Читать книгу Gestohlene Seelen - Darian North - Страница 11

Kapitel 5

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Als Felice fort war, ging Dan zur Kinderzimmertür seiner Tochter. Er mußte irgendwie mit der Kleinen reden und ihr klarmachen, daß ihre Mutter für eine Weile nicht nach Hause kommen werde und daß er nicht wußte, wann ihre Mutter wiederkommen würde. Während er sich Mut zusprach, drehte er den runden Türknauf und trat ein. Zu seiner großen Erleichterung war Hana auf ihrem Bett eingeschlafen, fast begraben von einem Berg aus Plüschtieren. Leise trat er näher. Sie kam ihm klein und zerbrechlich vor. Herzzerreißend unschuldig. Die geschwungene Linie ihrer Wimpern auf der Haut, die süße Rundung ihrer Wangen, die Arme, die weit ausgebreitet waren, um möglichst viele Tiere zu umfangen: Das alles versetzte ihm tief in der Brust einen Stich.

Es war das gleiche Gefühl, wie er es gehabt hatte, als er sie zum ersten Mal sah, mager und naß vom Fruchtwasser, ein winziges fremdes Geschöpf, das auf die Erde gekommen war. Ihre Augen hatten sich weit geöffnet, und sie hatte ihn direkt angesehen. »Muß man ihr diese Augentropfen da geben?« hatte er gefragt. »Sie will alles sehen.«

Der Arzt, die Schwester und Alex hatten ihn ausgelacht.

Der Säugling wurde Alex in den Arm gelegt, und Dan hatte das Wunder ihrer augenblicklichen innigen Bindung miterlebt und darauf gewartet, daß er selbst an die Reihe kam, hatte voller Furcht, Vorfreude und Sehnsucht gewartet, mit vor Zärtlichkeit überquellendem Herzen.

»Ich bin müde«, hatte Alex geseufzt, und Dan hatte das als sein Stichwort angesehen. Zögernd und ungeschickt hatte er die Arme ausgestreckt, sich im Unsicheren über die richtige Haltung und Technik. »Sie fängt an zu frieren«, sagte Alex.

Der Arzt, der zu Füßen der Entbindungsliege auf einem Hocker saß, blickte auf und zog mißbilligend die Brauen hoch. Die Schwester rauschte herein und wickelte das Baby in eine Decke.

Dan beobachtete sie alle mit dem Gefühl, die einzige Person in dem Zimmer ohne jede Rolle oder Funktion zu sein.

»Kann ich sie nicht eine Minute halten?« fragte er schüchtern.

»Sie friert, Dan«, sagte Alex mit vor Erschöpfung angespannter Stimme.

»Wir dürfen nicht zulassen, daß ihr kalt wird«, erklärte die Schwester und lächelte zu dem Gesicht des Babys hinab.

»Bringen Sie sie in die Säuglingsstation und legen Sie sie unter die Lampen«, ordnete der Arzt an.

Und das nächste Mal, als Dan seine neugeborene Tochter erblickt hatte, da war sie hinter Glas. Er sah sie noch immer auf diese Weise. Seine kostbare Tochter hinter der Glaswand.

Er verfolgte das sanfte Auf und Ab ihrer Atmung. Die Gleichmäßigkeit daran beruhigte ihn. Sie war in Ordnung. Sie war gesund und in Ordnung. Er wollte schon aus dem Zimmer gehen, blieb jedoch stehen, machte kehrt, um ihr sanft die Schuhe abzustreifen, begab sich wieder auf den Weg hinaus, kehrte dann erneut um, um eine Decke über sie auszubreiten. Und mit einem Mal war er von Panik ergriffen. Durfte sie überhaupt mit so vielen Plüschtieren schlafen? Was war, wenn sie ihr das Gesicht bedeckten und sie daran erstickte? Rasch räumte er bis auf einen weichen Hund alle Tiere weg. War es zu warm im Zimmer? Oder zu kalt? War es ratsam, das Licht anzulassen oder besser, es auszumachen? Und was, wenn sie nachts zu schreien anfing und er sie dann nicht hörte?

Dan verbrachte eine unruhige, ungemütliche Nacht auf dem Sofa anstatt in seinem Bett, weil er Angst hatte, Hana werde womöglich aufwachen und er könnte sie von seinem Schlafzimmer aus nicht hören. Nachdem er sich geduscht und angezogen hatte, ging er in die Küche. Normalerweise war er morgens, bevor Hana erwachte, schon auf dem Weg zur U-Bahn. Er war sich nicht sicher, was sie an Schultagen zum Frühstück aß, aber Müsli war immer unbedenklich für kleine Kinder, entschied er. Er holte mehrere Kartons davon aus dem Küchenschrank und stellte sie auf den Tisch. Er steckte Brot in den Toaster. Er holte ein Schüsselchen und einen Löffel herbei und arrangierte beides an Hanas Platz. Dann ging er in ihr Zimmer.

»Zeit zum Aufwachen!« Er schüttelte sie an der Schulter.

Sie setzte sich mit einem verträumten, benommenen Gesichtsausdruck im Bett auf. Er sah, wie ihre Miene sich veränderte, als sie ganz zu Bewußtsein kam und sich wieder erinnerte.

»Mommy ist noch nicht daheim, oder?«

»Nein. Aber ich bin da. Und es ist ein sonniger Tag.«

»Wann kommt meine Mommy wieder heim?«

Dan schluckte schwer und bemühte sich, Zuversicht auszustrahlen. »Ich weiß es nicht genau, Schätzchen, aber ich hoffe, es ist bald.«

Sie blickte an sich herab. »Ich hab ja in meinen Kleidern geschlafen«, sagte sie fast verängstigt. »Mommy sagt, ich muß mich immer baden und mein Nachthemd anziehen.«

»Eine Nacht in deinen Kleidern schadet dir schon nicht«, erwiderte Dan so leichthin wie möglich. »Steh jetzt auf und geh ins Bad. Das Frühstück steht auf dem Tisch.«

Sie kletterte aus dem Bett und ging langsam und mit eingezogenen Schultern, als trage sie eine Last, zur Toilette. Als sie fertig war, blieb sie auf der Türschwelle stehen, umklammerte ihren Plüschhund und starrte ihn an.

»Hast du Hunger?« fragte er.

»Ich zieh mich immer erst an, bevor ich esse.«

»Na gut. Dann zieh dich an, und dann frühstücken wir zusammen.« Sie fuhr fort, ihn anzustarren.

»Was stimmt denn nicht?«

»Mommy zieht mich an.«

»Ach, natürlich. Das sollte ich eigentlich wissen, gell?« Er zwang sich zu lächeln. »Was will Hana denn heute anziehen?« fragte er den Plüschhund, während er mit der Kleinen zu ihrem Zimmer zurückging.

»Mommy sucht mir die Kleider aus«, sagte sie und bückte ihn vorwurfsvoll an.

»Okay ... Schau’n wir mal, was es so gibt.« Er ging zu dem schmalen Wandschrank hinüber und sah sich den Inhalt an.

»Wie wär’s denn damit?« fragte er, während er ein Rüschenkleid herauszog.

»Das ist ein besonderes Kleid. Heute ist nicht besonders.«

»Das sieht doch gut aus.« Er hielt einen knallroten Sportanzug hoch.

»Der ist zu groß. Ich hab noch nicht genug gewachst, um reinzupassen.«

»Gewachst ist nicht das richtige Wort. Es heißt gewachsen.«

Sie runzelte die Stirn. »Ich hab noch nicht reingewachsen.«

Dan ging rasch die Kleiderbügel durch, ohne sich die Mühe zu machen, weitere Feinheiten im Gebrauch des Worts gewachsen zu erläutern. Es gab keine große Auswahl. Zumeist Kleider. Er konnte sich nicht erinnern, daß Hana an Schultagen Kleider getragen hätte. »Hast du denn keine Jeans? Und irgendwelche kleinen ...« Er zupfte an seinem eigenen Hemd. »Irgendwelche kleinen Oberteile oder wie immer man das nennt?«

»Du meinst meine Schulkleider?«

»Ja.« Er gemahnte sich im stillen, Geduld zu üben.

Sie zeigte auf die Kommode. »Meine Schulkleider sind da drin.«

Er suchte in den Schubladen herum, bis er Unterwäsche und Socken, Hosen und ein Oberteil beieinander hatte.

»Die Socken da mag ich nicht.«

Er holte tief Luft. »Was für Socken magst du denn?«

»Die Socken, die ich will, sind in der Wasche.«

»Das heißt dann, daß sie schmutzig sind.«

»Ich will die Socken da nicht! Ich will die Socken da nicht!«

Ihr Gesicht verzerrte sich und lief rot an. Ihre Hände verkrampften sich zu eng geballten Fäusten. Sie fing an zu kreischen.

Er betrachtete sie vollkommen konsterniert. Normalerweise war sie immer so fügsam. So brav, daß es schon fast nicht mehr normal war, hatte er manchmal gedacht.

»Hana ... Hana! Hör auf!«

Sie verstummte, bedachte ihn aber mit einem trotzig bohrenden Blick. Noch nie hatte er sie mit solch einem Gesichtsausdruck gesehen. Er erinnerte ihn an Felice.

»Zieh jetzt die Kleider aus, in denen du geschlafen hast.«

»Kann ich nicht.«

Er drehte sie herum, machte die Knöpfe hinten am Kragen auf und zerrte ihr den Pullover mit einem Ruck über den Kopf. Sie war steif und unwillig. Mit knirschenden Zähnen zog er sie fertig aus und manövrierte ihr dann Stück für Stück die frischen Kleider auf den Leib. Dann nahm er sie an der Hand und zog sie mit sich in die Küche.

»Ich will Eier haben«, erklärte sie, sobald sie die Müsliflocken und das Schüsselchen auf dem Tisch erblickte.

»Jetzt ist nicht genug Zeit für Eier.«

»Das ist nicht mein Teller.«

»Setz dich hin!« donnerte er und bekam umgehend Gewissensbisse. Sie rutschte auf den Stuhl hinauf und starrte auf die leere Müslischüssel. Tränen liefen ihr über die Wangen und tropften auf den Tisch. »Ich will meine Mommy«, flüsterte sie. »Ich will meine Mommy.«

Dan streckte die Hand nach dem Küchenschrank aus. »Welche Schüssel magst du denn haben?« fragte er und beförderte jeden kleinen tiefen Teller zutage, den er finden konnte.

Sie holte mit zittrigem Atem Luft. »Den mit Mickey drauf.«

Er fand den Mickey-Teller und füllte ihn mit Cornflakes. Er ging zum Kühlschrank, um Milch zu holen. Es gab keine Milch.

Einen Moment lang schloß er die Augen. Dann knallte er die Kühlschranktür zu und wandte sich um.

»Laß uns zu Felice gehen«, verkündete er forciert heiter.

Er half ihr in den Mantel und zog den Reißverschluß zu. Er schüttete das Müsli in den Karton zurück, nahm ihn und den Teller und packte Hana an der Hand. Sie widersetzte sich nicht gerade, bewegte sich aber auch nicht auf die übliche Weise vorwärts.

Als sie das Treppenhaus betraten, erschien Mrs. Svensen. »Ich war gerade dabei, den Recycling-Müll runterzubringen«, erklärte sie, eine kleine Tüte mit Dosen in der gekrümmten Hand. »Ach hallo, da ist ja Hana. Du bist heute aber früh dran, findest du nicht?«

»Mommy ist nicht da, und Daddy will, daß ich ohne Frühstück geh.« Mrs. Svensens Augen wanderten zu Dan hinüber, während ihr Mund eine vorwurfsvolle Linie bildete.

»Wann kommt Ihre Frau wieder nach Hause, Mr. Behr?«

»Das wissen wir nicht«, sagte Hana klagend.

Dan ließ Hanas Hand los und beeilte sich, Mrs. Svensens Dosen zu übernehmen, damit er flüchten konnte.

»Sie versprechen Ihrer Frau, daß Sie nicht mehr am Wochenende arbeiten, und dann kommt sie auch heim«, flüsterte Mrs. Svensen, als sie ihm ihre Tüte reichte.

»So einfach ist das nicht«, erwiderte Dan.

»Es ist immer einfach«, stellte Mrs. Svensen fest. »Das wird einem klar, wenn man älter wird. Die Menschen brauchen bestimmte Dinge voneinander. Das ist das einzige, worum’s geht.«

Das Gebäude, in dem Felice wohnte, lag auf dem Weg zur U-Bahn-Haltestelle. Er zog Hana die gesamten drei Blocks entlang mit sich und biß dabei die Zähne zusammen, um zu verhindern, daß er sie anschrie.

»Guten Morgen«, sagte er, als Felice die Tür aufmachte.

»Guten Morgen.« Felice sah Hana prüfend an. »Du hast ihr nicht die Haare gebürstet.«

»Daddy hat mir auch nicht die Zähne gebürstet«, sagte Hana. »Gestern abend nicht und auch nicht, als ich aufgewacht bin. Und ich hab mich nicht gebadet. Und ich hab gestern abend nicht mein Gebet aufgesagt, und ich hab in meinen Kleidern geschlafen. Und ich hab Hunger.«

»Nun ja, das faßt es in etwa zusammen«, bemerkte Dan.

»Du hast ihr nicht die Zähne gebürstet?« fragte Felice mit einem Naserümpfen.

»Ich hab gedacht, daß sie diese Sachen alle selber macht«, gab er zu. »Ich glaub, du mußt mir wohl eine Liste mit Anweisungen zusammenstellen.«

»Ich? He, ich bin doch keine Mutter. Das einzige, was ich weiß, ist das, was Alex mir gesagt hat, und das, was mir mein gesunder Menschenverstand eingibt.« Sie beugte sich hinunter, umfaßte Hanas Kinn und rieb die Nase mit der des Kindes aneinander. »Und das, was mir meine kleine Freundin Hana sagt.« Sie grinste. »Stimmt’s, chica?«

Hana kicherte. Dan war erstaunt. Wie brachte es das Kind nur fertig, eben noch kreuzunglücklich zu sein und im nächsten Moment zu kichern?

Felice richtete sich auf und starrte ihn mit intensivem Blick an. »Und?« fragte sie mit hochgezogenen Augenbrauen. »Schon was gehört?«

Er schüttelte den Kopf.

»Hast du schon in Kalifornien angerufen?«

Die Bedeutung der Frage wurde ihm nicht klar.

»Ihre Mutter!« sagte Felice, als könne sie seine Begriffsstutzigkeit nicht fassen. »In Kalifornien.«

»Noch nicht«, gab er zu.

»Was ist eigentlich los mit dir, Mann? Die Tochter der Frau ist ...« Sie warf einen Blick auf Hana hinunter und buchstabierte dann: »v-e-r-m-i-ß-t!«

»Ver...mißt«, sagte Hana, die sich das Wort vom Klang her zusammenreimte. »Mommy ist vermißt?«

»Sie vermißt ihre Handtasche«, sagte Felice rasch. »Du weißt doch, wie sie manchmal ihre Tasche verliert.« Dann, wieder an Dan gewandt: »Du mußt sie unbedingt anrufen.«

»Mach ich. Mach ich schon.«

»Du könntest heimgehen und sie jetzt sofort anrufen.«

»In Kalifornien ist es drei Stunden früher, Felice.«

»Na schön. Dann tu’s heute nachmittag vom Büro aus.«

»Ich versuch’s«, antwortete er.

»Wart mal einen Moment.« Sie verschwand für einen Augenblick in ihrer Wohnung und kam mit einem Blatt Papier zurück, das sie in der Hand wedelte.

»Was ist das?« fragte er, als sie es ihm reichte.

»Eine Seite meiner Telefonrechnung. Die Nummer steht da drauf. Auf diese Weise brauchst du nicht extra wieder in deine Wohnung zu gehen, um sie zu holen, bevor du zur U-Bahn läufst.«

Dan starrte auf das bedruckte Blatt. Die Ferngespräche waren einzeln aufgeführt. Die meisten galten Florida, wo die Verwandten von Felice lebten. Da waren auch zwei R-Gespräche zu einer Nummer in Kalifornien. Er konnte sich keinen vernünftigen Reim darauf machen.

»Du hast die Mutter von Alex angerufen?« fragte er ungläubig.

»Nicht ich. Alex.«

»Alex hat ihre Mutter angerufen? Von deiner Wohnung aus?«

Felice zuckte mit den Achseln. »Mindestens zweimal pro Monat.«

»Das versteh ich nicht.«

»Du weißt doch ...« Felice senkte ihre Stimme. »Die beiden kommen nicht besonders gut miteinander aus. Ich glaube, sie wollte manchmal von meiner Bude aus anrufen, weil es ihr peinlich war, wenn du all das Gezeter mitbekommst.«

Dan stand eine Weile gründlich verstört über diese Neuigkeit da. Alex hatte ihm erzählt, sie habe schon seit ihrer frühen Teenagerzeit keinen Kontakt mehr mit ihrer Mutter und sie wisse nicht einmal genau, wo ihre Mutter lebe. Oder ob ihre Mutter überhaupt noch am Leben sei. Alex hatte ihn angelogen.

Er genierte sich, Felice in diesen Sachverhalt einzuweihen, und so schob er ihr abrupt die Cornflakes und den Müsliteller in die Hand. »Hier. Ich hab keine Milch mehr. Entschuldige.«

»Ich wollte Rührei haben«, sagte Hana mit klagender Stimme.

»Kein Problem«, meinte Felice. »Ich hab Eier da. Ich hab Milch da.« Sie warf Dan einen strengen Blick zu. »Mach diesen Anruf.«

Als Dan das Bürohaus erreichte, in dem die Firma HTO vier Etagen gemietet hatte, war er so früh dran, daß außer dem Wachpersonal niemand in der Marmoreingangshalle zu sehen war. Er betrat einen leeren Aufzug und drückte auf den Knopf für sein Stockwerk. Die Türen glitten zu, und er war von polierten Metalloberflächen umgeben, die sich das Gestaltungsprinzip reflektierender Flächen zunutze machten, zum Zwecke, geschlossene Räume zu »öffnen« und dadurch potentieller Klaustrophobie entgegenzuwirken. Diese Theorie war plausibel, solange der Lift dicht besetzt war, aber es hatte ihm immer mißfallen, allein mit all diesen ihm aus jedem Winkel entgegenstarrenden verwischten Spiegelbildern seiner selbst im Lift zu fahren. An diesem Tag fand er die Erfahrung ganz besonders irritierend. Die Abbilder schienen ihm Vorwürfe zu machen oder Fragen zu stellen.

Alex hatte ihn über ihre Mutter angelogen. Von Anfang an. Was hatte das zu bedeuten? Wann hatte sie ihn noch angelogen?

Nein. In diese Falle würde er nicht stolpern. Die Lüge über ihre Mutter war nicht wichtig. Darauf konnte er seine Aufmerksamkeit jetzt nicht verschwenden. Vielleicht schämte sie sich ihrer Mutter. Das hieß nicht, daß sie in irgendeiner anderen Hinsicht unehrlich oder illoyal gewesen war.

Nein. Sie hatte alles daran gesetzt, eine »gute« Ehefrau zu sein. Er hatte sie manchmal deswegen aufgezogen, wegen ihrer beständigen Suche nach einer besseren Methode, den Haushalt zu organisieren, oder einer besseren Methode der ehelichen Kommunikation, aber sie hatte stets gesagt, verheiratet zu sein sei eine ernste Verpflichtung, die sie nicht auf die leichte Schulter nehmen könne. Sie wollte, daß ihre Ehe perfekt sei.

Er hatte sich ebenfalls darum bemüht. Nicht, weil er etwa Illusionen über Vollkommenheit hegte, sondern weil er Alex verzweifelt liebte.

Der Samen war gesät worden, als sie noch im Krankenhaus war und so verloren und allein dalag, so ohne jede Bereitschaft, den Ärzten, ihm oder irgend jemandem zu vertrauen, der versuchte ihr nahezukommen. Sie weigerte sich sogar zuzugeben, daß sie versucht hatte, Selbstmord zu begehen. Vielmehr bestand sie darauf, sie habe etwas im Wasser entdeckt und sei nur deshalb, um es besser sehen zu können, den Zaun hinaufgeklettert und dann versehentlich hineingefallen. Die Brüchigkeit ihrer Hartnäckigkeit hatte eine Saite tief in seinem Inneren anklingen lassen. Er hatte dieser Frau das Leben gerettet, doch sie war noch immer in Gefahr. Noch immer nah am Rand eines nicht zu erkennenden Abgrunds, und er fühlte sich verpflichtet, sie davor zu schützen.

Nachdem das Krankenhaus sie aus der Intensivstation in ein normales Zimmer überführt hatte, verbrachte er mehr Zeit mit ihr und nutzte die längeren Besuchsstunden und Alex’ allmählich wachsende Bereitschaft, seine Anwesenheit zu dulden, zu seinem Vorteil. Langsam entwickelte sich ein Gefühl der Verbundenheit. Sie spielten Karten, und er las ihr aus der Zeitung vor oder unterhielt sich mit ihr über Gebäude und sein Interesse am Denkmalschutz. Er erzählte ihr von seinem Stipendium und den phantastischen Möglichkeiten, die in der Architekturabteilung der Columbia University seiner harrten. Er offenbarte sogar die schmerzlichen Wahrheiten über die Alkoholsucht seiner Mutter und den gräßlichen Tod seines Vaters – mit Fingern und Zehen, die schwarz wurden, einem stotternden Herzen und vom Krebs zerfressenen Lungenflügeln rauchte er trotzdem bis zum bitteren Ende eine Packung am Tag. Seine unglückselige Mutter. Sein weiser, gütiger und talentierter Vater. Und er erzählte ihr von seiner einsamen Kindheit und isolierten Jugend, wie alles sogar noch schlimmer wurde durch den Tod seines Vaters und den Umzug nach Georgia, wohin er und seine Mutter sich damals zurückzogen, um dort bei ihrem Bruder zu wohnen. Er konnte sich nicht daran erinnern, jemals sein Herz so rückhaltlos irgendeinem Menschen ausgeschüttet zu haben.

Von ihr erfuhr er, daß sie die Modejournale, die er ihr mitbrachte, nicht ausstehen konnte (sie gab sie sofort den Krankenschwestern zum Lesen weiter), daß sie sich überhaupt nichts aus ihrem Aussehen machte und daß sie jedem mißtraute, der ihr Komplimente machte. Er drängte sie, mehr zu erzählen, und erfuhr mit der Zeit, daß die einzige noch lebende Verwandte ihre Mutter sei, von der sie schon vor Jahren im Stich gelassen worden sei, daß sie in einer Wohngemeinschaft mit Leuten lebe, die nicht ihre Freunde seien, und daß sie ihre Stelle verloren habe und pleite sei. Am leichtesten fiel es ihr, Oberflächliches preiszugeben: ihre Lieblingsfarbe, Lieblingsblume oder ihre bevorzugte Eissorte.

Die ganze Zeit hindurch fuhr sie fort, sich ihm gegenüber gleichgültig zu geben und so zu tun, als spiele es keine Rolle, ob er kam oder nicht. Eines Tages dann hatte er Ärger mit der U-Bahn und war sehr spät dran, und sie begrüßte ihn mit einem tiefen Atemzug, teils aus Überraschung und teils aus Erleichterung, und sagte mit gespielter Beiläufigkeit: »Ach ... du bist es. Als du nicht pünktlich erschienen bist, dachte ich, du hättest endlich was gefunden, was du lieber tust.« Und mit einem Mal wußte er, daß er genauso wichtig für sie war wie sie für ihn.

Weil sie sich eine üble Blutvergiftung und Komplikationen an der Leber zugezogen hatte (etwas, was nach Meinung der Ärzte möglicherweise bereits vor dem Vorfall am Fluß begonnen hatte), behielten sie Alex fast einen ganzen Monat lang da und ließen sie zur ständigen Versorgung mit intravenösen Antibiotika am Tropf. Ihr Zimmer wurde zu seinem Universum. Schon beim Aufwachen dachte er jeden Morgen an sie, und er hastete in der Stadt herum, um seine Arbeitssuche am Vormittag zu erledigen, damit er den übrigen Tag und den Abend mit ihr verbringen konnte.

Zwei Abende vor ihrer Entlassung war sie in einer nachdenklichen und beinahe entrückten Stimmung. Die Frau in dem anderen Bett war nach Hause geschickt worden, und man hatte bisher keine neue Patientin eingewiesen, daher waren sie allein. Sie stellte den Fernsehapparat an, der auf ihrer Seite hing, und bat Dan, den Vorhang rings um ihr Bett zuzuziehen für den Fall, daß eine neue Patientin hereingebracht werde, und alle Lichter im Zimmer auszuknipsen, damit sie den winzigen Bildschirm besser sehen könnten. Er tat, wie geheißen, und zog dann seinen Sessel nahe an das Kopfende des Bettes heran, damit er gemeinsam mit ihr fernsehen konnte. Allerdings schaute sie gar nicht wirklich hin. Sie hatte nicht einmal den Ton angestellt. Sie konzentrierte sich ganz auf Dan.

In den flackernden Lichtern und Schatten vom Bildschirm des Fernsehers streckte sie die Hand aus und berührte sein Gesicht. Die Berührung war elektrisierend. Er erstarrte. Bis auf die kurze Berührung ihrer Hände, die mit ihren Kartenspielen einherging, hatten sie noch keinerlei Körperkontakt gehabt. Weder die Umgebung noch die Stimmung von Alex waren je einem romantischen Versuch förderlich erschienen.

»Ich bin in voller Absicht in den Fluß gesprungen«, erklärte sie in einem Ton, der dem Geständnis ein Gewicht verlieh, das Geschenk und Herausforderung zugleich war.

»Wie konntest du bloß sterben wollen?« fragte er bestürzt.

»Ach, ich hab es mir nicht als Sterben vorgestellt. Es kam mir wie ein Ausweg vor.« Sie zuckte kaum merklich mit den Achseln. »Ich hatte es eigentlich nicht mal vorgehabt. Ich hab einfach in das dunkle Wasser hinuntergeschaut und darüber nachgedacht, wie wir alle als zufriedene kleine fischige Dinger in Wasserbeuteln anfangen, und ich dachte mir, wie friedlich es da ganz unten auf dem Grund sein muß, und plötzlich kam mir der Fluß wie ein guter Platz vor. Ein besserer Platz als der, an dem ich vorher war.«

»Der East River ist alles andere als friedlich«, sagte er. »Er ist kalt und kontaminiert. Oft gibt es einen heftigen Gegensog... so reißende Strömungen, daß man das Gefühl hat, man würde auseinandergerissen.«

»Das kommt daher, daß du dagegen angekämpft hast. Für mich war’s eine Erleichterung.« Sie schloß die Augen. »Als brächte man mich irgendwohin, wo es still und ruhig ist. Als wäre ich von Sanftheit umgeben.«

»Hör auf. Bitte. Ich kann es nicht ertragen, dich so reden zu hören.«

»Keine Sorge. Ich probier’s nicht noch mal. Du hast alles verändert.«

Sie ließ ein hinreißend unsicheres Lächeln erstrahlen. »Das hier ist eine komische Beziehung, findest du nicht? Aber ich glaube, es ist ein Omen. So, als müßte es so sein. Denn ...« Sie blickte einen Moment weg, fast als fühle sie sich schuldig, schaute ihm dann wieder ins Gesicht. »Denn, wenn ich dich ganz normal kennengelernt hätte, dann hätte ich einfach angenommen, ich wüßte schon, wie du bist. Ich hätte nie geglaubt, wie anders du bist. Ich hätte nie geglaubt, irgendein Mann könnte so süß oder so gut zu mir sein.«

Er sog ihre Nähe, ihre Berührung und ihren schwachen, von der Krankenhausseife übertönten Duft in sich hinein. Er ließ ihren Anblick auf sich wirken: die noch ein wenig fahle, blasse Haut, das eingefallene Gesicht und die übermäßig spitzen Knochen unter dem Baumwollhemd, schließlich das unregelmäßig geschnittene Haar, das seltsam abstand, weil es zu lange gegen das Kopfkissen gedrückt worden war. Und er verspürte eine plötzliche Leichtigkeit, als seien alle unwesentlichen Fragmente seines Lebens von ihm abgefallen und er sei als ein reineres, edleres Wesen daraus hervorgegangen.

Mit wildem Herzklopfen beugte er sich vor und küßte sie. Erst auf die Stirn. Dann, ganz, ganz sanft, auf die Lippen. Zart. Zaghaft.

»Komm hier rauf zu mir ins Bett«, flüsterte sie.

»Aber ... ich will dir nicht weh tun.«

»Du tust mir schon nicht weh.« Sie legte den Kopf schief und bedachte ihn mit einem Blick, der Stoßwellen zu seinen Lenden hin auslöste. »Du würdest mir niemals weh tun.«

Also streckte er sich vorsichtig neben ihr aus – fast war ihm schwindlig angesichts der geradezu wahnsinnigen Phantastik des Ganzen –, und sie küßte ihn heftig, drückte sich an ihn und brachte sein Blut in Wallung, verbrannte an jeder Stelle der Berührung seine Haut.

»Zieh mir das Nachthemd aus«, sagte sie, und er machte sich mit den Schleifen hinten an ihrem Rücken zu scharfen.

Sie schüttelte einen der Ärmel ab, während der andere infolge des Tropfs festsaß, und ließ das Gewand fallen. Ihre Brüste waren klein und fest und vollendet, wie exotische Früchte, mit reifen, dunkelroten Brustwarzen. Er ließ den Finger leicht über die weiche Haut gleiten, die porzellanzarte Samthaut, eine Haut so zart, daß er das Hechtwerk der direkt darunter liegenden blauen Adern sehen konnte. Er strich mit den Handflächen über die steifen Brustwarzen.

»Du bist so ...«

Ihre Hand legte sich ihm blitzartig auf den Mund.

»Sag nie zu mir, daß ich schön bin«, erklärte sie und blickte ihm dabei heftig und durchdringend in die Augen. »Nie. Versprich mir, daß du nie irgend so einen Quatsch erzählst.«

Er verspürte den Drang, aufzubegehren, war aber klug genug, nicht zu widersprechen, daher nickte er nur stumm.

Sie ließ die Hand sinken.

»Du siehst nicht so aus, als ob dir sehr bequem wäre«, sagte sie mit einem bedeutungsvollen Lächeln, während sie sein Hemd aufzuknöpfen begann.

Als das Hemd offen und herausgezogen war, ging sie sofort zu der Schnalle an seinen Jeans über.

»Was ist, wenn jemand reinkommt?« fragte er mit einem Grinsen. Sie zuckte mit den Achseln. »Tun sie normalerweise nicht, bis die Besuchszeit zu Ende ist. Und falls doch – was soll schon sein?«

Dann war der Reißverschluß seiner Hose ganz offen, und sie schmiegte sich an ihn, ihre unfaßbar weichen Brüste Haut an Haut mit seiner Brust, ihr Schamhügel gegen die ganze Länge seiner Erektion gepreßt, und die Körperwärme strahlte selbst dort, wo Stoffschichten im Weg waren, sengende Hitze aus. Er keuchte, und sie bedeckte seinen Mund mit ihrem, ließ ihre Zunge tastend und fordernd wandern.

Er dachte, er müsse wohl träumen. Er dachte, vielleicht habe er die beste Phantasievorstellung seines ganzen Lebens. Er dachte, vielleicht sei er schon gestorben und in den Himmel gekommen oder werde andernfalls noch vor lauter Lust sterben.

Als er nicht mehr weiter konnte, ohne zu explodieren, zog er sich zurück und atmete tief aus und ein. Sie schlängelte sich aus ihrem Höschen heraus, und der Anblick ihres frischen dunkelroten Dreiecks ließ ihn fast die Beherrschung verlieren.

»Komm in mich rein«, sagte sie atemlos.

»Hier? Jetzt? Wir haben doch ... ich meine, ich hab jedenfalls ... gar nichts dabei ... Und du ...?« Er lächelte neckisch. »Du bist hier doch bestimmt nicht mit irgendwelchen Verhütungsmitteln in der Tasche angekommen, oder?«

Sie runzelte die Stirn, als bedenke sie das Hindernis.

»Wir müssen ja jetzt nicht noch weiter gehen«, schlug er ohne rechte Überzeugung vor. »Wir können den Rest für eine günstigere Situation aufheben.«

»Nein.«

Er fühlte sich auf unsicherem Terrain, und er wußte nicht recht, wie er sich verhalten sollte. Nach all dem Widerstand und der abweisenden Verschwiegenheit, nach all dem Mangel an Bereitschaft, ihm zu vertrauen, befürchtete er, er könnte etwas sagen oder tun, was das prekäre Gleichgewicht gefährden mochte.

»Könntest du hier rauffutschen?« fragte sie mit einem Anflug von Schüchternheit. »Und dich mit dem Rücken an das Kissen lehnen?« Er folgte ihrem Wunsch, versuchte dann, ihr die Arme um die Schultern zu legen, doch sie entwand sich ihm. Er schaute sie an, auf ein Zeichen von ihr wartend, ein Zeichen dafür, was nun kommen sollte.

»Könntest du mal kurz die Augen zumachen?« fragte sie.

Blind wartete er ab und lauschte dem schwachen Rascheln ihrer Bewegungen. Dann roch er einen vertrauten Duft, und sie setzte sich rittlings auf ihn, ihre Hände ergriffen seinen Schwanz und waren glatt und feucht von Lotion, rutschten auf und ab, und er grub seine Finger auf beiden Seiten ins Bett, jeder Muskel in seinem Körper angespannt, jede Körperzelle ein Eigentum ihrer Hände ... und doch voller Zweifel, weil dies vielleicht irgendwie falsch für sie war. Er schlug die Augen auf, und ihr Blick lag auf ihm, drang mit soviel Hoffnung und Verletzlichkeit in ihn ein, und er kam, einer Fontäne gleich. Kam über seine ganzen Sachen und das Bett und ihre Oberschenkel.

»Alex«, sagte er heiser, während er für einen Augenblick gegen das Kissen zurücksank. »Alexandra ...«

Er streckte die Hand aus, um sie am Arm zu streicheln, doch ihre Aufmerksamkeit galt dem Bett.

»Ich wußte gar nicht, daß das alles so vollmacht«, sagte sie erschrocken.

»Mach dir nichts draus. Das kriegen wir schon wieder sauber.« Er versuchte, sie näher heranzuziehen. »Sag mir, was du gerne hast«, bat er. »Wie kann ich dich zum Kommen bringen?«

Sie schüttelte den Kopf und widerstand steif seiner Umarmung. »Ich kann nicht. Mit dem Tropf und all dem ... Es wäre zu ungemütlich.«

»Bitte ... Wir könnten’s versuchen. Laß mich’s doch versuchen.«

»Nein, ehrlich. Jetzt nicht. Wie du gesagt hast, können wir uns den Rest aufheben.«

Er wußte nicht, was er tun sollte. Sollte er darauf bestehen? Störte sie wirklich der Tropf, oder war sie nur verlegen? Genierte sich vielleicht, zu kommen, während er zuschaute?

»Alex ...« Er berührte sie an der Hand. »Das soll doch auch für dich sein.«

»Nein!« Sie verschränkte die Arme vor der Brust. »Ich will einfach nicht!«

Verblüfft und ein wenig gekränkt setzte er sich mit einer abrupten Bewegung auf und rutschte vom Bett herunter. »Es tut mir leid. Ich wollte dich nicht unter Druck setzen. Ich hole eben die Handtücher.«

Er ging ins Bad, säuberte sich rasch und brachte seine Kleidung in Ordnung, nahm dann feuchte wie trockene Handtücher zu ihr mit hinüber. Nachdem sie fertig war und er ihr das Nachthemd hinten wieder zugebunden hatte, bearbeitete er die Leintücher.

»Schau her«, erklärte er, um die Stimmung etwas aufzulockern. »Man bräuchte schon eine feine Nase und scharfe Augen, um hier irgendwas von einem anderen Spiel als dem mit Karten zu entdecken.«

Sie lächelte nur vage.

»Erzähl mir was von deiner Wohnung«, sagte sie, als sie sich wieder in ihrer üblichen, von Kissen abgestützten Position zurechtsetzte.

Er nahm in dem Sessel neben dem Bett Platz.

»Es ist ein wahres Loch. Ein Einzimmerapartment mit zwei Herdplatten und einem Kühlschrank, der kleiner als ein normales Fernsehgerät ist. Meine Kleider heb ich in Pappschachteln auf, und auf dem Boden hab ich einen Futon, was, wie es heißt, das typische Bett aller Studenten höherer Semester ist.«

Sie lächelte erneut. Diesmal war es träumerisch und nach innen gerichtet. »Bestimmt hast du keine Vorhänge oder ordentliches Geschirr oder irgend so was.«

»Da hast du recht. Es ist ein Leben auf Sparflamme. Selbst mit dem Stipendium, meinen Ersparnissen und einem Teilzeitjob wird das Geld knapp sein. Aber damit hab ich gerechnet. Ich beschwer mich nicht.«

»Ich mach dir Vorhänge dran«, erklärte sie. »Und ich seh mich in all diesen komischen kleinen Läden mit gebrauchten Möbeln und solchem Zeug nach was Günstigem um.«

Er lachte.

»Wie groß ist dein Futon?« fragte sie.

»Äh ... weiß ich nicht genau. Ich mußte mir allein schon wegen der Länge einen größeren aussuchen, als ich eigentlich vorhatte. Ich kann es nicht leiden, wenn meine Füße unten runterhängen.«

»Gut. Gut.« Sie nickte. »Dann müßte er ja groß genug für uns beide sein.«

Die sexuelle Verheißung dieser Aussage löste eine Welle der Erleichterung in ihm aus. Er hatte es sich also nicht mit ihr verdorben. Sie wollte ihn noch.

»Vielleicht kann ich auch einen niedrigen Tisch finden, an dem wir essen können.«

»Also ...«, wandte er zögernd ein. »Ich weiß nicht, wie viele Mahlzeiten du in der Atmosphäre dort genießen würdest.«

»Es ist zu teuer, ständig irgendwo essen zu gehen.«

»Ja, klar. Aber du willst doch bestimmt bei dir zu Hause essen und mit deinen Freunden und ...«

Seine Worte brachen ab, als er ihren Gesichtsausdruck sah. Sie sah so bestürzt aus, als hätte er ihr eine Ohrfeige versetzt.

»Du ... willst nicht ... daß ich mit dir zusammenlebe?«

»Zusammenlebe? Ich ... Ich bin nicht ... Das ist eine Frage der praktischen Durchführung.«

»Ich dachte, ich wär dir wichtig. Ich dachte, daß du mich willst.«

»Bist du mir doch! Und ich will dich! Aber wir müssen uns der Realität stellen, und in nicht mal ganz zwei Monaten bin ich ein von Armut geschlagener und entsetzlich überarbeiteter Vollstudent. Du würdest dich miserabel fühlen, wenn du versuchst, mit mir zusammenzuleben.«

Zwei sehr große Tränen tropften aus den Innenwinkeln ihrer Augen.

»Alex ... Liebste ...« Er stand auf und beugte sich über das Bett, um sie zu umarmen, aber sie wandte sich heftig ab.

»Du bist jetzt alles, was ich habe«, sagte sie.

»Wein doch nicht. Wir finden eine Lösung. Ich helf dir, einen Job aufzutreiben, und wenn du die Wohnung nicht magst, wo du bisher warst, dann helf ich dir, eine neue zu finden.«

»Ich kann nicht mehr dahin zurück, wo ich bisher war. Die haben schon jemand anders mein Zimmer gegeben.«

»Ach. Na ja, du hast dich mit denen in der WG doch sowieso nicht wohl gefühlt, oder?«

Sie nickte.

»Wo sind denn deine Kleider? Deine Sachen?«

»Zusammengepackt und im Keller gelagert. Die haben gesagt, daß der Hauswart mir einen Monat Zeit gibt, bis ich sie von dort abhole.«

»Okay.« Er holte tief Luft, kratzte sich am Kopf und fragte sich, was er nun zum Teufel als nächstes tun solle. »Wie’s aussieht, mußt du dann wohl eine Weile bei mir bleiben. Nur vorübergehend. Bis wir eine eigene Wohnung für dich finden.«

Eine eigene Wohnung für Alex.

Natürlich war es nie soweit gekommen. Sie war schwanger geworden, und die Vorstellung einer Abtreibung hatte sie zutiefst entsetzt, und so hatte er das Stipendium und seinen Studienplatz an der Columbia und all seine Träume für die Zukunft aufgegeben. Und er hatte die Stelle bei HTO gefunden. Und trotz seines schon lang gehegten Herzenswunsches, in Manhattan zu wohnen, waren sie nach Bay Ridge gezogen, weil sie nicht in der New Yorker Innenstadt ein Kind großziehen wollte.

Und er hatte nie zurückgeblickt, nie auch nur einen Moment der Reue empfunden, weil nichts als ein zu hoher Preis für ein gemeinsames Leben mit ihr erschien. Und sie war aufgeblüht. Auch das Kind war aufgeblüht. Ihr Leben miteinander war nahezu ideal gewesen.

Wie war es dann zu der jetzigen Situation gekommen?

Dan war entschlossen, die sich in seinem Leben vollziehende Katastrophe für sich zu behalten. Er wollte nicht zum Thema von Bürogerede werden. Er wollte kein Opfer mitleidiger Blicke von Kollegen aus anderen Abteilungen werden, Leuten, die er nicht einmal vom Namen her kannte. Und er vermutete, es würde ihn eher reuen als ihm echten Trost oder Erleichterung zu bringen, wenn er sich seinen drei unmittelbaren Teamkollegen anvertraute. Mit all diesen Überlegungen im Hinterkopf war er außergewöhnlich früh ins Büro gegangen, in der Hoffnung, zum Zeitpunkt des Eintreffens seiner Kollegen schon beschäftigt und in seine Arbeit so vertieft zu sein, daß es ihm gelingen würde, dem unvermeidlichen Ansturm ihrer Fragen zu widerstehen. Die Strategie war nicht erfolgreich. Es fiel ihm schwer, sich in die Arbeit zu vertiefen, und sogar noch schwerer, bei ihren nachbohrenden Fragen seine Fassung zu wahren.

Von Rich Medford: »Du siehst ja schlimm aus, Behr, alter Kumpel. Wie ist das überhaupt mit der Giftsache passiert?«

Von Wendell Crispin: »Wir sind deine Freunde, Dan, und ich wünschte, du würdest uns ganz genau erzählen, was eigentlich los ist, weil ich das dunkle Gefühl habe, daß wir bloß einen kleinen Teil von deinen Bedrängnissen zu hören bekommen.«

Von Karen Lai: »Gibt es irgendwas, worüber du gern reden willst, Dan?«

Das Thema wurde aus jeder nur vorstellbaren Perspektive beharrlich aufgetischt, bis er merkte, wie er schwach wurde. Wie er näher an die Schwelle rutschte, bereit, sich gehenzulassen und alles zu erzählen. Als der Abteilungsleiter die Aufforderung schickte, Dan solle bei ihm im Büro erscheinen, verspürte er eher Erleichterung als Entsetzen. Er zog sich sein Sportjackett über und eilte hinaus. Als er sich Dreesons Büro näherte, empfand er eine merkwürdige Art von Taubheit. Die Bestellung zum Chef hatte zweifellos einen negativen Anlaß, denn gute Neuigkeiten wurden stets in Gruppen verkündet. Es ging vermutlich um das Brunner-Projekt. Darum, daß er die Arbeit verlor.

»Setzen Sie sich, Dan«, bekam er zu hören, sobald er durch den Eingang von Dreesons mit Glaswänden umgebenem Büro trat.

Benommen und von Schuldgefühlen geplagt, wartete Dan auf die Belehrung und Abmahnung.

Dreeson legte die Fingerspitzen gegeneinander, starrte in die Ferne und grübelte eine Weile. »Ich bin bloß ein Zacken in dem Zahnrad hier«, sagte er schließlich. »Entbehrlich, wie jeder andere Zahn auch.«

»Sie sind nicht entbehrlich«, entgegnete Dan überrascht. »Sie haben die Abteilung hier aufgebaut.«

»Oh doch, ich bin weiß Gott entbehrlich. Wir überqualifizierten weißen Männer mittleren Ranges sind alle entbehrlich. Haben Sie das nicht mitgekriegt? Wir sind überflüssig. Unsere Jobs verschwinden allmählich. Unser Sperma kann man einfrieren und später verwenden. Die Politiker scheren sich nicht einmal mehr um unsere Stimmen – die biedern sich alle bei den Radikalen oder Frauen oder Minderheiten an, bei Senioren, Holzarbeitern, Naturschützern, den rechtsreaktionären Christen oder bei wem auch immer, aber denen ist doch der hart arbeitende Durchschnittskerl, wie ich einer bin, scheißegal, und wissen Sie, warum? Weil wir keine Rolle mehr spielen. Wir sind verzichtbar.«

Dan starrte den Mann an und wartete. Das entsprach nicht seinen Erwartungen und glich keinem der Gespräche, die er je mit seinem Chef geführt hatte.

»Wissen Sie, Dan, ich hab vor dreißig Jahren als junger Bauzeichner angefangen. Genauso wie Sie angefangen haben. Das einzige, was ich hatte, war ein wenig Grundausbildung, eine Menge Begeisterungsfähigkeit und Engagement ... einen Traum ... eine Hingabe für meine Branche, aber im Laufe der Jahre hab ich mich bis zu dem Punkt hochgearbeitet, wo ich meiner Familie ein gutes Leben ermöglichen konnte.«

Dreeson beugte sich etwas vor, um Dan direkt in die Augen zu spähen.

»Sie würden gern dasselbe machen, aber ich kann Ihnen jetzt schon sagen, daß Sie nicht die Chance eines Eiswürfels im Höllenfeuer haben, weil die Regeln geändert worden sind, Dan, und Sie, und all die anderen weißen Kerle, werden es nicht hinkriegen, wie’s eure Väter einmal hingekriegt haben. Sie hätten besser daran getan, eine Lehre für Aufzugreparaturen zu machen, anstatt fünf Jahre harter Arbeit daran zu setzen, einen Abschluß in Architektur zu erringen.«

Dan dachte über Dreesons Worte nach. Er fragte sich, ob der Mann krank oder in schlechter Verfassung war. Er fragte sich, worüber zum Teufel der alte Typ eigentlich redete. »Wegen der Brunner-Sache ...«, ergriff er das Wort.

Dreeson schnaufte bedauernd.

»Sie sehen überhaupt nicht den größeren Zusammenhang, stimmt’s? Keiner sieht’s. Genauso wie damals, als sie nachts die Juden abgeholt haben. Keiner hat sich vorgestellt, wie groß und wie böse das Szenarium damals war.«

»Verlier ich jetzt meine Stelle?«

»Früher oder später. Wie wir alle. Wir werden abgebaut. Sie wissen, was das bedeutet? Personalabbau. Das klingt viel sauberer und ordentlicher, als die Leute rauszuschmeißen. Und dann stellen sie Zweiundzwanzigjährige ein für viel niedrigere Gehälter und reduzierte Sonderleistungen.«

Dan wartete ab. Als Dreeson nicht weitersprach, sagte er: »Ich glaube, ich kann das Brunner-Zeug ziemlich schnell wieder rekonstruieren.«

Der ältere Mann nickte und seufzte. »Gut. Aber es ist bereits ein gewisser Schaden entstanden. Ich habe die strikte Anweisung, jedes Anzeichen von Leistungsabfall in meiner Abteilung weiterzuleiten, und die sind schon eifrig am Ausrechnen, welche Köpfe sie dann rollen lassen.«

»Wieso? Unsere Abteilung hat doch jetzt schon zu wenig Angestellte, um mit dem Arbeitspensum fertig zu werden.«

»Es geht um Kontrolle, Dan. Der Mittelstand hat zuviel Kontrolle in unserem Land, und jetzt wird sie ihm weggenommen.« Einen Augenblick lang schien er in Gedanken versunken zu sein. »Waren Sie schon mal bei einem dieser Selbsterfahrungsseminare, die sie für Männer abhalten?«

»Ich weiß nicht genau, was Sie meinen.«

»Oh, all diese Heiter-drauflos-Geschichten, wo die Männer offener werden sollen und wieder lernen sollen, sich zu engagieren und Dingen zu widmen und Versprechen einzulösen.«

»Nein. War ich noch nie.«

»Gut. Das ist alles ein Haufen Mist. Sehen Sie, die Männer kapieren es immer noch nicht. Wir sind alle dazu erzogen worden, uns mehr einzusetzen und offener und das alles zu sein. Von meiner Generation an hat man uns beigebracht, sensibler und engagierter als frühere Generationen von Männern zu sein. Wir haben eine bessere Ausbildung. Wir arbeiten mehr Stunden. Aber ... Das Problem ist nicht, daß wir offener sein müssen, uns neu engagieren und einsetzen müssen. Das Problem ist nicht unser Verhalten!« Er schlug sich mit der Faust gegen die Brust. »Das Problem ist, das nichts mehr übrig ist, woran ein Mann richtig seine Zähne wetzen kann. Da ist nichts mehr, was einem ein gutes Gefühl gibt. Nichts mehr, woran man glauben kann. Und jetzt kann man nicht mal mehr an sich selber glauben.«

Dreeson erhob sich, und Dan nahm das zum Zeichen, daß die Unterredung beendet war, stand deshalb ebenfalls auf und wandte sich in Richtung Tür.

»›Alles bricht auseinander. Die Mitte geht verloren.‹ Wissen Sie, woher das stammt?«

Dan machte rasch kehrt, doch Dreeson schaute ihn nicht an. Der ältere Mann stand am Fenster und starrte auf das Stadtpanorama hinaus.

»Das ist aus einem Gedicht, ich weiß aber nicht genau, von wem«, gestand Dan ein.

»Es ist bedeutungslos. Der ist sowieso ein Klischee. Auch bloß ein toter Weißer männlichen Geschlechts.«

»Ich kann es mir nicht leisten, meine Stelle zu verlieren«, sagte Dan, plötzlich von dem Drang erfüllt, sich vor diesem seltsam verstörten Mann seinen Kummer von der Seele zu reden. »Meine Ersparnisse sind gestohlen worden, und meine Frau ist in einer Sekte verschwunden. Ich bin ... vollkommen am Ende.«

Dreeson drehte sich um und betrachtete ihn lange mit düsterem Schweigen.

»Haben Sie das irgend jemand sonst in der Firma erzählt?«

»Nein. Meine Teamkollegen wissen, daß etwas nicht stimmt, aber ich hab ihnen nichts Genaueres mitgeteilt.«

»Tun Sie’s nicht. Verraten Sie es niemandem. Die Geier kreisen da oben auf der Suche nach jedem Zeichen von Schwäche. Wenn die sehen, daß Sie am Boden sind, dann schlagen sie gnadenlos zu.«

Dan nickte.

»Eine Sekte, was?« sagte Dreeson grübelnd. »Vielleicht weiß sie ja etwas, das wir nicht wissen.«

Am Morgen hatte Dan, nachdem er alle seine Taschen ausgeleert hatte, festgestellt, daß noch genau zweiundvierzig Dollar und drei U-Bahn-Münzen in seinem Besitz geblieben waren, und so genehmigte er sich ein Stück Pizza und ein Glas Wasser zur Mittagspause. Dann ging er zu einem Buchladen in der Nähe. In den Regalen dort gab es nichts über Sekten. Nicht, daß er sich etwas hätte kaufen können, wenn es etwas gegeben hätte.

Wo war Alex jetzt? Was stellten sie mit ihr an? Falls er irgendwie das Geld zusammenkratzen konnte, um diesen Sektenexperten Everett May anzuheuern, würde es dem Mann dann gelingen, sie herauszuholen? Zum ersten Mal in seinem Leben konnte er verstehen, weshalb jemand auf die Idee kommen mochte, eine Bank zu überfallen.

Sobald er wieder in dem Gebäude war, dachte er an sein Versprechen, sich mit Alex’ Mutter in Verbindung zu setzen. Ihm graute vor dem Anruf, aber er mußte es tun. Er mied seinen eigenen Arbeitsbereich und suchte sich einen unbenutzten Schreibtisch, zog das Blatt mit Felices Telefonliste hervor und wählte die Nummer in Kalifornien. Es war das erste Mal, daß er die gebührenfreie Leitung der Firma für ein Privatgespräch benutzte. Als die Verbindung mit einem Klick zustande kam, rutschte er tiefer in den Sessel, da er überzeugt war, daß jemand, der zufällig vorbeikam, merken würde, daß er sich regelwidrig verhielt.

Vier Klingelzeichen. Fünf Klingelzeichen. Er hoffte, sie werde sich nicht melden.

»Hallo«, sagte eine weibliche Stimme, und sofort waren seine Achseln feucht.

»Hallo ... kann ich bitte mit Valerie Vaughn sprechen?«

»Wer ist am Apparat?«

»Hier ist ...« Er konnte sich nicht dazu durchringen, »Ihr Schwiegersohn« zu sagen. »Hier ist der Mann Ihrer Tochter.«

»Sie machen Witze.«

»Nein. Hier spricht Dan Behr. Alexandras Mann.«

»Behr, ja? Dan Behr?« Ein tiefes, kehliges Lachen drang durch die Leitung zu ihm durch. »Ich bin Valerie.« Sie lachte wiederum. »Ich hätte nie damit gerechnet, mit Ihnen zu reden. Wer hatte denn die Idee? Bestimmt nicht Alex, könnte ich wetten.«

»Nein.«

»Wußte ich’s doch. Also, Sie rufen bestimmt insgeheim an, um mich auszuhorchen. Es wundert mich, daß sie Ihnen überhaupt mitgeteilt hat, daß ich existiere.«

»Das hat sie ehrlich gesagt auch nicht. Ich ...«Er zögerte, da es ihm widerstrebte, von Alex’ Lügen zu berichten. »Sie haben nicht zufällig neuerdings was von Alex gehört, oder?«

»Nicht seit ihrem letzten Anruf. Das war vor ungefähr einem Monat.« Dan versuchte auf eine Idee zu kommen, wie er ihr die Nachricht umsichtig beibringen konnte, aber ihm fiel nichts ein. »Sie ist verschwunden. Mit einer Sekte. Sie nennt sich Erstes Licht.«

Eine Weile lang herrschte Schweigen. »Ist das etwa ein Scherz?«

»Ich wünschte, es wäre so.«

Valerie murmelte etwas, was er nicht verstehen konnte, bevor sie sagte: »Erzählen Sie mir alles.«

Er erzählte die Geschichte, nur das Geld und den Wagen ließ er unerwähnt, weil es wie eine Schuldbezichtigung von Alex erschienen wäre. Als er fertig war, blieb es wieder eine Zeitlang still.

»Ich glaub das einfach nicht. Ich dachte, sie wäre so verflucht glücklich. So versessen darauf, Mrs. Ehrbare Ehefrau und ein Mitglied im Elternverein zu sein.«

»Ich dachte auch, daß sie glücklich wäre. Ich meine ... ich glaube noch immer, daß sie glücklich war. Ich glaube, die haben sie irgendwie unter ihre Kontrolle bekommen. Vielleicht unter Drogen gesetzt oder ...«

»Oh, mein Gott!« rief die Frau plötzlich aus. »Sie hat doch nicht etwa die Kleine mitgenommen, oder?«

»Hana? Nein, natürlich nicht.«

»Oh ... Puh ... Eine Minute lang ... Verdammt.« Das Klicken eines Feuerzeugs war zu hören und dann ein langes Inhalieren. »Also, was jetzt?«

»Ich werde sie da rausholen. Ich weiß noch nicht, wie. Es dauert vielleicht noch eine Weile.«

»Wieder ihren Retter abgeben, was? Klingt ganz so, als hätte sie’s diesmal schwieriger gemacht.«

»Ich finde nicht ... Ich meine, ich ...«

»Was ist mit der Kleinen?«

»Was soll mit ihr sein?«

»Alex hat doch die Rolle der Mama, die zu Hause bleibt, gespielt, oder nicht?«

»Sie hat ein bißchen gearbeitet. Aber nur während der Schulstunden.«

»Wer paßt dann jetzt auf die Kleine auf, solange das alles abläuft?«

»Eine Freundin von Alex hilft mir vorübergehend aus.«

»Haben Sie irgendwelche Verwandten in der Nähe?«

»Nein.«

Die Frau lachte trocken auf. »Alexandra hat Sie wirklich in der Patsche zurückgelassen, finden Sie nicht? Hat Sie auf dem Trockenen sitzenlassen.«

Dan starrte zur Zimmerdecke hinauf und bemühte sich, die Worte der Frau ungerührt von sich abprallen zu lassen. An ihrem Ende der Leitung war im Hintergrund eine Türglocke zu hören.

»Ich muß jetzt aufhören. Lassen Sie mich über die Sache nachdenken. Ich hab da ein paar Ideen ... und ... ich ruf Sie wieder an, okay?«

»Okay«, stimmte er zu und wünschte sich zugleich, nicht mehr mit ihr sprechen zu müssen.

»Wie ist die Nummer?«

Er gab ihr seine Privatnummer.

»Sind Sie heute abend da?«

Er versicherte ihr, er werde zu Hause sein, legte dann den Hörer auf und barg sein Gesicht in den Händen. Erst dann wurde ihm bewußt, daß sie weder seinen Namen noch die Telefonnummer von ihm und Alex gekannt hatte. Alex hatte offenbar genauso Teile ihres Lebens vor ihrer Mutter geheimgehalten, wie sie ihm ihre Mutter verheimlicht hatte.

Alex. Alex. Alex.

Er kam sich wie ein Verräter vor, weil er ohne ihr Wissen mit ihrer Mutter gesprochen hatte.

Alex. Alex. Alex.

Seine linke Hand lag vor ihm auf dem Schreibtisch. Er starrte auf seinen Ehering hinab. Dachte daran, wie sie ihn damals auf seinen Finger zu schieben versucht und dabei fallen gelassen hatte. Der Ring war davongerollt, und sämtliche Anwesenden, ja sogar der Standesbeamte, hatten in panischer Hektik danach gesucht, bis die Zeremonie schließlich weiter ihren Lauf nehmen konnte.

»Ich hoffe, das bringt kein Unglück«, hatte sie später lachend erklärt. »Mach dir nichts draus«, hatte er sie beruhigt, »ich besorg uns ein Hufeisen und hänge es verkehrt herum über unsere Tür.«

Er schlug die Hände auf den Schreibtisch, stieß den Sessel zurück, packte sein Jackett und machte sich auf den Weg zum Lift.

Er konnte nicht einfach dableiben und an der Plazierung von Wandschränken und Entwürfen von Raumteilern arbeiten, während seine Frau in Gefahr war. Er mußte etwas unternehmen. Irgend etwas.

Gestohlene Seelen

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