Читать книгу Gestohlene Seelen - Darian North - Страница 7

Kapitel 1

Оглавление

An dem Tag, als er seine Frau verlor, erwachte Daniel Behr zu dem melancholischen Dröhnen eines Schiffnebelhorns im Hafen. Keine dunklen Ahnungen eines drohenden Unheils bedrückten ihn. Abgesehen von der Tatsache, daß er alleine war, erschien ihm der Morgen vollkommen normal.

Er duschte sich eilig und streifte rasch Bluejeans und ein frisches weißes Hemd über. Auf dem Weg durch die Küche holte er sich einen Orangensaft und einen englischen Muffin, nahm dann beides ins Wohnzimmer mit und aß dort, während er am Fenster stand und hinausschaute. Obwohl er im dritten Stock wohnte und gewöhnlich einen grandiosen Ausblick hatte, waren jetzt lediglich die allerobersten Spitzen der Verrazano Bridge durch den Nebel hindurch zu sehen, und die Warnlichter der Brücke blitzten Sternen gleich am verhangenen Horizont auf.

Der Tag war wie dazu geschaffen, zu träumen, zu sinnieren und das Leben zu hinterfragen, doch Dan Behr starrte nicht in den Nebel hinaus und dachte über seine unerfüllten jugendlichen Lebensziele oder seine Unzufriedenheit mit seiner Arbeit nach. Weder erwog er die Zukunft seiner fünfjährigen Tochter, noch staunte er über die leidenschaftliche und verzehrende Liebe, die er für seine Frau empfand. Er vermied solche persönlichen Betrachtungen. Statt dessen versuchte er sich auf die konkrete Welt zu konzentrieren. Auf Dinge, die er untersuchen und begreifen konnte. Dinge, die logisch und in Zahlen erfaßbar waren. Diese Haltung hatte es ihm ermöglicht, ein Leben aufzubauen, in dem er hart arbeitete, tat, was er für richtig hielt, und nachts gut schlief. Ein sicheres Leben. Zumindest glaubte er das noch an diesem letzten Morgen.

Glockenschläge setzten ein, als die Zeiger der Standuhr die halbe Stunde erreichten. Er nahm seine Aktentasche, hängte sich die abgenutzte Fliegerjacke aus Leder über die Schulter und verließ die Wohnung. Das Zuschlagen seiner Tür ließ prompt Mrs. Svensen auf der Bildfläche erscheinen, die auf der anderen Seite des Gangs in der 4F wohnte. Sie stand in ihrer Tür, eine zerbrechliche, gebückte Gestalt in einem rosafarbenen Flanellmorgenrock und gelben Wollsocken, und hielt einen kleinen Müllbeutel in der schwieligen Hand.

»Hallo, Mrs. Svensen!« rief er, während er sich die Jacke anzog. »Ich geh gerade runter, also kann ich das für Sie mitnehmen.«

»Nachdem Sie sowieso runtergehn ...«, sagte sie in ihrem gewohnten Tonfall vager Irritiertheit. »Dann können Sie’s wohl genausogut tun.«

Sie schob ihm das ordentliche Bündel zu. Stets dreifach in Plastiktüten verpackt und eng verschnürt, weil sie besorgt war, die Leute könnten in ihrem Abfall »herumschnüffeln«.

»Ist normaler Müll«, erklärte sie. »Nichts zur Wiederverwertung.«

Einige Zeit zuvor hatte er vorgeschlagen, sie solle doch ihren Müll vor die Tür stellen, und was immer er dort vorfände, würde er dann automatisch mit hinunternehmen, ohne daß sie ihn extra darum bitten mußte. Der Vorschlag hatte sie empört. »Glauben Sie vielleicht, ich bin ein Krüppel?« hatte sie sich ereifert. »Glauben Sie, ich kann nicht selber für mich sorgen?« Seither machte er also das Spiel mit, bei dem sie so tat, als ob sie tatsächlich soeben im Begriff sei, in Morgenmantel und Socken die Treppe hinunterzugehen, und seine Hilfsangebote spontan erfolgten.

»Sie haben ja Ihren Geschäftskoffer dabei!« erklärte sie vorwurfsvoll.

»Sie arbeiten heute.«

Er zuckte die Achseln, und sie machte ein finsteres Gesicht.

»Mein Mann hätte nie und nimmer an einem Sonntag gearbeitet. Das war ein heiliger Tag. Ich meine nicht wegen der Religion ... wenn er auch ein guter Lutheraner war. Der Sonntag ist für die Familie da.« Ihre Augen wurden schmal. »Ihre Frau und Tochter sind weg, stimmt’s? Deswegen schleichen Sie sich zur Arbeit davon.« Er lächelte. »Alex und Hana sind wirklich übers Wochenende weggefahren. Aber ich kann Ihnen versichern – Alex weiß Bescheid. Ich gehe nicht heimlich hinter ihrem Rücken ins Büro.«

Mrs. Svensen schüttelte mahnend einen knochigen Finger. »Sie ist weggefahren, weil sie nicht wollte, daß Sie am Sonntag arbeiten!«

»Nein. Alex ist bei einem Workshop, und Hana ist bei einer Freundin zu Besuch. Also ist es nur gut, daß ich zur Arbeit muß. So kann ich keinen Unfug anstellen.«

»Bei einem Workshop?« sagte die alte Frau, als sei dies eine völlig absurde Vorstellung.

»Ich muß jetzt wirklich gehen.« Er wich langsam zurück, um die Flucht zu ergreifen, bevor sie zu einer ihrer von Verfolgungswahn geprägten Tiraden über Spionagesatelliten oder die Überwachung ihres Telefons durch den Staat ansetzen konnte.

Am Aufzug vorbei steuerte er auf die breite Marmortreppe zu, sprang zwei Stufen auf einmal zu der Eingangshalle im Art-deco-Stil hinunter, ging durch den Lieferanteneingang an der Seite und die Betonstufen in den Keller hinunter. Er warf Mrs. Svensens penibel verschnürtes Bündel mit einem angedeuteten Überhandwurf in eine Mülltonne und wandte sich dann seiner Werkstatt in einem der Kellerräume zu. Der Hauseigentümer, Petrous, hatte ihm die Werkstatt im Austausch dafür zugestanden, daß er kleinere Holzreparaturen am Gebäude durchführte. Petrous war über die Bitte um einen Werkraum ebenso erstaunt gewesen wie über das Angebot, Tischlerarbeiten zu erledigen. »Sie sind doch ein Akademiker«, hatte Petrous protestiert, so als gehöre es sich nicht, daß ein Mann mit höherer Ausbildung sich zu manueller Arbeit herablasse. Dan Behr hatte den Mann nicht eigens darüber aufgeklärt, in genau welchen Niederungen innerhalb der akademischen Welt sich ein junger Architekt befand. Genausowenig hatte er zu erklären versucht, daß er selbst dann noch, wenn er eine namhafte Position in der Expertenstratosphäre erklimmen sollte, so viel Holzarbeit und Tischlerei betreiben würde, wie es sein Terminplan zuließe. Er hatte sich zu einer Karriere mit dem Bleistift in der Hand entschlossen, doch seine erste Liebe war seit jeher das Werkzeug eines Schreiners.

Er schloß den Kellerraum auf. Er hatte sich dort eine schlichte Einrichtung aus grobgefügten Regalen und gelochten Hartfaserplatten rings um eine Werkbank mit Hocker gezimmert. Sein gegenwärtiges Projekt, ein Puppenhaus für seine Tochter, stand auf der Arbeitsfläche. Er betrachtete es eine Weile lang, zufrieden mit seinem Werk. Die Fassade war eine maßgerechte Nachbildung des Morris-Jumel-Hauses, eines denkmalgeschützten Wahrzeichens von New York City, das nur eine der Sehenswürdigkeiten in Architektur und Kunst aus dem reichen Angebot der Stadt darstellte, für die er nie mehr Zeit fand, um sie sich anzusehen. Das Morris-Jumel war als Puppenhaus perfekt geeignet, ein weißer Hochzeitskuchen von einem Gebäude im georgianischen Stil mit einem zweistöckigen Portikus, mit kleinen Zinnen am Gesims und mit Balustraden am Dach. Und Säulen. Vier hohen weißen Säulen. Keine Glaskästen, kein »Weniger ist mehr« für Hana. Er wollte, daß das Puppenhaus Freude brachte, nicht aber das Ego der Architektur zur Schau stellte.

Seit Monaten schon arbeitete er an dem Haus und war nun bei den letzten Details im Inneren angelangt: Indem er durch die offene Rückseite langte, bastelte er an einer Inneneinrichtung, die sich zum praktischen Spielen eignete, zugleich aber in etwa den historischen Stil wahrte. Am Abend zuvor hatte er Streifen aus Balsaholz dafür benützt, um die Zimmer mit winzigen Hohlkehlensimsen auszustatten, und an diesem Morgen wollte er noch die Decken und Zierleisten streichen, bevor er zur Arbeit aufbrach. Es war frustrierend, daß er sich nur hier und da kurze Momente für das Puppenhaus nehmen konnte, doch so langsam er auch vorankam, glaubte er, daß er rechtzeitig zu Hanas sechstem Geburtstag die Arbeit vollenden konnte.

Schnell legte er in gleichmäßigen Pinselzügen eine weiße Schicht auf. Als er fertig war, schloß er die Werkstatt wieder ab, verließ das Gebäude durch die äußere Kellertür und trat in die feuchtigkeitsschwangere Luft. Er roch nasses Pflaster und verfaulende Blätter, und halb verdeckt von den stärkeren Gerüchen machte sich subtil das Meer bemerkbar. Alex liebte es, so nah am Wasser zu sein. Sie hatten sich ihr Apartment ausgesucht, damit sie einen Blick auf die Meerenge hatte.

Alexandra.

Er machte einen tiefen Atemzug.

Obwohl er versuchte, nicht weiter darüber nachzugrübeln, fehlte seine Frau Dan Behr ganz entschieden. Drei Tage ohne sie hatten ihn etwas aus der Fassung gebracht und dazu geführt, daß er sich nicht recht konzentrieren konnte, mit diesem hartnäckigen Ziehen im Brustkorb, das zwar nicht direkt als Schmerz fühlbar war, aber doch beinahe. Er lächelte vor sich hin. Das würde alles bald vorbei sein. Sie hatte gesagt, er solle sie um fünf Uhr abholen. Er ging die Straße entlang auf seinen Wagen zu. Nur noch neun Stunden.

Nach der Fahrt in ein sonntäglich ruhiges Manhattan betrat Dan die höhlenartige Marmorlobby des Bürogebäudes, das seine Firma beherbergte, und trat zusammen mit mehreren verschlafenen Kollegen mit Kaffeebechern in der Hand in einen Fahrstuhl.

»Guten Morgen«, sagte er, wofür er ein Nicken, ein Brummen und ein »Morgen« zur Antwort erhielt.

Auf ihrer Etage angelangt, ging er durch den Empfangsraum voran, winkte dem Mann hinter dem Tresen zu, einem Wachmann statt der üblichen Empfangsdame, da es Wochenende war, hielt dann die schwere Tür zu dem inneren Gehege von Büros und Arbeitsräumen auf, damit seine gleichzeitig eintreffenden Kollegen durchgehen konnten, ohne ihren Kaffee zu verschütten.

»Wie kannst du bloß so gut gelaunt sein?« fragte einer von ihnen.

»Ich mag den Energiepegel am Sonntagmorgen«, scherzte er und wurde mit aufjaulendem Gelächter belohnt.

»Morgen«, rief er, als er die ihm zugeteilte Arbeitsecke betrat. Zwei seiner Kollegen waren bereits da und aßen an gegenüberliegenden Enden des langen Arbeitstisches schweigend Krapfen.

»Da ist ja der Behr«, erklärte Rich Medford so verdrießlich wie stets in der Früh. »Wie erging’s dir denn am Samstagabend als Junggeselle? Jagd auf flotte Bärinnen gemacht?«

Der andere Mann, Wendell Crispin, schaute Medford angewidert an. »Du bist wirklich ein Idiot, Medford. Du hast doch seine Frau gesehn. Er müßte hirnverbrannt sein, um hinter andern Frauen her zu sein und sein Ehe zu gefährden.«

Mit einem gespielt verärgerten Kopfschütteln wandte sich Dan von dem Geplänkel ab und hängte seine Jacke an einen Haken. Zusammen mit ihm gehörten vier Personen zu seiner Arbeitsgruppe. Jeder von ihnen hatte einen Zeichentisch. Gemeinsam benützten sie zwei Computerdecks, den Tisch, die Regale und den Materialschrank. Jenseits der Dreiviertelwände, die ihren Arbeitsraum definierten, gab es noch weitere Dreiviertelwände und weitere kleine Teams von Kollegen.

Der hochbezahlte Unternehmensberater, der das Ganze arrangiert hatte, hatte es als »Nisten« bezeichnet. Jedes kleine Nest sollte die Angestellten aufeinander einschwören, den Austausch gegenseitiger Ideen fordern, während sie sich gleichzeitig die Ausstattung teilten und Grundfläche sparten. Die Geschäftspartner und leitenden Kräfte nisteten nicht. Sie hatten einzelne Büroräume mit Fenstern zum Hinausschauen und Türen zum Zumachen. Diese ungleiche Behandlung war sogar mehr noch als der riesige Unterschied bei den Gehältern eine beständige Quelle der Unzufriedenheit, aber Dan beteiligte sich nie an den Klagen. Alles in allem, fand er, war die Firma Hodder, Tang and Orloff Architectural and Engineering Associates, oder kurz HTO, ein anständiger Betrieb zum Arbeiten und vermutlich kaum anders als sonst irgendein großes Unternehmen in New York City. Und es war eine Arbeit als Architekt. Was eine Menge hieß zu einer Zeit, da so viele offiziell zugelassene Architekten Versicherungen verkauften oder versuchten, in der Teppichreinigungsbranche Fuß zu fassen.

Dan Behrs Unzufriedenheit, über die er sich nur selten eingehender nachzudenken erlaubte und die er nie artikulierte, galt nicht seinem Arbeitgeber, sondern der Natur seiner Arbeit. Sie war nicht das, was er tun wollte. Sie erfüllte ihn nicht mit Leidenschaft, vermittelte ihm kein Gefühl von Stolz. Wenn auch innerhalb seines Fachgebiets angesiedelt, hatte die Arbeit, die er für HTO verrichtete, keine Bedeutung für ihn. Doch da er gerade erst dreißig Jahre alt war, schien sich ihm eine grenzenlose Zukunft zu bieten, in der er dies noch bereinigen konnte, und so gab er sich mit der Chance zufrieden, Erfahrungen zu sammeln, während er sich zugleich sein Brot verdiente, zufrieden mit dem Sparkonto, das zur Vorbereitung jener Veränderung anwuchs, die er eines Tages durchführen würde, und vor allem zufrieden damit, daß er ein schöpferischer Mann war, ein familienorientierter Mann, ein Mann ganz von der Art, wie es sein Vater vor ihm gewesen war.

»He da, Behr!« brüllte Medford und bestand auf Dans Aufmerksamkeit. »Glaubst du diesem Kerl etwa?« Medford starrte in einer übertriebenen Darbietung von Fassungslosigkeit und Skepsis Crispin an. »Sag mal, Crispy, wie hast du dich nur zum erfahrenen Kenner von Frauen und der Ehe gemausert? Du bist dieses Jahr noch nicht einmal ausgegangen.«

Wendell Crispin, ein ausgemergelter, hagerer Mann in den Dreißigern vom Schlage Ichabod Cranes, der älter wirkte, wurde flammend rot. »Was hat das denn damit zu tun? Ich will dir mal was sagen, Medford – wenn ich tatsächlich die richtige Frau finde, dann verhalte ich mich auch wie ein erwachsener Mann. Ich versteh mich dann auch drauf, ein guter Ehemann zu sein.«

Medford stöhnte. »Ich glaub, ich kotze gleich.«

Richard Medford war ein ehemaliger Collegestar im Ringen, der sich noch immer etwas auf seine Körperkraft und Kondition einbildete. Anfangs war er mißtrauisch und herausfordernd aufgetreten, irritiert vielleicht durch Dan Behrs Körpergröße, doch Dan hatte das Machogehabe ignoriert, und mit der Zeit hatte es sich gelegt. Stets teuer gekleidet, ließ Medford sich die Haare nicht nur schneiden, sondern auf die neueste Fasson frisieren, und er trug einen Diamantring am kleinen Finger. Die Familie seiner Frau besaß Geld und Einfluß, und es ging das Gerücht um, er habe die Garantie dafür, früher oder später zum Partner bei HTO aufzusteigen. Es ging auch das Gerücht um, daß er mit der neunzehnjährigen Empfangsdame schlief.

Die vierte in ihrem gemeinsamen Nest war eine zierliche, ruhige junge Frau namens Karen Lai, die es zuwege brachte, modisch attraktiv und von bescheidenem Auftreten zugleich zu sein. Sie stellten eine schlecht zusammengewürfelte Gruppe dar, die zu ständigem Beieinandersein und zu gegenseitiger Toleranz gezwungen war, doch irgendwie war es ihnen gelungen, eine Einheit zu bilden und jeweils zu einem Teil des Lebens der übrigen zu werden. Auf diese Weise ähnelten sie wirklich sehr einer Großfamilie.

»Wo ist Karen eigentlich?« fragte Dan, als er sich an seinen Zeichentisch setzte. Ihre einzige weibliche Kollegin erschien normalerweise jeden Morgen als erste zur Arbeit.

Medford zuckte die Achseln.

Crispin tupfte sich mit einer Papierserviette über den Mund und sagte: »Sie hat nicht angerufen oder so was. Ob wir’s mal bei ihr zu Hause probieren sollten?«

»Lassen wir ihr doch noch ein bißchen Zeit«, schlug Dan vor, während er eine Zeichnung glättete und zu studieren begann.

»Warte mal! Bevor du anfingst ...« Medford sprang von seinem Stuhl hoch und lehnte sich mit den Ellenbogen auf Behrs Zeichentisch. »Ich stell gerade eine Gruppe zum Billardspielen am Donnerstagabend zusammen. Wir gehn direkt vom Büro aus hin, besorgen uns einen Hamburger und gehn dann zu diesem tollen Schuppen, wo wir Tische reserviert haben.«

»Ich kann nicht. Tut mir leid.«

»Ach, komm schon, Behr. Wir brauchen dich.«

Dan lächelte. »Danke, aber ich kann einfach nicht.«

»Du hast diesen Sommer auch nicht Softball mitgespielt. Was ist denn los mit dir? Ich weiß doch, daß du Sport magst.«

»Er wohnt ganz da draußen in Brooklyn«, warf Crispin ein. »Das ist ’ne weite Fahrt hin und her. Vielleicht will er nicht mit ’nem Haufen Arschlöchern rumhängen und so spät mit der U-Bahn heimfahren.«

»Wie wär’s mit jedem zweiten Donnerstag?«

»Klingt verlockend ... aber ehrlich ... nein.«

»Einmal im Monat?«

»Vielleicht. Ich muß mal sehn.«

Medford schnaufte sarkastisch. »Du meinst, du mußt dir die Erlaubnis von deiner Frau einholen.«

Crispin zerkrumpelte seine Krapfentüte. »Herrgott, Medford. Wir arbeiten hier zehn bis elf Stunden am Tag und noch dazu am Wochenende.«

»Na und ...?« Medford schwang sich abweisend zu dem anderen Mann herum. »Was soll das mit Billardspielen zu tun haben?«

»Ich muß um halb fünf weg«, rief ihnen Dan ins Gedächtnis zurück. »Also wär’s mir lieb, wenn ihr beide mich jetzt meine Arbeit machen laßt.«

»Klar doch!« willigten beide Männer sofort ein.

Das war ein Verhaltensmuster, das sich inzwischen herausgebildet hatte. Crispin und Medford reizten und ärgerten und quälten einander, wobei keiner der beiden gewillt war, einzulenken oder einen Schlußstrich zu setzen, doch bei dem ersten Einwand von Behr war die Sache vorbei. Er war irgendwie zum Schiedsrichter und Friedensschlichter der Gruppe geworden.

Nahezu eine Stunde der Ruhe verstrich, bis Karen Lai endlich erschien.

»Karen!« brauste Medford auf. »Wo zum Teufel hast du gesteckt?«

»Privatangelegenheit«, erwiderte die Frau scheu und senkte den Kopf, so daß ihr das geometrisch geschnittene Haar ins Gesicht fiel und es verbarg, während sie sich an ihren Zeichentisch setzte.

»Ist alles in Ordnung?« fragte Crispin.

»Du hättest uns anrufen sollen«, sagte Medford.

Karen murmelte ohne weitere Begründung irgend etwas zur Entschuldigung und hielt den Kopf weiterhin gesenkt.

»Was ...«, protestierte Crispin. »Du schuldest ...«, ring Medford zu sagen an.

Dan gebot ihnen beiden Einhalt und warf die Hände hoch. »Wir haben keine Zeit für so was! Ich weiß nicht, wie’s mit euch allen steht, aber was mich angeht, ist das Brunner-Projekt noch lange nicht fertig, also ... wie wär’s, wenn wir uns hier auf die Arbeit konzentrieren?«

Die beiden Männer brummten zustimmend, und Karen Lai warf ihm einen dankbaren Blick zu.

Wieder ein Tag, wieder ein Dollar, dachte Dan im stillen, amüsiert, das ihm das eingefallen war, aber auch berührt von schmerzlich aufsteigenden Erinnerungen. Wie genau er doch diesen Spruch noch im Gedächtnis hatte. Jeden Morgen, wenn sein Vater zu seiner Arbeit am Fließband aufgebrochen war, hatte er innegehalten, um Dan am Kinn zu packen und ihn durchdringend anzusehen. »Du lernst heute ordentlich, Sohn, damit du’s weiter bringst als dein Dad.« Dann pflegte er mit einem Seufzer nach seiner Lunchdose zu greifen und zur Tür hinauszugehen mit den Worten: »Wieder ein Tag, wieder ein Dollar.«

Entschlossen, nicht mehr daran zu denken, beugte sich Dan über die Zeichnung, die er gerade in Arbeit hatte. Er gehörte zu einem Team, das an der Innenrenovierung des Sitzes eines größeren Konzerns arbeitete. Die Aufgabe war, die Angestellten des mittleren und unteren Ranges in zehn Etagen statt vierzehn zusammenzupferchen, damit man die übrigen Stockwerke vermieten und einen Gewinn für die Investoren erzielen konnte. Hinter dem Gerede über Raumrationalisierung und Maximierung der Stromzufuhr lief der Auftrag im Grunde darauf hinaus, für den leitenden Stab großzügige, mit Fenstern versehene Außenbüros zu entwerfen, während der mittlere Bereich jeder Etage in ein eng unterteiltes Gehege mit Wänden in Brusthöhe verwandelt wurde. Die Anfangsskizzen hatten ihn an Irrgartenanlagen für Ratten erinnert.

Er seufzte. Ein Seufzer kaum anders als die Seufzer seines Vaters, wie er sie noch in Erinnerung hatte. Wieder ein Tag, wieder ein Dollar. Dann schüttelte er die Stimmung ab, indem er sich Alex in der Phantasie vergegenwärtigte. Schon am Abend würde sie wieder da sein. Heute abend. Ein Schauer sexueller Erregung durchlief ihn, und er lächelte leise, während er weiterarbeitete.

Um zwanzig Minuten nach vier fing Dan damit an, aufzuräumen und das, was er an Arbeit mit nach Hause nahm, in seiner Aktenmappe zu verstauen. Sonntags ging es leger zu. Zwar blieben alle am Wochenende bis vier, aber darüber hinaus konnte jeder für sich allein eine Entscheidung treffen.

»Du gehst jetzt, Dan?« fragte Karen und hielt mit dem Bleistift über ihrem Zeichenblatt inne.

»Er geht jetzt seine Frau abholen«, steuerte Crispin bei, bevor Behr selbst antworten konnte.

»Ja, ja, sie ist doch zu diesem Selbsterfahrungsschnickschnack in Greenwich Village«, ergänzte Medford.

»Ein Workshop«, sagte Dan. »Ist nur ein Workshop.«

»Ist mir egal, wie du’s nennst«, ließ Medford nicht locker. »Das ist doch alles lauter verrückter Mist vom neuen Jahrtausend, New Age und so.«

»Eine Menge Gruppen haben ihre Workshops«, warf Crispin sofort ein. »Du bist so was von engstirnig, Medford.«

»Gibt’s sonst noch was zum Brunner-Projekt, das wir besprechen sollten?« fragte Dan die anderen. »Oder ist bis auf weiteres alles klar?«

»Schon in Ordnung«, sagte Medford.

»Bloß im Rückstand«, fügte Crispin hinzu.

Karen nickte zustimmend.

»Dann also bis morgen früh.« Dan angelte noch in der Aktentasche nach seinem Wagenschlüssel, bevor er sie verschloß.

»Du fährst mit dem Auto?« fragte Crispin überrascht.

»Du hast ein Auto!« rief Medford aus. »Ich hab gedacht, du wärst so drauf aus, deine Pflicht gegenüber der Umwelt und der Stadt zu erfüllen und deshalb bloß mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu fahren.«

»Ich hab ein Auto«, stellte Dan fest, ohne weiter darauf einzugehen, daß er es für den abendlichen Taxifahrerjob damals zu Beginn seiner Ehe benötigt hatte, als das Geld noch so knapp war. »Normalerweise fahr ich mit der U-Bahn, aber Alex hat einen Koffer und verschiedenes Zeug dabei, deshalb wollte ich sie mit dem Wagen abholen.«

»Was für eins hast du denn?« fragte Medford und verrenkte sich den Hals, um den Schlüssel genauer in Augenschein zu nehmen. Seinen eigenen Schlüssel mit dem auffallenden Mercedes-Symbol hatte er, seitdem er den Wagen von seiner Frau geschenkt bekommen hatte, zur Schau gestellt.

»Bloß einen alten Chevy. Nichts Ausgefallenes.«

Medford lachte. »Wußte ich’s doch! In was sonst würde der Behr schon herumkutschieren?«

Dan lachte und ging, ohne weiter darauf einzugehen, hinaus. Er war fast am Lift angelangt, als er hörte, wie sein Name gerufen wurde, und sich umdrehte, um Karen hinter ihm herlaufen zu sehen.

»Entschuldige, Dan«, flüsterte sie. »Ich weiß, du bist in Eile, aber ich muß dich was fragen.«

»Ist schon gut. Ein paar Minuten hab ich noch.«

Sie preßte die Lippen zusammen, holte tief Luft und schlug die Augen nieder.

Dan wartete ab, teilnahmsvoll, aber keineswegs ernsthaft besorgt.

Sie blickte um sich, um sicherzugehen, daß niemand lauschte, und sagte dann sehr leise: »Du hast doch irgendwann mal was davon erzählt, wie es ist, eine Alkoholikerin zur Mutter zu haben, und ich wollte wissen ... wie ist dein Vater denn damit umgegangen?«

Die Frage traf ihn wie ein Faustschlag ohne Vorwarnung. Er hatte das impulsive Bedürfnis, sich mit Karen anzulegen, darauf zu bestehen, er habe das Trinkproblem seiner Mutter nie erwähnt, doch die Tatsache, daß Karen davon wußte, bedeutete auch, daß er etwas erwähnt haben mußte.

Er zuckte mit den Achseln. »Mein Dad hat versucht, die Flaschen zu verstecken. Er hat versucht, Geld von ihr fernzuhalten. Er hat eine Menge gebrochener Versprechen in Kauf genommen.«

»Hat er sie zur Entziehungskur oder Therapie geschickt?«

»Er hat’s versucht. Sie ist immer abgehauen.«

»Aber er ist bei ihr geblieben?«

»Sie hätte sonst nicht überlebt.«

»Hat er sie noch geliebt? Ich meine ... hat er sie wegen dem, was sie tat, allmählich gehaßt?«

»Er hat sie sehr geliebt. Aber wieso fragst du mich das alles, Karen?« Sie zögerte. »Weil ich nicht weiß, was ich tun soll.«

»Trinkt denn dein Mann?«

»Nein. Es geht um Drogen.« Ein schwerer Seufzer stieg tief aus ihrer Brust auf. »Er behauptet, es sei kein Problem. Er sagt, alle Stationsärzte tun es. Aber es wird immer schlimmer, und es verändert ihn. Gestern abend hatten wir einen schlimmen Streit, und er hat mich im Bad eingesperrt.« Sie biß sich auf die Oberlippe. »Heute früh konnte er sich an nichts mehr erinnern.«

Behr war vollkommen vor den Kopf geschlagen. Er hatte keine Ahnung gehabt, daß Karen irgendwelche Probleme hatte.

»Tut mir leid«, sagte sie rasch. »Ich hätte dir das nicht einfach so aufbürden sollen. Es ist bloß ... Ich bin ganz durcheinander, und mein Mann weigert sich, es ernst zu nehmen, und du bist so nett, und ich dachte mir ... weil du doch schon was Ähnliches erlebt hast ...«

»Entschuldige dich doch nicht. Sag mir, was ich tun kann, um zu helfen.«

»Nichts.« Sie wich langsam zurück. »Nichts. Ich bin wahrscheinlich einfach nur hysterisch oder so was. Ist wahrscheinlich bloß so eine Phase. Vergiß es, okay? Bitte ... Können wir’s einfach wieder vergessen?«

Der Nebel hatte sich mittlerweile zu einer drohenden Wolkenbank aufgestaut, und die Luft roch nach Regen. Entschlossen, das Rätsel dessen, was Karen ihm anvertraut hatte, vorläufig auf sich beruhen zu lassen, fuhr Behr den West Side Highway nach Norden, bog nach Greenwich Village ab und bemühte sich nun, den gekritzelten Richtungsangaben auf dem Zettel zu folgen, den Alex ihm hinterlassen hatte. Als sie »Greenwich« schrieb, hatte sie da die Greenwich Street oder die Greenwich Avenue gemeint? Und bei »the square«, welchen Platz hatte sie da im Sinn gehabt, den Sheridan Square oder den Abingdon Square? Er wußte, daß sie selbst noch nie an dem betreffenden Ort gewesen war und Angaben aus zweiter Hand aufgezeichnet hatte. Rechnete man ihre Abneigung gegen alles, was sie als »Kleinkram« bezeichnete, dazu, eine Kategorie, in die sie auch Straßennamen und die vier Himmelsrichtungen mit einbezog, so hatte er nur wenig Vertrauen in ihre Wegbeschreibung.

Während er durch die gewundenen Straßen des Village kurvte, fragte er sich, ob die Vanzant Street überhaupt existierte. Er konnte sich nicht erinnern, je eine Vanzant Street bemerkt zu haben. Doch das hieß nichts. Er hatte sich nie genau mit all den Nebenstraßen kreuz und quer im West Village ausgekannt. Im Gegensatz zu dem klaren, durchnumerierten Raster, mit dem die Gründerväter Manhattan weiter oben im Norden geprägt hatten, war das Gebiet hier ein Wirrwarr enger, beliebig ausgerichteter und sonderbar benannter Straßen – anheimelnd und voller Charme, aber so angelegt, daß man sich unmöglich zurechtfinden konnte. Er fuhr hin und her, zurück und wieder voran, fest entschlossen, nicht anzuhalten und Leute um Rat zu fragen. Endlich fand er sie. Die Vanzant Street: eine malerische Straßenzeile mit dreigeschossigen Häusern aus braunem Sandstein und runden Erkern an der Vorderseite. Der Verkehr war auf eine Fahrspur in einer Richtung beschränkt, und die Autos parkten in dichter Reihe.

Er fuhr langsam weiter und beugte sich vor, um die Hausnummern zu entziffern. Die Häuser waren vermutlich gerade mal hundert Jahre alt, was im Vergleich zu einem Großteil des Village noch kein Alter war. Es waren Reihenhäuser, typisch für ihre Zeit, alle miteinander verbunden und völlig gleich, so daß sie sich von einem Ende des Blocks bis zum anderen in einer einheitlichen Fassade wiederholten, jedes einzelne mit Steinstufen, die vom Gehsteig zum Hauseingang führten. Nummer 44 lag in der Mitte. Ein Feuerwehrhydrant saß direkt vor dem Haus. »Parkpumpen« nannte Alex die Dinger. Obwohl es verboten war, hielt er neben dem Hydranten an, da er ja schon innerhalb von Minuten wieder loszufahren gedachte. Schließlich war es bereits nach fünf. Alex wartete vermutlich direkt hinter der Tür auf ihn. Mit einem plötzlich aufwallenden Gefühl der Vorfreude sprang er aufgeregt und erwartungsvoll die Stufen hinauf, je zwei auf einmal. Dies war die längste Zeit, die sie beide bisher voneinander getrennt gewesen waren.

Es gab weder eine Klingel noch einen Türklopfer. Lediglich eine Gegensprechanlage. Er drückte auf die Taste, wartete dann ab. Ein Wagen fuhr vorüber. Ein Dalmatiner zerrte seinen Besitzer vorbei. Behr trat von einem Bein aufs andere. Vom Trottoir aus hatte die Haustür wie eine Originaltür ausgesehen, doch bei genauerer Betrachtung stellte sich heraus, daß sie nicht nur eine Kopie war, sondern eine stilgerechte Ersatztür, die in Wirklichkeit aus einer geschickt getarnten Sicherheitstür mit einer Stahlummantelung bestand. Er starrte auf die stumme Sprechanlage, blickte dann nach oben und entdeckte das winzige Auge einer Überwachungskamera, das auf ihn gerichtet war. Da war jemand offenbar sehr auf seine Sicherheit bedacht, aber schließlich traf das auf viele New Yorker zu. Er gab der Taste der Sprechanlage erneut einen Schubs. Ein zweites Mal. Dreimal. Noch immer keine Reaktion. Er beugte sich nahe an den stummen Lautsprecher heran.

»Entschuldigen Sie ... hier ist Dan Behr, und ich bin da, um meine Frau abzuholen, Alexandra.« Das schwache Rauschen elektrischer Kontakte summte in dem Tonkanal, und er wußte, daß die Anlage angestellt war.

»Hallo? Kann mich irgendwer hören?«

Nichts.

Er trat einen Schritt zurück, zog ihre Notiz aus seiner Hosentasche und überprüfte die Adresse – »44 Vanzant«. Die Vieren hätten ebensogut Neunen sein können, aber als er an der Straße entlangschaute, gab es keine 99. Er drückte aufs neue auf die Taste, ohne Resonanz. Schließlich ging er die Stufen wieder hinunter und fand sich damit ab, zu warten. Es war ja nicht das erste Mal, daß er auf sie wartete, und er war überzeugt, daß es auch nicht das letzte Mal sein würde. Er lehnte sich an den Kotflügel seines Wagens und ließ den Blick über die ununterbrochene Häuserreihe schweifen. Waren sie auch nicht zur Prachtentfaltung errichtet worden, so hatten ihre Fassaden doch eine Anmut und Würde, die noch immer fortbestanden. Er freute sich, feststellen zu können, daß sie gut instand gehalten wurden. Der Häufigkeit der Blumenkästen an den Fenstern und den restaurierten Fassadendetails nach zu schließen hatten die Gebäude stolze, wertbewußte Bewohner. Zweifellos standen die Fassaden unter Denkmalschutz. Oder zumindest hoffte er das. Er fragte sich, wie es wohl im Inneren stand. Wie viele der Häuser waren wohl in winzige Mieteinheiten aufgeteilt worden?

Ein Regentropfen fiel ihm auf die Hand. Er blickte mit zusammengekniffenen Augen zum bedeckten Himmel hoch und hoffte, Alex möge bald erscheinen, damit sie, noch bevor sich der drohende Regenguß entlud, ein Restaurant erreichen konnten. Im Wagen war kein Regenschirm. Er warf einen Blick auf die Uhr, die Alex ihm zum Geburtstag geschenkt hatte, schaute wieder hoch und begriff, daß die Nummer 44 das einzige Gebäude in der ganzen Häuserzeile war, das bar jeden Schmucks war – keine Stauden in Pflanzkübeln, keine Blumentöpfe oder hübsch lackierte Geländer. Nicht einmal ein Briefkasten. Und ihm fiel auf, daß die Nummer 44 innerhalb des ganzen Blocks das einzige Haus mit Sicherheitsgittern an allen Fenstern war, sogar noch an denen im zweiten Stock. Ein ungutes Gefühl wand sich durch sein Innerstes, aber er schenkte ihm keine Beachtung.

Ein regulärer Parkplatz wurde frei, und er fuhr seinen Wagen hinüber, obwohl es vermutlich nur Zeitverschwendung war, da Alex doch bestimmt jede Minute auftauchen würde. Diese Sache mußte bald zu Ende sein. Die Zeit zum Abendessen rückte näher, und die Leute hatten schließlich Verpflichtungen und eigene Pläne. Er dachte daran, wie lange es her war, seit er mit seiner Frau in einem Restaurant gepflegt zu Abend gegessen hatte. Insbesondere in Manhattan.

Weitere zehn Minuten verstrichen, und er ging wieder die Stufen hinauf und betätigte erneut die Sprechanlage. Nichts. Er seufzte verärgert, drückte dann mehrere Sekunden lang ununterbrochen auf die Taste.

Vielleicht waren sie einfach nur mit den Aktivitäten bei ihrem Workshop in Verzug geraten, vorausgesetzt, daß es bei solch einem Treffen überhaupt Aktivitäten gab. Oder vielleicht hatte sie ihm die falsche Zeit genannt. Er wandte sich vom Eingang ab und betrachtete prüfend die Häuserreihe. Vielleicht war das ja gar nicht das richtige Haus. Oder die richtige Straße. Er wünschte sich, er hätte einfach zu einem öffentlichen Telefon gehen und anrufen können, aber er hatte keine Nummer. Sie hatte ihm gesagt, die Nummer stehe nicht im Telefonbuch, es sei eine Geheimnummer, damit die Ruhe der Versammlung nicht gestört werde. Er mußte eben schlicht warten. Sobald Alex fertig war, kam sie vermutlich heraus, um nach ihm Ausschau zu halten.

Langsam schritt er wieder die Treppe hinunter. Vielleicht konnten ihm irgendwelche Nachbarn sagen, ob die Nummer 44 das richtige Haus war, aber in Manhattan bei fremden Leuten an der Haustür zu klingeln, dazu war er nicht bereit. Der Regen setzte ein, leicht, aber beständig, und Dan lief im Eiltempo zu seinem Wagen hinüber und schlüpfte hinter das Steuerrad. Er stellte das Radio an. Nur die Mittelwelle funktionierte, und die Knöpfe für spezielle Sendebereiche klemmten, daher mußte er mit dem Sucher nach einzelnen Kanälen stöbern. Das brachte ihn nicht aus der Ruhe, ging aber Alex generell gegen den Strich. Ihr war das Radio wichtiger als der allgemeine Zustand des Fahrzeugs.

Er spielte die verschiedenen Sender auf der Skala durch, stieß auf Fetzen Spanisch und Country-Musik, auf zornige Stimmen von Talkshows und kurzgefaßte Zwischennachrichten, bis er endlich den öffentlichen Rundfunksender fand, den er am liebsten hatte. Er spähte genauer auf die numerierte Anzeige. Der Sender lag auf 820. Warum konnte er sich das einfach nie merken?

Das Nachmittagsprogramm präsentierte einen Mann, der soeben erläuterte, die Mitglieder des Ku-Klux-Klan und der »Arischen Nationen« seien nicht etwa verschwunden. Sie hätten sich schlicht in andere Gruppen und Sekten, die heutzutage aktiv seien, integriert. Dan lauschte einige Minuten lang, aber die Tatsachen waren beunruhigend, und die Umstände schienen von seinem eigenen Leben so weit entfernt zu sein, daß sie ohne Bedeutung waren. Er stellte das Radio ab und blickte auf die Uhr. Fünfzehn Minuten waren vergangen. Er beschloß, noch fünf Minuten länger zu warten und dann erneut die Sprechanlage auszuprobieren. Was für eine Zeitvergeudung. Er hätte eine ganze Stunde länger im Büro bleiben können. Statt dessen saß er hier im Wagen fest, ohne Platz, um es sich bequem zu machen und zu arbeiten oder irgend etwas Sinnvolles tun zu können. Nicht einmal eine Zeitung zum Lesen hatte er.

Er knipste das Deckenlicht an und öffnete das Handschuhfach, um dort herumzusuchen. Unter Straßenkarten und allerlei Dingen vergraben lag ein Umschlag mit Fotos. Lächelnd betrachtete er Hana in einer Stellung nach der anderen, wie sie an Blumen roch, einen Ballon hielt, Karussell fuhr und dabei ihr süßes ernsthaftes Gesicht stets pflichtschuldigst der Kamera zuwandte. Dann tauchte plötzlich ein Foto von Alex auf, die gerade Hanas Kleidchen glattstrich und dabei wie üblich drohend über die Schulter blickte und zu verstehen gab: »Verschon mich bloß mit diesem Ding.« Und ihm fiel wieder ein, daß er diesen Stapel Bilder im Wagen versteckt hatte, um Alex daran zu hindern, daß sie ein ganz spezielles davon wegwarf.

Ein Gefühl von Erregung verdichtete sich zu einem kleinen Knoten in seiner Brust, während er auf der Suche nach dem Bild durch den Stapel blätterte und sich dabei daran erinnerte, daß er vorgehabt hatte, es vergrößern und einrahmen zu lassen, um es ins Büro mitzunehmen, und nun auch wieder jede Einzelheit auf dem Foto vor sich sah – und daran dachte, wie umwerfend es doch war. Und trotzdem, obwohl er genau wußte, was ihn erwartete, war er hingerissen, als er das Bild endlich fand. Bis ins Mark von ihrem Abbild getroffen. Er machte einen tiefen Atemzug und hielt die Fotografie hoch.

Dank eines Wunders an Timing war es ihm gelungen, diesen einen Schnappschuß zu ergaunern, während ihre Aufmerksamkeit auf Hana gerichtet war. Ihr Gesichtsausdruck war ganz natürlich und weder von angespannter Resignation noch von Verdruß darüber gezeichnet, daß sie das Ziel seines Objektivs war. Diese zufällige Aufnahme fing sie für ihn auf vollendete Weise ein. Ihre Widersprüche. Das Hoffnungsvolle hinter der sorglosen, herausfordernden Körperhaltung. Die Verwundbarkeit hinter der Selbstsicherheit. Die schillernde Wildheit, die wie ein dunkler Sog ihr Inneres durchströmte. Aber das Foto bewerkstelligte noch mehr, als ihr Naturell zu offenbaren. Er hielt das Bild ans Licht und wußte nun wieder, weshalb er es doch noch nicht ins Büro mitgenommen hatte: Nach seiner anfänglichen Begeisterung hatte das Foto ihn zunehmend verstört.

Durch das sanft von der Seite her einfallende Sonnenlicht wirkten ihre fast zu ausgeprägten Wangenknochen auf dem Papier weicher und wurde ihre anmutige, aber nicht makellose Haut in die Reinheit von honigartigem Samt verwandelt. Ihr dunkelrotes Haar schimmerte wie altes poliertes Mahagoni. Das Grüngold ihrer Augen wirkte magnetisch. Mittels der Alchemie von Objektiv und Licht sah sie so atemberaubend aus, daß es ihm Schmerzen im Brustkorb verursachte. So atemberaubend, daß ihr wirkliches Dasein als leibhaftiger Mensch hinweggefegt wurde. Sie war nicht einfach nur wunderschön. Das wäre eine zu blasse Beschreibung von ihr gewesen. Sie war ... umwerfend. Sie war ein Blitzschlag.

Während er dort unter dem schwachen Licht im Wagen saß, dachte er darüber nach, warum ihn das Foto eigentlich beunruhigte.

Es gemahnte ihn daran, daß seine Frau, die er liebte und von Herzen schätzte, die Person, mit der er aß und die Wäsche sortierte und die er jede Nacht an sich drückte, nicht nur seine Ehefrau und Partnerin und Gefährtin war. Nicht nur eine hingebungsvolle Mutter und ein neues Mitglied im Elternverein der Schule. Sie war eine Frau, der eine niederschmetternde, mitreißende Schönheit eigen war. Eine Frau, die verführerisch und unwiderstehlich auf andere wirkte, ob sie das nun wollte oder nicht. Eine Frau, die schon ihr ganzes Leben lang von ihrer Schönheit verfolgt wurde. Und er begriff, daß ein solches Bild einzurahmen und auf dem Regal im Büro zur Schau zu stellen ein Verrat an all dem gewesen wäre, was sie gemeinsam besaßen und was sie einander bedeuteten. Crispin und Medford hätten es ständig angegafft. Gelegentliche Besucher hätten Kommentare darüber abgegeben. Und in gewisser Weise wäre eine Darbietung dieser speziellen Aufnahme, wenn er genausogut andere weniger aufregende Schnappschüsse von Alex und Hana hätte aussuchen können, Medfords ständigem Angeben mit seinem Mercedes-Schlüssel gleichgekommen. Es hätte Alex wie eine Trophäe erscheinen lassen.

Er drehte das Foto mit dem Bild nach unten und stopfte es in das Kuvert zurück.

Nein. Er würde das Foto nie einrahmen. Aber er durfte auch nicht zulassen, daß sie das Bild in Fetzen riß. Das Handschuhfach war der perfekte Platz dafür.

Er drehte sich zur Seite, um wieder einen Blick auf das Haus Nummer 44 zu werfen. Was eigentlich trieben die Leute überhaupt auf so einem Treffen? Was hatte sie in diesem Gebäude das ganze Wochenende über gemacht?

Als die Zeiger seiner Uhr auf halb sieben vorrückten, platzte ihm endgültig die Geduld. Energisch stieg er aus seinem Auto aus und trabte erneut die Treppe hinauf, um die Taste der Gegensprechanlage zu betätigen. Das dunkle Auge der Überwachungskamera stierte ihn an, während er wartete. Er drückte wiederum auf die Taste. Und noch einmal. Legte kurze Pausen zwischen den einzelnen Versuchen ein. Zum achten Mal. Zwölfmal. Achtzehnmal.

Unvermutet ertönte ein scharfes Knistern.

»Hören Sie auf zu läuten!« brüllte eine Stimme.

Erschreckt wich er zurück. »Entschuldigung«, sagte er. Dann, wieder nah an das Sprechfeld gebeugt: »Das ist doch das Haus, in dem die Wochenend-Workshops stattfinden, oder?«

»Wenn Sie uns weiterhin belästigen, holen wir die Polizei!«

»Nein! Bitte ... Sie verstehn mich nicht richtig. Ich sollte meine Frau von einem Workshop abholen. Um fünf Uhr. Wenn ich hier nicht richtig bin, dann sagen Sie’s doch einfach.«

»Verschwinden Sie von der Haustür, und verlassen Sie das Grundstück! Sofort.«

Dan starrte wie vor den Kopf geschlagen auf die Gegensprechanlage. War seine Frau nun dort drinnen oder nicht? Wieso war dieser Mensch so feindselig? Was zum Teufel ging hier vor sich?

Gestohlene Seelen

Подняться наверх