«

Der Beamte ließ sich wieder auf seinen Schreibtischstuhl fallen und wendete sich unmittelbar der Beschwerdeschrift zu, die man ihm von unten zugesandt hatte. Dan nahm Platz. Der Stuhl für Gasparinos »Besucher« war dem Schreibtisch zugewandt und war so nah herangerückt worden, daß Behrs Knie an die metallene Rückwand stießen.

Er beobachtete den Kriminalbeamten beim Lesen. Der Mann war um die Fünfzig, kräftig gebaut, mit frischer Gesichtsfarbe und schon etwas dünnem rotblondem Haar. Trotz seines italienisch klingenden Namens sah er aus, als spiele er am Saint Patrick’s Day in einer Dudelsackgruppe mit.

»Okay ...«, seufzte der Beamte, während er den Bericht senkte und Dan in die Augen schaute.

»Es ist schwer zu erklären«, räumte Dan ein. »Es ist eine äußerst seltsame Situation.«

Gasparinos Mund und Kinn vollzogen eine Reihe von Muskelübungen, während seine Augen Behr durchdringend musterten.

»Sie kommen mir ganz normal vor, Mr. Behr«, sagte er und warf einen Blick auf das Formular hinunter, »Daniel? Oder heißt es Danny oder Dan?«

»Dan.«

Er erhob sich ein wenig von seinem Stuhl und beugte sich über den Schreibtisch, um Dan die Hand zu reichen.

»Ich bin Jimmy.«

Dan schüttelte ihm die Hand und nickte.

»Also, Dan ... Sie scheinen ein netter Kerl zu sein. Ein intelligenter junger Mann.« Er bewegte sich in seinem Sessel hin und her, lehnte sich nach hinten und verschränkte die Hände hinter seinem Nacken.

»Was machen Sie denn? Was für eine Arbeit?«

»Ich arbeite für ein Architektur- und Ingenieurbüro.«

»Ehrlich? Also ein Architekt oder Ingenieur oder so was?«

»Architekt.«

»Eine Visitenkarte dabei?«

Dan fischte eine aus seiner Brieftasche und reichte sie hinüber.

»Hmmmm.« Gasparino lachte leise. »Meine Frau sagt immer, sie hätte einen Arzt oder einen Architekten heiraten sollen. Wenigstens stuft sie mich nicht noch unter die Anwälte ein, ha?«

Dan konnte sich kein Lächeln abgewinnen.

Der Kriminalbeamte räusperte sich, reckte sich dann und verschränkte die Arme. »Also gut. Sie glauben, daß man Ihre Frau in der Vanzant Street gefangenhält.«

»Ich weiß, das klingt ein bißchen unglaubwürdig ...«

»Ja, schon«, stimmte der Kriminalbeamte zu. Er zupfte sich am Ohr.

»Hat sie das früher schon mal getan?«

»Was?«

»Daß sie nicht da war, wenn Sie sie abholen wollten?«

»Nein.«

»Fährt sie oft am Wochenende weg?«

»Nie. Und sie war auch noch nie zuvor bei so einem Workshop.«

»Wer veranstaltet die denn?«

»Weiß ich nicht.«

»Ist das was von einer Kirche, oder hat es mit einer Gruppe zu tun, der sie angehört?«

»Es hat was mit ein paar Treffen zu tun, zu denen sie gegangen ist.«

»Sind Sie sich sicher, daß es nicht ein Zufluchtsort oder ein Frauenhaus ist?«

»Was meinen Sie damit?«

Gasparino betrachtete ihn forschend, als versuche er, die Ehrlichkeit seines Gegenübers zu taxieren. »Ein Haus für mißbrauchte Frauen, damit sie ihren Angreifern entkommen.«

Dan schüttelte halb zur Verneinung und halb vor Fassungslosigkeit den Kopf. »Sie glauben doch nicht, daß ich ...?«

»Wir müssen alle Möglichkeiten in Betracht ziehen.«

»Ich liebe meine Frau.«

Gasparino nickte. »Irgendwelche Streitereien in letzter Zeit? Irgendein Grund, weshalb sie vielleicht einfach für eine Weile untertauchen wollte?«

»Nein. Alles war in Ordnung. Und selbst wenn sie aus irgendeinem Grund sauer gewesen sein sollte – wir haben eine fünfjährige Tochter. Sie würde Hana nicht einfach im Stich lassen.«

»Wo ist Ihre Tochter?«

»Bei einer Freundin.«

»Sind Sie sicher, daß sie dort ist?«

»Ja. Die Leute unten haben mich telefonieren lassen, und ich hab mit ihr geredet.«

Gasparino zog die Stirn in Falten. »Haben Sie irgendeinen Beweis, daß Ihre Frau vorhatte, wieder heimzukommen?«

Dan dachte einen Moment nach. »Ich hab den Zettel von ihr, auf dem steht, wann und wo ich sie abholen soll.«

Er zog das Stück Papier aus seiner Tasche und reichte es Gasparino. Der Kriminalbeamte überprüfte die Notiz, schürzte die Lippen, atmete tief aus und blickte schließlich Behr ins Gesicht. Erst abwägend, dann entschieden.

»Greenberg«, rief Gasparino einem Mann an einem Schreibtisch auf der anderen Seite des Zimmers zu, »laß uns eben zur Vanzant rübergehen und die Sache hier überprüfen.«

Der Mann namens Greenberg blickte sichtlich überrascht auf, nickte dann professionell und schlug die Akte zu, die er gerade las.

Gasparino erhob sich, griff nach seinem Sakko und zog es sich über.

»Sind Thelma und Lynn beide außer Haus?«

»Ja«, antwortete Greenberg, während er ebenfalls aufstand und sein Jackett anzog. »Glaubst du, es sollte eine Frau dabeisein?«

»Könnte nicht schaden.«

»Die in Uniform ... wie heißt sie noch mal ... Brown ... ist unten für die Abteilung Gewalt in der Familie«, schlug Greenberg vor und wählte bereits die Nummer, während er noch sprach.

»Detective Greenberg ist mein Partner«, teilte Gasparino Behr mit.

»Sind Sie zu Fuß hergekommen?«

»Ja, zu Fuß.«

»Sie können bei uns mitfahren, aber Sie müssen uns aus dem Weg bleiben, damit wir unsere Arbeit machen können. Verstanden?«

Dan nickte.

Es war beinahe acht, als sie an der Vanzant Street Nummer 44 eintrafen. Die altmodischen Straßenlaternen spiegelten sich auf den nassen Gehsteigen, aber der Regen hatte aufgehört.

»Warten Sie hier«, sagte Gasparino und deutete dabei auf einen Bereich des Trottoirs. »Rühren Sie sich nicht von der Stelle. Machen Sie keinen Ärger.«

Brown warf Dan einen kurzen Blick zu, als habe er etwas Kurioses an sich. Dann drehte sie sich um und folgte den Beamten mit einem leichten Abstand die Treppe hinauf. Sie war eine Frau durchschnittlicher Größe mit intelligenten Augen und dicht gelocktem schwarzem Haar rings um das Gesicht, das in kleinen drahtigen Kringeln vom Kopf abstand. Dan hatte sie kein einziges Wort sagen hören. Er hatte sie jedoch lächeln sehen – ein aufrichtig warmes Lächeln –, und irgendwie hatte das Lächeln ihn bewogen, ihr zu vertrauen.

Dan blickte hinter ihnen her: Gasparino, in seinem braunen Anzug eine ehrfurchtgebietende Erscheinung, Greenberg mit seinen eingezogenen Schultern nicht ganz so imposant, aber gleichwohl ein tröstlicher Anblick, wie er die Stufen erklomm, und Brown in ihrer Uniform mit dem schweren schwarzen Gürtel und mit dem Revolver, dem Schlagstock und der Taschenlampe, die ihr gegen die Hüfte stießen. Er verspürte eine überwältigende Erleichterung und Dankbarkeit, doch war dies von einem Gefühl der Hilflosigkeit begleitet, so als sei er ein kleiner Junge, der darauf wartet, daß die Erwachsenen einen Streit für ihn beilegen. Er wandte sich ab und erblickte zwei Gesichter am Fenster eines Hauses in der Nähe. Es waren die beiden Männer, mit denen er einige Zeit zuvor gesprochen hatte. Sie schauten sich das Spektakel an. Er wandte sich wieder zurück. Gasparino redete jetzt in die Gegensprechanlage. Dan konnte die Worte selbst nicht hören.

Plötzlich ging die schwere Haustür auf. Alle drei traten ein, und die Tür schloß sich wieder. Dan starrte zu der leeren Stelle hinauf, wo sie gestanden hatten. Er starrte auf die Tür. Er ballte die Fäuste und lockerte sie wieder. Er tigerte in einem engen Muster auf dem Gehsteig hin und her. Er ging zwei Stufen hinauf, kehrte dann pflichtergeben zum Trottoir zurück.

Gerade als er schon dachte, es nicht länger ertragen zu können, tauchten die beiden Männer im Hauseingang auf. Dan setzte dazu an, die Treppe hinaufzugehen.

»Bleiben Sie stehen!« rief Gasparino und kam dann zu ihm herunter. »Was ist denn los? Wo ist sie?«

»Alles ist unter Kontrolle«, erklärte Gasparino, während er Dan am Arm nahm und auf das Zivilfahrzeug zusteuerte.

»Sie ist da?«

»Ja. Sie ist da drinnen. Sie sieht wirklich toll aus, richtig? Groß ... mit dunklen rötlichen Haaren?«

»Ja. Ja. Das ist Alexandra. Ist sie in Ordnung? Ist sie in Sicherheit?«

»Sie schien in Ordnung.«

Dan entfuhr ein unwillkürlicher Seufzer, und seine Knie wurden weich. Er lehnte sich an den Wagen, um Halt zu finden, und versuchte zu lächeln. »Schiet ... Danke, daß Sie da rein sind. Ich weiß nicht, was ich sonst getan hätte.« Er schüttelte den Kopf. »Was passiert jetzt? Können wir heimgehen, oder muß sie noch mit zum Revier zurück und eine Aussage machen?«

Gasparino spähte mit zusammengekniffenen Augen zum mondlosen Nachthimmel empor. Er spähte auf das dunkle Pflaster. Als er endlich Dan anschaute, kniff er noch immer die Augen zusammen. »Sie kommt nicht mit nach Hause.«

»Was?«

»Sie will dableiben.«

Bemüht, den Worten einen Sinn abzugewinnen, blickte Dan das Gesicht des Mannes fragend an. »Sie will dableiben?« wiederholte er wie benommen.

Gasparino nickte.

»Wie lange denn noch?«

Das Blinzeln des Beamten wich einem Zusammenzucken.

»Das hat sie nicht gesagt.«

»Ich muß mit ihr reden«, sagte Dan, schon auf dem Sprung. Greenberg machte einen geschickten Schritt zur Seite und stellte sich ihm in die Quere.

»Die lassen Sie nicht mit ihr reden«, sagte Gasparino traurig.

»Sie ist meine Frau! Ich muß doch rausfinden, wie das ihrer Meinung nach eigentlich funktionieren soll, wenn sie noch länger bleibt. Was, stellt sie sich vor, soll ich dann mit unserer Tochter machen? Wer soll sie von der Schule abholen? Und was ist mit dem Tag der offenen Tür morgen in der Schule? Ist sie dann rechtzeitig wieder zu Hause, um hinzugehen?«

»Dan ...«

»Sie ist meine Frau! Die halten meine Frau von mir fern! Sie versteht nicht, was die da machen.«

»Immer mit der Ruhe, Dan. Brown versucht gerade, mit ihr ins Gespräch zu kommen, Sie wissen schon ... von Frau zu Frau.«

Dan betrachtete die schwere Tür und die vergitterten Fenster. Sein Vater hatte ihm von klein auf beigebracht, daß Gewalttätigkeit nie die Lösung sei, und er hatte sich diese Lektion ohne Schwierigkeiten zu Herzen genommen, weil er ein relativ gutmütiges Kind gewesen war, selten wütend, und nie versucht hatte, seine überlegene Körpergröße gegen die Aufschneider ins Feld zu fuhren, die ihn einen Mathespinner nannten oder sich über seine Vorliebe für Bastelarbeiten lustig machten. Er hatte sich diese Lektion zu eigen gemacht, und er war zu einem ausgeglichenen Mann herangewachsen, der jedes Zeichen von Gewalttätigkeit als einen schrecklichen Charakterfehler ansah. Nun aber, mit einem Mal, war Dan Behr von hellem Zorn erfüllt. Er hätte am liebsten die Haustür aufgebrochen und diese Gitter abgerissen, die die Fenster sicherten. Er war von dem Wunsch erfüllt, die ganze Bude niederzureißen. Er wollte den Kerl, der seine Frau festhielt, am liebsten erwürgen. »Immer mit der Ruhe«, ermahnte ihn Gasparino erneut und legte seine Hand auf Dans Brust.

Dan öffnete seine Fäuste und fuhr sich mit den Händen über das Gesicht. »Wer sind diese Leute? Was wollen die?«

»Es ist eine Gruppe. Mehr weiß ich nicht.« Der Seufzer des Kriminalbeamten enthielt einen Anflug von Wut. »Sie haben das Grundstück gemietet.«

Brown kam aus dem Haus heraus. Ihr Gesichtsausdruck war grimmig, als sie die Stufen heruntergeeilt kam.

»Was hat sie gesagt?« rief Dan. Er machte einen Schritt nach vorn, doch Greenbergs Arm schoß hervor, um ihn zurückzuhalten.

Browns Augen waren auf Gasparino geheftet. Der Beamte nickte ihr zu, und sie wandte sich an Behr. »Ich habe Ihrer Frau gesagt, daß Sie hier draußen sind. Ich hab ihr gesagt, daß Sie aufgeregt und beunruhigt sind. Sie meinte, es täte ihr leid, aber sie müßte dableiben.« Ein merkwürdiges Gefühl von Taubheit kroch über Dan hin, und der ganze Zorn verrauchte. »Sie meinen ... die hindern sie gar nicht daran, wegzugehen?«

Browns professionelles Verhalten wurde etwas weicher. »Wir alle brauchen manchmal eine Unterbrechung. Wissen Sie ... bloß eine kleine Verschnaufpause.«

»Sie hat Ihnen gesagt, sie bräuchte eine Verschnaufpause?«

»Nein. Ich versuche bloß zu erraten, was sie denkt ... aus meiner eigenen Erfahrung heraus.«

Dan schüttelte den Kopf. »Wann kommt sie wieder heim?«

»Sie ...« Browns Augen wanderten kurz zu Gasparino, bevor sie weitersprach. »Ich weiß es nicht. Ich glaube, sie weiß es selbst nicht.«

»Das ist verrückt«, sagte Dan ohne Überzeugung. »Das ist verrückt.« Er wiederholte diese Worte den ganzen Weg bis nach Bay Ridge und murmelte sie auch noch, als er an Felice Navarres Wohnungstür klopfte.

»Wo ist Alex?« fragte Felice, sobald sie die Tür aufmachte und sah, daß nur Dan dastand.

Sie war so klein und federleicht, daß man sie aus der Ferne mit einer Jugendlichen hätte verwechseln können. Behr blickte zu ihr hinab, dieser Frau, die die beste Freundin seiner Frau war, und er konnte aus der freundlichen Wölbung ihres Mundes und den Fragen in ihren dunklen Augen deutlich erkennen, daß sie keinerlei Kenntnis von dem hatte, was auch immer mit Alex los war. Und ihm fiel keine passende Antwort für sie ein. Zuvor, als er sie vom Polizeirevier aus anrief, hatte er ihr nicht gesagt, wo er war. Er hatte ihr lediglich berichtet, Alex sei noch bei diesem Workshop und er habe Probleme damit, sich mit ihr in Verbindung zu setzen, weil dieses Refugium wie ein Kloster von der Außenwelt abgeschirmt sei.

»Also, wo ist sie jetzt?« fragte Felice, während sie Dan in ihre bunt chaotische Wohnung führte, in der Modeentwürfe an die Wände geheftet und farbenfroh drapierte Schneiderschablonen gleich stummen Partygästen aufgereiht waren.

Er konnte sich nicht dazu überwinden, die ganze Geschichte zu erzählen, und daher komprimierte er sie zu der einfachsten und optimistischsten Variante. »Sie hat sich entschlossen, noch eine Nacht zu bleiben.«

»Du machst Witze! Und sie traut dir zu, dich um Hana zu kümmern?« Felkes dunkel geflügelte Augenbrauen zogen sich in amüsierter Fassungslosigkeit hoch. »Dieser Workshop muß sie ja wirklich milder gestimmt haben. Vielleicht sollte ich auch Mitglied werden, was? Eine Kur gegen Arbeitssucht machen.« Sie schüttelte den Kopf. »Nee. Ich bin unheilbar. Damit muß ich mich wohl abfinden. Na, dann sag ihr, sie soll mich morgen anrufen, wenn sie nach Hause kommt.«

Morgen. Das Wort blitzte rot in Dans benommenem Bewußtsein auf, als er das Zimmer durchquerte, um auf seine Tochter hinabzuschauen, die in ihrem mit rosa Bändchen verzierten Nachthemd friedlich schlief, behaglich unter einer Decke auf Felices Sota verstaut. Morgen, morgen. Was würde er morgen bloß tun? Er konnte sich nicht einfach den ganzen Tag freinehmen. Nicht bei dem Rückstand mit dem Brunner-Projekt. Er konnte Hana nicht zur Schule bringen, weil das bedeuten würde, daß er zur Abteilungssitzung zu spät kam. Und auf keinen Fall konnte er mit der Arbeit früher aufhören, um sie um drei Uhr abzuholen.

Felice beendete soeben einen Satz, und ihm wurde bewußt, daß er gar nicht mitbekommen hatte, worum es dabei ging.

»Hallo ...«, sagte sie und wedelte mit der Hand vor seinen Augen hin und her. »Bist du da drin?«

»Ja.«

»Okay. Also denk doch dran, Alex zu sagen, sie soll mich anrufen. Irgendwann morgen. Ich arbeite den ganzen Tag über zu Hause.«

»Du arbeitest morgen zu Hause?«

»Ja.«

»Felice ... ich frage wirklich ungern, aber die Lage bei mir in der Arbeit ist angespannt, und ich kann mir überhaupt nicht freinehmen, und ohne Alex, da hab ich mir überlegt ... Könntest du ...«

Sie verzog das Gesicht, zuckte dann mit den Achseln. »Na schön«, erwiderte sie, »ich mach einfach ein Kindervideo nach der Schule an. Aber ihr beiden seid mir ordentlich was schuldig.«

»Danke«, sagte Dan, den plötzlich ein warmes Gefühl für sie erfüllte und der Gedanke, daß er sie gern hatte. Felice war Alex' beste Freundin, und es kam ihm so vor, als kenne er sie gut, doch in Wirklichkeit hatte er persönlich kaum Kontakt mit ihr gehabt. Sie war nie da, wenn er am Abend heimkam oder wenn er einmal am Wochenende einen freien Tag hatte.

Er bückte sich, um Hana in seine Arme zu nehmen.

»Laß sie hier, Dan. Das bringt doch nichts, wenn du sie nach Hause beförderst. Sie ist hier schon gut verstaut, und du mußt sie sonst bloß wieder in der Früh herschaffen.«

Er zögerte.

»Mach dir mal keine Sorgen. Ich hab alles hier, was sie braucht. Alex hat genug Kleider und Spielsachen für eine ganze Woche mitgebracht. Geh nur. Du siehst ganz erledigt aus.«

Dan schloß seine von Schweigen erfüllte Wohnung auf, hängte nach alter Gewohnheit sein Jackett in den Wandschrank, verstaute seine Aktenmappe und ließ die Schlüssel in den Korb auf der Küchentheke fallen. Mechanische Handlungen. Außer der Flurlampe schaltete er kein Licht an und ging ins Wohnzimmer hinüber, wo er die Jalousien hochzog. Für den kommenden Tag war vorgesorgt. Er würde zur Arbeit gehen, Hana würde in die Schule gehen, und alles nahm folglich seinen ganz normalen Lauf. Abgesehen davon, daß Alex dann noch immer bei diesem Verein sein würde.

Der Regen hatte aufgehört, und ein paar Sterne ließen sich blicken. Über den breiten schwarzen Schlund des Hafens hinweg konnte er das ferne Flimmern von Manhattan sehen. Dort, wo Alex war. Dort, wo sie zu bleiben beschlossen hatte.

Warum?

Er verstand es einfach nicht. Doch er hatte schon nicht verstanden, weshalb sie überhaupt an diesem Wochenend-Workshop interessiert war. Und damals ganz am Anfang, als sie begonnen hatte, zu den wöchentlichen Versammlungen zu gehen, hatte er nicht verstanden, was daran so anziehend war. Er hatte ihren Lobeshymnen über die verkündeten philosophischen Ansichten gelauscht und hatte sich nur schwer zurückhalten können, ihr zu sagen, wie abgedroschen und albern sie klangen. Sie hatte ihn wiederholt gebeten, sie dorthin zu begleiten, aber er hatte keine Zeit dafür gehabt. Als die Gruppenleiter ihm persönliche Einladungen schickten und sie bettelte, er möge doch nur einmal mitkommen, steckte er gerade mitten in einem wichtigen Projekt im Büro. Eine Entschuldigung aus gutem Grund, aber eben doch nur eine Entschuldigung. Er hatte die ganze Sache ignoriert, da er glaubte, im Lauf der Zeit würde sie der Gruppe ebenso überdrüssig werden, wie sie der Kurse in Lyrikverständnis, Quilt-Herstellung und ganzheitlichem Leben überdrüssig geworden war.

Hätte er seiner Skepsis Ausdruck verleihen sollen? Hätte er mit ihr hingehen und all die Absurditäten, die man dort verbreitete, ins Lächerliche ziehen sollen? Hätte er ihr sagen sollen, das alles erinnere ihn an den naiven Idealismus und die verschwommenen Ansichten, denen College-Anfänger zum Opfer fielen? Hätte er ihr sagen sollen, wie ungeheuer idiotisch ihm das alles erschien? So was von idiotisch. Aber überhaupt nicht bedrohlich. Es war ihm nie wie eine Bedrohung vorgekommen. Idiotisch, aber harmlos. Auf jeden Fall weniger extrem als vieles von dem, was seinem Eindruck nach regelmäßig von Aufklärungsgurus im Fernsehen oder in den übrigen Medien aufgetischt wurde.

Jetzt wußte er nicht mehr, was er davon halten sollte.

Er kannte seine Frau so gut. Wie war es möglich, daß diese Gruppe eine so tiefgreifende Wirkung auf sie hatte ausüben können, ohne daß er es bemerkte? War sie unglücklich? Oder schlicht müde? Hatte sie, wie Officer Brown angemerkt hatte, einfach nur das Bedürfnis nach einer Verschnaufpause?

Und, vorausgesetzt, daß es stimmte ... weshalb war sie ihm gegenüber nicht offen gewesen? Er hatte sie immer unterstützt oder doch zumindest gewähren lassen.

Eine Veränderung, Niedergeschlagenheit oder Unzufriedenheit hätte er akzeptieren können. Was er nicht hinnehmen konnte, war die Heimlichtuerei. Die Täuschung. Das verstohlene, ihm ausweichende Verstecken hinter einer Tür. Fremde Menschen zwischen sie beide geraten zu lassen. Und die Weigerung, ihn zu sehen oder mit ihm zu reden.

Er lehnte sich mit der Stirn gegen das kühle Glas des Fensters und kniff die Augen fest zu. Was zum Teufel ging da vor sich? Die Frau, die er liebte und mit der er lebte, würde sich nicht hinter einer Tür verbergen und ihn wegschicken.

Das würde sie nicht tun.

Und sie würde sich nicht so unbekümmert ihrer Verantwortung für ihre Tochter entledigen. Ganz im Gegenteil. Alex hatte sich stets eher zu intensiv um Hana gekümmert. Hatte sie zu sehr bemuttert. Ständig in Sorge und darum bemüht, auch das kleinste Detail in Hanas Leben genau zu regeln. Sie würde nicht länger wegbleiben, ohne ausführliche Anweisungen zur Versorgung und Tageseinteilung von Hana festzulegen.

Das würde sie nicht tun.

Sie würde auch nicht den Tag der offenen Tür an Hanas Schule versäumen. Den ersten Besuchsabend von Hanas erstem Jahr in der Schule. Das würde sie nicht tun.

Was umgehend wieder die erschreckende Möglichkeit in den Raum stellte, daß man seine Frau dort gefangenhielt. Daß die Leute dort in dem Haus sie aus unerklärlichen Gründen gegen ihren Willen dabehielten.

Aber sie hatte doch mit den Kriminalbeamten und Officer Brown gesprochen, oder etwa nicht? Sie hatte ihnen gesagt, sie wolle dortbleiben.

Aber ... War sie allein mit ihnen gewesen? Vielleicht waren diese Leute dort im Haus unmittelbar in ihrer Nähe geblieben, hatten gedroht, ihr oder den Beamten etwas anzutun, falls sie etwas Falsches sagte.

Vielleicht hatte man sie auch unter Drogen gesetzt. Oder hypnotisiert. Mein Gott, er klang schon wie die alte Mrs. Svensen mit ihren Verschwörungstheorien. Er griff sich mit beiden Händen an den Schädel und drückte fest zu. Die Sache war verrückt. Zu verrückt, um wahr zu sein. Es mußte einfach eine sinnvolle und vernünftige Erklärung geben.

Er ließ die Hände wieder fallen.

Ja.

Es mußte doch eine vernünftige Erklärung geben. Das hier war die moderne Welt. Das hier waren die Vereinigten Staaten von Amerika.

»Ja«, wiederholte er laut.

Es war alles ein Mißverständnis, eine Folge von überbewerteten Mißverständnissen.

Morgen würde sie anrufen ... wahrscheinlich sogar heimkommen. Diese Gewißheit setzte sich immer mehr fest. Morgen abend würde sie in der Küche sein, eine Tasse Tee zubereiten und sich Sorgen machen, ob Hanas Lehrerin den wichtigen Unterrichtsfächern genug Aufmerksamkeit schenkte. Und irgendwann einmal würde das alles wahrscheinlich komisch sein. Irgendwann einmal.

Nach einer schlaflosen, erbärmlichen Nacht duschte sich Dan, zog seine Werktagsuniform an – lange Hosen, Nadelstreifenhemd und Sportjackett – und wanderte unruhig durch seine Wohnung. Er mußte etwas unternehmen. Er mußte unbedingt etwas tun. Er rief im Sechsten Revier an, um sich zu erkundigen, ob es etwas Neues gebe. Gasparino war nicht da, und man sagte ihm, der Kriminalbeamte trete erst um vier Uhr nachmittags seinen Dienst an. Diese Mitteilung versetzte Dans Stimmung einen schweren Schlag. Falls sich tatsächlich etwas änderte – falls es in dem Haus an der Vanzant zu einem unguten Vorfall kam oder aber Alex versuchen sollte, mit Gasparino oder Brown Kontakt aufzunehmen –, dann waren sie nicht an ihrem Arbeitsplatz, um sich darum zu kümmern.

Dan quälte sich mit der Frage ab, was zu tun war. Doch zu guter Letzt wurde ihm bewußt, daß es nichts gab, was er tun konnte, außer zur Arbeit zu gehen und dafür zu sorgen, daß sein normaler Familienalltag nicht in Scherben ging. Er zog sich seinen beigefarbenen Trenchcoat über, griff nach der Aktenmappe und machte sich auf den Weg zur U-Bahn. Unterwegs legte er mechanisch seinen Routinebesuch bei Mr. Chin für die Morgenzeitung ein und bei Sally für einen Kaffee zum Mitnehmen. Er ging die Treppe hinunter, um auf die Bahn nach Manhattan zu warten, setzte sich am hinteren Ende der Plattform auf eine Bank und deponierte Zeitung wie Kaffee neben sich, ohne sie weiter zu berühren. Als die Bahn kam, stand er auf und ließ beides gedankenverloren dort, wo es war.

Der Waggon war dank der Tatsache, daß Dan in der Nähe der Anfangsstation der Linie R wohnte, fast leer, und daher ergatterte er wie gewöhnlich einen Sitzplatz. Er starrte auf die Werbeleiste mit der Reklame für Dermatologen, Handelsschulen und Safer Sex. Während die Untergrundbahn ihren Weg nahm, stiegen mehr und mehr Passagiere zu, und schließlich konnte er nicht mehr an den Leuten vorbeischauen, die sich direkt vor ihm auf den Stehplätzen drängten. Er starrte weiterhin in die Luft, ohne etwas zu sehen.

»Wir sind doch sowieso am Union Square«, sagte eine Frau in der Nähe zu ihrer Begleitung. »Wir könnten einfach aussteigen und zum Buchladen Barnes and Noble gehen. Wir haben Zeit.«

Union Square? Die Bahn hielt an, die Türen schoben sich auf, und Dan sprang von seinem Sitz auf, um sich mit einem gemurmelten »Entschuldigung« einen Weg zum Ausgang zu bahnen. Er schaffte es auf den Bahnsteig und stand nun blinzelnd vor Verwirrung da, während um ihn herum Massen von gehetzten Berufspendlern vorbeistürmten. Wie hatte er es nur fertiggebracht, bis hinauf zum Union Square zu fahren? Er stieg doch immer an der Pacific aus, ging zur Atlantic hinüber und nahm dann die Linie 4 oder 5. Aber irgendwie hatte er die Pacific Street übersehen. Die lag weit hinten in Brooklyn. Er war bereits in Manhattan und ein gutes Stück nördlich des Finanzdistrikts.

Aufgeregt und verärgert eilte er durch die labyrinthartige Station, bis er eine Orientierungskarte an der Wand fand, überprüfte sie dann nach dem schnellsten Weg zu seinem Büro. Aber die farbigen Linien der einzelnen U-Bahn-Strecken schienen sich ineinander zu verfilzen, und sein Blick verirrte sich immer wieder zum West Village, wo Alex war.

Die überfüllte U-Bahn-Haltestelle erschien ihm plötzlich muffig und unerträglich eng. Er mußte unbedingt da raus. Es gab bestimmt Busse, die er zu seinem Büro in der südlichen Innenstadt nehmen konnte. Er steuerte auf den nächstliegenden Ausgang zu, kämpfte wie ein flußaufwärts schwimmender Lachs gegen die Wogen in die Haltestelle strömender Berufspendler an. Endlich erreichte er die Straßenebene und frische Luft.

Eine frostige Brise zerrte am Saum seines Trenchcoats. Aufgebauschte weiße Wolken zogen über den blassen Himmel, und Imbißtüten wirbelten in kleinen Strudeln über den Gullygittern. Er ging zur Straßenecke, um sich zu der Gruppe von Fußgängern zu gesellen, die an der Ampel in Richtung Süden wartete. Wenn er sich beeilte und mit dem Bus Glück hatte, konnte er es noch rechtzeitig zur Arbeit schaffen. Er starrte auf das orangefarbene Nicht-gehen-Signal, bis die Worte ins Wanken gerieten und miteinander verschmolzen. Die Menschen um ihn herum regten sich und begannen sich in Marsch zu setzen, da die Ampel jeden Moment umschalten würde. Urplötzlich, ohne einen bewußten Entschluß, schwenkte er ab und rannte in die andere Richtung. Nach Westen. Richtung Vanzant.

Gestohlene Seelen

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