Читать книгу Peter Gabriel - Die exklusive Biografie - Daryl Easlea - Страница 13
Оглавление„Unstet, unausgegoren und manchmal richtig öde. Wirklich nur etwas für die fanatischsten Genesis-Jünger.“
– Rezension von Trespass, Rolling Stone, 1974
Als ihr Debüt für Charisma unter dem Titel Trespass am 23. Oktober 1970 veröffentlicht wurde, bestand immer noch keine Klarheit in Bezug auf die künftige Besetzung. Zwar war das Album gerade einmal vier Monate zuvor aufgenommen worden, aber es schien mittlerweile so, als wäre das in einem anderen Leben gewesen. Mit seinen nur sechs Tracks, von denen der kürzeste knapp über vier Minuten lang war, verkörperte das Album die neue Vision der Band von getragenem Progressive Rock. Als Peter „Looking For Someone“ sang, war das der Beginn seiner Karriere, wie wir sie heute kennen.
„Looking for someone“ waren auch die ersten Wörter, die man auf diesem ersten ordentlichen Album der Band zu hören bekam. Gabriels Stimme intonierte sie mit gefühlvoller Stimme und einem leichten Beben im Gesang, womit der Kurs für die folgenden vierzig Jahre und mehr gesetzt war. Ursprünglich stammte der Song aus Gabriels Feder. Später feilte die gesamte Band daran und Anthony Phillips übernahm den Gesang im Refrain. „Looking For Someone“ wies alle Merkmale des zukünftigen Genesis-Sounds auf, vor allem die lange instrumentale Passage, von denen sich viele in ihren besten Arbeiten der Siebzigerjahre finden würden.
Das Intro zu „White Mountain“ klang nicht unähnlich dem, was ein paar Pauschaltouristen nur ein paar Jahre später von einer Balearen-Insel mitbringen würden, und war außerdem eine kleine Hommage an „Those Were The Days“ von Mary Hopkin. Der inoffizielle Titeltrack des Albums hatte einen von der Hammond-Orgel geprägten Refrain, der schließlich in das Zusammenspiel zweier zwölfsaitiger Gitarren überging, was schon bald zu einer Art Markenzeichen werden würde. Gabriels Pfeifen nach fünfeinhalb Minuten kam unerwartet und vermittelte das Feeling von Krimi-Begleitmusik.
„Visions Of Angels“, großteils von Phillips geschrieben, ist ein Überbleibsel von From Genesis To Revelation. Dieser zarte Popsong mitsamt seinem wehmütigen Piano-Riff und dem effektbeladenen Gesang Gabriels zeichnet sich vor allem durch eine der besten Arbeiten von Banks an der Hammond-Orgel aus, bevor die Nummer schließlich in einem frühen Einsatz des Mellotrons ihren Höhepunkt findet.
Der Schlusspart von „Stagnation“ gibt wieder einen Hinweis auf einen großen Teil der Zukunft der Band. Der Wechsel in Dur nach sechs Minuten verleiht dem Song eine triumphale Note, bis er durch ein kurzes Zwischenspiel Gabriels auf der Flöte kurz innehält, um dann in ein Outro überzugehen, das die Band in ihre Liveshow einbaute und letztlich auch für den Schluss ihrer Single von 1973, „I Know What I Like (In Your Wardrobe)“, wiederverwenden sollte. Gabriel beschrieb „Stagnation“ als ein „Reiselied“, das sich abseits vom üblichen Format von Strophe und Refrain bewegte. „Dusk“ wiederum bietet ein hübsches Intermezzo, das am ehesten an Crosby, Stills & Nash erinnert, und ist aus einem Song namens „Family“ hervorgegangen, der aus dem Christmas Cottage stammte und fester Bestandteil der frühen Gigs gewesen war.
Obwohl erst in letzter Minute zum Album hinzugefügt, sollte „The Knife“ Genesis endgültig auf Kurs bringen. Für die Musik des Stücks, das von Gabriel und Banks stammte, waren The Nice Pate gestanden – tatsächlich war „The Nice“ sogar der Arbeitstitel gewesen. Keith Emersons Angewohnheit, auf der Bühne Dolche auf seine Hammond-Orgel zu werfen, hinterließ bei Gabriel und Banks einen tiefen Eindruck. Mit seinem mitreißenden Beat wurde „The Knife“ zu einer beliebten Live-Nummer, die in den kommenden fünf Jahren regelmäßig zum Einsatz kommen würde. Im Vergleich zu den restlichen Nummern geradezu aggressiv, sind die Lyrics des Songs von Gabriels Bewunderung für Mahatma Gandhi geprägt: „Die Lyrics zu ‚The Knife‘ drücken teilweise meine Rebellion gegen meinen sozialen Hintergrund als Privatschüler aus“, sagte Gabriel in den Siebzigern. „Ich war schwer beeinflusst von einem Buch über Gandhi, das ich in der Schule gelesen hatte. Ich denke, es war mitverantwortlich dafür, dass ich einerseits Vegetarier wurde und andererseits an gewaltlosen Widerstand als Form des Protests zu glauben begann. Außerdem wollte ich versuchen auszudrücken, dass alle gewaltsamen Revolutionen letztlich einem Diktator zur Macht verhelfen.“ Stratton-Smith erkannte in dem Song ein sonderbares kommerzielles Potenzial und veranlasste, dass er im Mai 1971 als Single (CB 101) ausgekoppelt wurde. Sie verkaufte sich ursprünglich zwar praktisch überhaupt nicht, wurde jedoch im Verlauf der Zeit zu einem der größten Genesis/Gabriel-Sammlerstücke.
Die sechs Tracks von Trespass nahmen das Territorium in Beschlag, auf dem Genesis sich während des ersten Jahrzehnts ihrer Karriere bewegen würden. Obwohl es wenig Beachtung unter den Arbeiten von Genesis und Peter Gabriel findet, ist Trespass ein außergewöhnlich gutes Album und das Resultat monatelanger intensiver Proben. Laut Rutherford ist es außerdem das einzige Album der Gruppe, an dem alle Mitglieder beim Aufnahmeprozess in gleichem Maße beteiligt waren – im Gegensatz zu vorher und nachher, als Songs oft in Paararbeit entstanden. Angesichts der Tatsache, dass die Bandmitglieder sich gerade einmal in ihren frühen Zwanzigern befanden, klang die LP sehr reif und versiert. Die nicht sehr zahlreichen Rezensionen waren zumindest in Großbritannien zögerlich positiv. Als das Album 1974 in Amerika herauskam, brachte Rolling Stone die Diskrepanz zwischen der amerikanischen und britischen Herangehensweise an die Gruppe ungewollt auf den Punkt: „Aufgenommen, lange bevor die Band ihr Handwerk beherrscht … Unstet, unausgegoren und manchmal richtig öde. Wirklich nur etwas für die fanatischsten Genesis-Jünger.“ Es war klar, dass es sich hier nicht um Musik handelte, die sich mit ihrer Bezugnahme auf die Klassik und der wunderlichen Wahl des Takts leicht definieren ließ.
Peter Gabriel war damals schon besessen von Details und der genauen Optik einer Veröffentlichung. Tony Stratton-Smith hatte der Band Paul Whitehead, einen Grafikdesigner, den er durch John Anthony kannte, vorgestellt. Whitehead, einer der Gründer sowie der Art-Director der Londoner Ausgabe des Veranstaltungsmagazins Time Out, begann zunächst für Van Der Graaf Generator und in weiterer Folge für Genesis Artwork zu designen. Seine drei Albumcovers, die er für Genesis entwarf, sind legendär. „Für Genesis wurde ich zu so etwas wie einem ‚Art-Director‘“, erzählte er 1997 Jim Christopulos. „Ich lernte sie kennen und im Laufe der Zeit stellte ich ihnen verschiedene Künstler, unterschiedliche Stile und Bücher vor. Jedes Mal, wenn ich sie traf, hatte ich einen Stapel Bücher dabei und sagte: ‚Seht auch das an, ist das nicht hübsch?‘“ Nachdem er von der Gruppe mit der Gestaltung der Plattenhülle zu Trespass betraut worden war, entwarf Whitehead ein schmuckvolles, beinahe mittelalterlich anmutendes Design – ein Paar, das vor einem mit Säulen verzierten Fenster steht und den Blick über ein gebirgiges Panorama schweifen lässt. Aber durch „The Knife“ hatte sich die allgemeine Stimmung des Albums bedeutend geändert, was in Gabriel den Wunsch aufkeimen ließ, das Artwork entsprechend abzuändern. Whitehead reagierte mit einer schnellen, effektiven wie denkwürdigen Lösung. Er schlitzte die Leinwand mit einem Dolch auf und ließ ihn stecken, wie man auf der Rückseite des Gatefold-Covers gut erkennen kann. Der künstlerische Ansatz ist eindrucksvoll und fasste die Bedrohung, die sich hinter Genesis’ idyllischer Fassade verbarg, gut zusammen. Obwohl das Album in Großbritannien deutlich hinter den Verkaufserwartungen zurückblieb, bewertete es Gabriel im Rahmen seiner Neuveröffentlichung im Jahr 2007 wie folgt: „Ich denke, es war ein guter Start … es war die erste Sache, durch die wir uns abhoben.“
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Im selben Monat Ende 1970, in dem er sich mit Jill Moore verlobte, sah Peter Gabriel eine Kleinanzeige im Melody Maker: „Ideenreicher Gitarrist/Songwriter sucht Zusammenarbeit mit aufgeschlossenen Musikern, die gewillt sind, sich auch abseits der Stagnation der üblichen Musikformen zu betätigen.“ Der in Pimlico wohnende Gitarrist Steve Hackett hatte die Annonce in Auftrag gegeben.
Hacketts Working-Class-Background war ein ganz anderer als der der Kernmitglieder, die sich an der Charterhouse-Privatschule kennengelernt hatten. Er, ein stiller und lernbegieriger Junge, wollte, seit er 16 war, in einer Band spielen und hatte sich, gleichermaßen beeinflusst von Blues und Beat sowie Bach und dem Barock, das Spielen autodidaktisch beigebracht. Nun suchte er nach einer Möglichkeit, seine musikalischen Vorlieben zu kombinieren. Zuvor hatte er bereits in den Bands Sarabande, Steel Pier und Canterbury Glass mitgewirkt. Seit einem Jahr gab er nun Anzeigen im Melody Maker auf. Zunächst hatte er sich der quasi-religiösen Formation Quiet World angeschlossen, die bei Pye unter Vertag stand und vom südafrikanischen Brüder-Trio John, Lea und Neil Heather angeführt wurde. Als diese Kollaboration allerdings zu nichts führte, gab Hackett seine Anzeige erneut auf.
Gabriel rief Hackett an, und als er herausfand, dass dem Gitarristen Genesis unbekannt waren, empfahl er ihm, sich Trespass anzuhören, wobei er vor allem auf „Stagnation“ verwies – er sah in diesem Track das beste Beispiel für die von ihm angestrebte musikalische Ausrichtung. Hackett verspürte eine gewisse Synchronität, da sowohl er als auch Gabriel das Wort „Stagnation“ gebrauchten.
Hackett und sein jüngerer Bruder John – beide ebenso glühende Anhänger von King Crimson – hörten sich Trespass an. Hackett fand es „interessant“. Banks und Gabriel organisierten ein Vorspielen in der Wohnung der Hacketts in Victoria, London, weit weg von den grünen Landstrichen Surreys. Hackett und sein Bruder spielten ein Duett mit Gitarre und Flöte, was dazu führte, dass ihm der Posten angeboten wurde. Gabriel sagte zu ihm: „Wenn du bei uns einsteigst, schließt du dich einem Kollektiv von Songwritern an.“
„Ich weiß noch, dass Pete das Reden übernommen hat“, erinnert sich Hackett 2013 an das Treffen. „Tony wirkte nachdenklich. Ich spielte ihnen drei verschiedene Musikrichtungen mit meinem Bruder John an der Flöte und Gitarre vor – getragen idyllisch, dann atonal und abschließend bluesig. Zwischendurch wechselte ich schnell an die Mundharmonika. Pete gefiel eher die melodische, idyllische Musik. Wir beide liebten zwölfsaitige Gitarren.“
Um zu demonstrieren, wie gern sie auftreten wollten, spielten Genesis am 16. Dezember dieses Jahres 1970 ein besonderes Konzert an der Aylesbury Grammar School: „Jedes Jahr an Weihnachten gab es eine Tanzveranstaltung für die Sechstklässler der Schule, die von einem Lehrer namens Robin Pike mit Hilfe von David Stopps auf die Beine gestellt wurde“, erinnert sich Kris Needs. „1969 demolierten Mott die Halle und verwirrten die feinen Pinkel. 1970 traten Genesis mit dem Rückenwind der Auftritte im Friars auf. Noch weiter weg von einer Schultanzband wäre gar nicht gegangen, aber sie begeisterten das Publikum so sehr, dass sich die meisten für die erste Hälfte des Sets sogar hinsetzten. Die Kulisse einer Schulaula brachte den Geschichtenerzähler in Gabriel noch mehr zu Tage. Ein paar der größten Fans aus dem Friars hatten sich ebenfalls hineingeschmuggelt, was zum interessanten Ambiente noch zusätzlich beitrug. Ich glaube, David hatte sie für 30 Pfund hereingelassen. Es war ein großer Erfolg. Gerappelt voll und die Band in guter Form.“
Um die Festtage abzurunden, spielten Genesis am 28. Dezember 1970 noch im Lyceum. Es war eine der letzten Show mit Mick Barnard als Gastgitarristen. Hackett befand sich im Publikum und schloss sich der Band kurze Zeit später als Vollzeit-Gitarrist an. Gabriel erzählte ZigZag im Mai 1971: „Wir haben in den letzten Monaten mit zwei neuen Leadgitarristen gespielt und mussten sehr viel proben, aber der Letztere ist nun fest bei uns, wie wir hoffen … Wir haben ihn durch eine Anzeige im Melody Maker gefunden und er scheint gut zu uns zu passen.“
Hackett wurde vielleicht nie im selben Maße wie Phillips respektiert, aber er trug einiges dazu bei, den Sound von Genesis mitzuformen.
Mit der Zeit sollte er die Zuneigung aller Bandmitglieder gewinnen. Die ersten paar Proben fand Hackett allerdings sowohl verwirrend als auch amüsant: „Sie hatten definitiv eine eigene Sprache“, erzählte er dem Genesis-Biografen Alan Hewitt. „Irgendetwas zwischen Venusianisch, Vulcanisch und Charterhouse-Kauderwelsch. Ich wusste nicht, wovon sie sprachen. Alles, was ich wusste, war, dass ich die Struktur der Musik sehr interessant fand.“ Sein anfängliches Lampenfieber sowie seine mangelnde Bühnenerfahrung zwangen ihn, sich beim Spielen hinzusetzen. Nach ihrem ersten größeren gemeinsamen Auftritt im Lyceum im Januar 1971 musste Richard Macphail ihm von der Bühne helfen, als er nach Ende des Gigs immer noch dort saß. „Steve fokussierte sich so sehr auf die zwei Fehler, die er gemacht hatte“, gab Macphail an, „dass er, als die Show vorüber war, nicht wusste, was er tun sollte, also half ich ihm runter. Es war der Beginn einer goldenen Ära.“
Während Hackett langsam Anschluss fand und Collins’ Präsenz dringend benötigte Auflockerung brachte, machte sich die Band wieder auf den Weg, um zu touren. „Phils Bodenständigkeit glich den Charterhouse-Aspekt ein wenig aus“, sagt Hackett. „Als sie mich erst einmal akzeptiert hatten, wurde ich eingeladen, die Nacht im Haus von Petes Eltern zu verbringen, wo wir uns gegenseitig unsere Lieblingsplatten vorspielten. Damit half mir Pete, mich zu entspannen. Obwohl er auf der Privatschule war, wirkte er nicht so, und es herrschte ein Gefühl gegenseitigen Verständnisses. Er war warmherzig.“ Hackett war genau einen Tag älter als Gabriel, was nicht das einzige war, das die beiden verband: „Wir liebten den Blues und Nina Simone. Wir hatten auch einen ähnlichen Humor. Wir wollten beide experimentieren und neue Wege gehen.“
1970 war ein turbulentes Jahr gewesen, das in Ant Phillips’ Abschied seinen Höhepunkt gefunden hatte. „John Mayhew wurde in die Wüste geschickt und statt ihm stieß Phil dazu“, fasst Macphail zusammen. „Dann kam Steve und die klassische Genesis-Besetzung war komplett. Es ist absolut wahr, dass Tony und Peter das Herz und die Seele der Band waren, aber das soll nicht den großen Beitrag, den die anderen leisteten, schmälern. Die meisten Bands hatten einen oder zwei Songwriter, aber hier schrieben alle Songs.“
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Paul Conroy fing an, eine größere Rolle bei den Engagements der Bands zu spielen: „Man konnte sehen, dass sie diese Anhängerschaft hatten, aber sie erweckten nur in den Countys um London wirklich Interesse, weshalb ich ihr Agent wurde. Charisma war der Meinung, dass Terry King Agency keinen guten Job machte. Sie mochten aber mich und wollten eine eigene Agentur starten, also gründeten wir Charisma Artists.“
Conroy musste die Charisma-Acts, die er nun betreute, genau unter die Lupe nehmen: „Van Der Graaf Generator waren inzwischen den anderen einen Schritt voraus und Strat war besonders angetan von den Midnight Courts, die jede Donnerstagnacht stattfanden.“
Die Midnight Courts waren eine Serie von spätabendlichen Konzerten in London, die einen anarchischen Spirit und ein abwechslungsreiches Programm für nachtschwärmerische Bohemiens boten. Ganz in diesem Sinne wurde ein Plan aufgestellt, der zu einer von Stratton-Smiths legendärsten Unternehmungen führen sollte: die „Six Bob“ Tour. Drei von Charismas Aushängeschildern – Van Der Graaf Generator, Lindisfarne und Genesis sollten gemeinsam durchs Land tingeln, wobei man von der Währungsreform vom 15. Februar 1971 profitieren wollte und der Eintritt jeweils nur 30 neuerdings dezimalisierte Pence („six bob“ = sechs alte englische Schillinge) betragen sollte. „Wir hatten diese Idee einer Tour mit mehreren Bands“, sagte Conroy. „Mit Ausnahme der Konzerte in den Countys um London, stand es außer Frage, dass Genesis als erste Band des Abends spielen würden. Ich denke, dass ihnen das gefiel, weil sie so zu ihrem Soundcheck kamen und dann niemand mehr ihre Ausrüstung umstellen würde. Es wurde ihr echter Durchbruch.“
Unter den Bands entwickelte sich eine Sitzordnung. Rod Clements von Lindisfarne sagte dazu in einer Doku über die Tour: „Zu Beginn der Tour waren Van Der Graaf Generator ganz hinten im Bus und widmeten sich allerhand exotischen Beschäftigungen, die uns bis dahin völlig unbekannt gewesen waren. Genesis belegten mit ein paar Flaschen Sherry und Mineralwasser die vorderen Sitze und fotografierten mit ihren Fotoapparaten die Landschaft und emporragende Kirchtürme.“ Damit blieb die Mitte des Busses für Lindisfarne, die zu diesem Zeitpunkt so etwas wie die Popstars des Labels waren. Es entwickelte sich eine Kameradschaft zwischen den beiden Acts. „Die Tour war ein großartiges Beispiel für Strats Ideenreichtum“, meint Mike Rutherford. „Wir hatten Glück, mit ihm zu arbeiten. Es machte viel Spaß, obwohl wir ohne Frage das Nachwuchsteam waren.“
In Hacketts Augen war die Tour eine Feuertaufe. Er sah das Ganze so: „Wenn man über die Bedeutung des Universums reden wollte, dann unterhielt man sich mit Van Der Graaf Generator. Wenn man zu Mittag einen heben wollte, dann wandte man sich an Lindisfarne, um mit ihnen über die Vorzüge von Guinness gegenüber Newcastle Brown Ale zu diskutieren.“ Genesis lernten ihr Handwerk im Laufe dieser Tour, wobei Gabriel die Mitte zwischen den gutgelaunten Lindisfarne und der anspruchsvollen Musik von Van der Graaf Generator für sich in Anspruch nahm. Nachdem Mike Rutherford Van Der Graaf Generator beobachtet hatte, schlug er vor, dass Genesis ihr Set strukturieren sollten, indem sie das Gegenteil von Van Der Graaf Generator machten, die ihre lauten und ihre leisen Nummern jeweils zu Blöcken bündelten.
Richard Macphail spürte, dass die Band in dieser Phase mehr Beistand benötigte: „Die meisten Bands haben einen Manager und eine Plattenfirma, woraus sich dann eine Art Dreiecksbeziehung ergab. Aber Strat übernahm beide Rollen. Ich fragte ihn, wie es ihm damit erginge. Mir fiel auf, dass die Leute dachten, dass ich gerne der Manager wäre, aber das war nie mein Ziel gewesen. Was auch immer in dieser Dynamik gefehlt haben mochte, Strat machte es auf so viele andere Arten wett. Wie mit der Sechs-Schilling-Tour. Genesis konnten in all diesen Locations auftreten. Der Eintritt war erschwinglich und die Bude voll. Es passte wie die Faust aufs Auge. Lindisfarne kippten literweise Newcastle Brown Ale. Da Genesis aber sehr viele technisch anspruchsvolle Sachen im Programm hatten, war es unmöglich, betrunken oder high auf die Bühne zu gehen.“
Genesis waren relativ unbekannt, was hieß, dass sie wenig zu verlieren hatten. Freundschaften bildeten sich und Gabriel verstand sich besonders gut mit Rod Clements von Lindisfarne sowie Peter Hammill von Van Der Graaf Generator. Hammill und Gabriels Wege würden sich im Verlauf ihrer Karrieren immer wieder kreuzen. Hammill sagt: „Genesis waren von Anfang an eine eingespielte Band. Viele ihrer Sachen waren sehr eindrucksvoll. Aber natürlich waren wir auch Konkurrenten, was hieß, dass wir jeweils mehr auf uns als auf die anderen achteten.“ Paul Conroy ergänzt: „Ich liebte alle drei Bands auf unterschiedliche Weise. Überall nördlich von Sheffield waren Lindisfarne die große Nummer. Südlich davon und in den Midlands waren Van Der Graaf Generator angesagt, wohingegen die Countys um London das Revier von Genesis waren. In der Regel spielten Lindisfarne zum Schluss, weil sie am ehesten die Publikumsrenner waren.“ „Die Six-Bob-Tour war wirklich wie ein schräger Betriebsausflug“, fügt Hammill noch hinzu.
„Ich muss zugeben, dass ich mein Geld am ehesten auf Lindisfarne gesetzt hätte“, sagt Chris Charlesworth, der im Februar 1971 von Charisma nach Brighton kutschiert wurde, um von der Tour zu berichten. „Lindisfarne waren auf Anhieb erfolgreich, viel mehr als Genesis. Sie waren die Stars des Labels, was an Alan Hulls Songwriting lag. Genesis hingegen wirkten, als würden sie für immer eine Nischenband bleiben. Ich hielt sie für mürrisch. Mein Kollege Chris Welch war eigentlich derjenige, der sie unterstützte. Anfangs stand er ziemlich alleine. Er mochte ihre langen, behäbigen Songs, die auf ihren frühen Charisma-Alben erschienen und live immer von Peter Gabriels surrealistischen Ansagen eingeleitet wurden. Sie hatten nicht dieselbe Power wie meine Lieblinge The Who und waren auch nicht so witzig oder eingängig wie Lindisfarne.“ Oft wurde gespöttelt, dass Genesis „Schnösel“ wären, die mit einem Picknickkorb auf Tour gehen würden. Es war ganz sicher nicht so, dass ihnen Mami und Papi Geld zugesteckt hatten. Vielmehr mussten sie mit 10 Pfund in der Woche auskommen. „Wir nahmen den Picknickkorb mit auf Tour, weil wir so arm waren“, lacht Macphail. „Es war einfach nicht drin, in einem Café Speck, Eier und Bohnen zu ordern. Ich machte mir gerne eine Kartoffel, auf die ich etwas Käse warf. Kalte Würstchen – davon ernährten wir uns! Alle fanden das zum Schießen und stellten irrigerweise die Verbindung zur Privatschule her, mit dem Picknickkorb zur Ruderregatta und so.“
„Ich denke, dass sich unsere Konzerte stark von unseren Platten unterscheiden. Hauptsächlich geht es uns ums Songwriting“, meinte Gabriel 1971. „Uns geht es vor allem um Komposition und Arrangements. Live haben wir einige Songs, die sich ohne geschickte Inszenierung nicht vermitteln lassen. Ich finde das okay, wenn es den Effekt steigert und die Musik nicht in den Hintergrund drängt.“
„Ich war nie der geborene Bühnenkünstler“, sagt Banks. „Ich versteckte mich immer hinter dem Keyboard. Ich fühlte mich nie besonders wohl da draußen und war dankbar, dass wir Peter hatten, auf den sich das Publikum konzentrieren konnte. Am Anfang wusste er noch nicht, was er tun sollte, aber er entwickelte dann seine Bühnenpersönlichkeit. Manches ergab sich zufällig. Er erzählte Geschichten, während wir mit dem Equipment kämpften oder zwölfsaitige Gitarren stimmten. Er begann, die Songs darzustellen, und dachte sich dann Charaktere aus, was ihm die Last bezüglich anderer Dinge von den Schultern nahm. Er wurde schließlich richtig gut.“
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Am 17. März 1971, inmitten all dieses Tumults, heiratete Gabriel Jill Moore in der St. James Chapel in London. Der Empfang fand im St. James Palace statt. Moore war die Tochter von Philip Moore, dem stellvertretenden Privatsekretär der Queen und ehemaligen stellvertretenden Hohen Kommissar in Singapur. Ihr bildhübsches Äußeres und ihre Kontaktfreudigkeit machten sie im Tohuwabohu der Band zu einer gerngesehenen Person. Ihre Eltern lebten in unmittelbarer Nähe zum Kensington Palace und ihre Familie war jedes Jahr auf Schloss Balmoral zu Gast. Einmal kamen auch Peter und Jill mit und tanzten sogar mit Princess Anne und Prince Charles – ein weiteres Indiz dafür, wie weit abseits sich Gabriel vom Rest der Musikbranche befand. Es war am Tag ihrer Hochzeit, als die Band erfuhr, dass Trespass an die Spitze der belgischen Charts geklettert war.
Am 11. Juni 1971, während einer frenetischen Version von „The Knife“ im Friars, brach sich Gabriel bei einem Sprung von der Bühne den Knöchel. „Der Club war mittlerweile von seiner ursprünglichen Location in die Borough Assembly Hall umgezogen“, erinnert sich Kris Needs. „Seit dem letzten Auftritt in Aylesbury war ein ganzes Jahr vergangen und sie wurden wie heimkehrende Helden gefeiert. Ihr Set umfasste nun beide Alben. Wir sahen diese Band, die im Vorjahr noch so schüchtern und bescheiden auf die Bühne gegangen war und nun aber an der Schwelle zum Durchbruch stand. Sie waren an diesem Abend in Hochform und plötzlich segelte Peter bei der Zugabe an mir vorbei und landete auf einem angepissten Typen.“
„Ich stand in der Nähe, als das passierte“, lacht David Stopps. „Es war eine ziemlich hohe Bühne. Aus irgendeinem Grund nahm Peter während ‚The Knife‘ Anlauf und sprang in vollem Tempo ins Publikum. Wahrscheinlich dachte er, die Leute würden ihn schon auffangen. Aber sie sahen in ihm nur dieses schwere Geschoß, das mit einem Affenzahn auf sie zu sauste. Ihr Selbsterhaltungstrieb drängte sie auseinander und Peter krachte aus knapp zwei Metern Höhe auf den Boden. Wir halfen ihm auf, schubsten ihn zurück auf die Bühne und irgendwie brachte er den Song noch zu Ende. Er saß mit seinem Mikro auf dem Boden und da blieb er dann auch. Die Band ging zurück in die Garderobe und niemand kam, um ihm zu helfen. Er ist heute noch sauer deswegen!“
„Wir schafften ihn zurück auf die Bühne, aber sein Fuß war offensichtlich im Eimer“, erinnert sich Needs. „Das Adrenalin vom Gig war aber stärker als der Schmerz. Er beendete das Set auf seinen Knien. Soweit ich weiß, hat Peter immer noch einen Bolzen in seinem Knöchel. Also trägt er bei jedem Auftritt ein Souvenir aus dem Friars in Aylesbury bei sich.“
Stopps war verblüfft angesichts der Wandlungsfähigkeit Gabriels: gesitteter, ruhiger Mann abseits und extrovertierter Performer auf der Bühne. „Peter war sehr höflich, charmant und freundlich. Auf der Bühne war das eine ganz andere Angelegenheit. Jeder braucht ein Ventil und für ihn war das die Bühne.“
„Zu dieser Zeit war es nicht unüblich, dass Van Der Graaf Generators episches Psychodrama oder Mott The Hooples überschwänglicher Radau einen von der Bühne aus überrollte, aber Genesis waren ein ganz eigenes Kapitel“, erinnert sich Kris Needs. „Sie vermittelten eine gewisse Unschuld, was zum großen Teil an Peters langen Geschichten und seinem zunehmend fremdartigen Image sowie den einfach schön gefertigten Musikstücken lag. Am Schluss bei ‚The Knife‘ brachen immer alle Dämme. Für verliebte Teenager gab es außerdem ein paar sehr melodiöse, ja romantische Elemente.“ Gabriel war dabei, einer der wichtigsten, charismatischsten und eigenwilligsten Frontmänner der Rockmusik zu werden.
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In einem seiner ersten großen Interviews, das der langjährige Unterstützer Chris Welch für den Melody Maker mit ihm führte, sagte Gabriel 1971: „Wir werden ab dem Sommer eine bessere Band sein.“ Welch hatte wie seine Kollegen Roy Hollingsworth und Chris Charlesworth einen guten Draht zu Charisma Records und fragte von sich aus um Interviews mit Acts des Labels an. Diese kameradschaftliche Beziehung verdankte man dem umgänglichen Pressesprecher Glen Colson. „Charisma sammelte viele Bonuspunkte bei der Musik-Presse“, sagte Charlesworth. „Chris Briggs und Glen zahlten uns Drinks und rissen Witze. Glen mochte Genesis nicht besonders. Ihm gefielen unbedeutendere Bands. Genesis nannte er hingegen ‚Müll‘. Damit hob er sich positiv ab bei uns Journalisten, weil wir PR-Typen, die uns über lahmarschige Acts die Ohren voll säuselten, so satt hatten. Seine Bands waren auch nett, deshalb bekamen sie eine gute Presse.“
Während die Fürsprecher in Großbritannien langsam die Überhand gewannen, machten sich Genesis daran, einen Nachfolger für Trespass auf die Beine zu stellen. Sie verbrachten einen Großteil des Sommers 1971 im Luxford House in Crowborough, Surrey, das Stratton-Smiths Landhaus war. Obwohl der Schreibprozess unter der Abwesenheit Phillips’ litt, begannen die Ideen langsam zu sprudeln. Richard Cromelin griff später im Rolling Stone die Merkwürdigkeit der ganzen Angelegenheit auf: „Aus den Wänden des Landhauses, in dem sich Genesis eingefunden haben, um ihre kreativen Energien zu bündeln, muss eine Menge schräges Zeug geronnen sein, um diesen neuen Anwärter auf den Thron des britischen Spinner-Rock-Champions hervorzubringen.“ Da lag er nicht unbedingt falsch. Chris Charlesworth war einer von vielen Schreiberlingen, die Strats Einladung nach Luxford House, das sich einst im Besitz der Zeitungsverleger-Dynastie Beaverbrook befunden hatte, folgten und Genesis einen Besuch abstatteten. „Es war ein schönes, ausschweifendes Haus mit vielen kleinen Zimmern“, erinnert er sich. „Es sah nach 17. Jahrhundert aus. Balken und niedrige Decken. Er lud Leute dahin ein und es war alles sehr hübsch. Es wurde viel Dope geraucht.“ Steve Hackett führt weiter aus: „Für eine Hütte war es echt riesig! Es hatte eine tolle Atmosphäre und einen schönen Garten, wo wir manchmal auch schrieben und spielten.“
„Wir nahmen uns zur Empörung unseres Agenten den ganzen Sommer Zeit“, erzählte Gabriel 1972 dem Magazin Sounds. „Aber ich denke, dass es notwendig war, weil es das erste Album mit Phil und Steve war, und sie spielten eine wichtige Rolle.“
Man liegt allerdings falsch mit der Annahme, dass die Gruppe tatsächlich den ganzen Sommer von der Bildfläche verschwand, da sie in der Tat ein paar Gigs absolvierte, darunter auch ein weiteres Konzert im Friars sowie ihren ersten Auftritt beim Reading Festival. Genesis waren dabei, eine bessere Band zu werden, vor allem ab dem Zeitpunkt, als die Gruppe in die Trident Studios zurückkehrte, um ihr nächstes Album einzuspielen, bei dem sie erneut John Anthony als Produzent betreuen sollte. Nursery Cryme – mit seinem wunderbaren Aufklapp-Cover, für das Paul Whitehead verantwortlich zeichnete – kam am 12. November 1971 heraus, und obwohl die Band selbst dem Album mit gemischten Gefühlen gegenüberstand, war es eine beachtliche Weiterentwicklung gegenüber Trespass. Es war der Sound einer Band, die sich an der Kippe zur Großartigkeit befand und voller Glauben an sich selbst war.
Das Album startete mit „The Musical Box“, einem der wahrscheinlich wichtigsten Tracks der Band. Entstanden, als die Band kurzfristig als Vierergespann arbeitete, also noch vor Hacketts Einstieg, wurde die Nummer rasch zusammen mit „The Knife“ zu einer der frühen Hymnen der Band und schwelgte in der idyllischen, progressiven Erzählkunst, mit der auch schon Trespass aufwarten hatte können, bot aber auch einen etwas härteren, aggressiveren Ansatz, für den offensichtlich The Who Pate gestanden waren. Auch die sengende Leadgitarre Steve Hacketts, Phil Collins’ komplexe Drum-Fills sowie seine selbstbewusste Stimme, die sich mit Gabriels Stimme gut ergänzte, kamen hier erstmals zum Einsatz. Der Mittelteil springt geradezu aus den Lautsprechern und nimmt sich die aufgebauschtesten Parts von „The Knife“ als Ausgangspunkt. Dem Song, der Paul Whitehead zum legendären Albumcover inspirierte, wurde eine Erklärung mitgeliefert: „Als Henry Hamilton-Smyth der Jüngere (8) gerade mit Cynthia Jane De Blaise-William (9) Krocket spielte, hob Cynthia mit einem Lächeln ihren Schläger und beseitigte anmutig seinen Schädel.“ Cynthia findet später Henrys geliebte Spieldose. Als sie „Old King Cole“ spielt, erscheint ihr ein kleines Geistwesen: Henry als alter Mann, der seine Lebenswünsche ausdrückt und eine sexuelle Zusammenkunft in die Wege leiten möchte. Die Geschichte gipfelt darin, dass seine Kinderfrau ins Kinderzimmer kommt und die Spieldose nach dem alten Mann wirft, wodurch sowohl die Dose als auch der Mann vernichtet werden. Weit, weit entfernt vom gängigen Hitparaden-Pop, gab die Band Gabriel die Gelegenheit, seine erste eindringliche Bühnenfigur zu entwickeln: Als gealterter Henry setzte er sich die Maske eines Greisen auf und wurde durch sie zu einem komplett anderen Menschen. „Die Alte-Mann-Nummer war echt verstörend“, sagt der Schreiber David Buckley. „Vor allem das Ende, wo er diese schreckliche Anmache abzieht und sich die Lippen leckt und mit seiner Maske herumrollt.“ „The Musical Box“ war der bisher weiteste Vorstoß Gabriels ins Reich der Fantasie. Indem er in die Kindheit zurückging, beschwor er, wie er sagt, „eine Traumwelt. Es geht um Stimmung und Atmosphäre. Ich stellte mir das Haus meiner Großeltern vor und ein paar der unterschwelligen Gefühle, die ich mit diesem Ort verband.“ 2007, im Gespräch mit Uncut, fügte er noch hinzu: „Sie hatten keinen Krocket-Rasen, aber es war ein viktorianisches Haus mit dunklen Holzpaneelen. Es hatte eine Stimmung, die sich im Songtext widerspiegelt. Ich denke, dass es um Sex ging, der alles durchbrechen wollte. Das Gefühl der Einschränkung … das Gefühl, dass Fruchtbarkeit, Vitalität und Sexualität irgendwie miteinander verbunden sind, dass sich die alte Welt der Kontrolle und der Ordnung auf der anderen Seite des Spektrums befindet und etwas ist, das durchbrochen werden muss.“
Der Sex, der alles durchbrechen wollte, war eine Metapher für Gabriels stille Rebellion an der Charterhouse-Privatschule, das Gefühl, dass das Neue das Alte zerschlagen müsste. Damit traf er sicherlich einen Nerv. Der Schreiber Buckley sagt: „Da ich ein Typ aus der Arbeiterklasse bin, wirkten diese Bilder von Krocket-Matches der Oberschicht, bei denen die Köpfe rollten, wie Narnia auf mich. Es wirkte betörend.“ Und das war es auch. Der Song verkörperte ideal die Zugehörigkeit der Band zur Upper Class. Das war hier nicht Black Sabbath.
Nach diesem klar umrissenen Einstieg folgte der Rest von Nursery Cryme in seinem Windschatten. „For Absent Friends“ war kurz und deswegen interessant, weil Phil Collins hier zum ersten Mal den Leadgesang übernahm und er und Steve Hackett maßgeblich zur Entstehung des Songs beigetragen hatten. Der Publikumsliebling „The Return Of The Giant Hogweed“ zeigte erneut, wie die Band sich entwickelte: Banks Orgel und Hacketts Gitarre bauten gemeinsam Druck auf und Collins bestach mit komplexen Beckenschlägen, bevor schließlich Gabriels Stimme durch die Lautsprecher schnitt. Auch die Geschichte vom Killer-Kraut, das die Menschheit bedroht, war noch Neuland in der Popmusik, aber Gabriels gesangliche Darbietung war ehrlich und aufrichtig. „Seven Stones“ entsprang Gabriels Vorliebe für gefühlvolle Nummern, die er auf jedem Album haben wollte. Hinter der süßlich, sanften Stimmung verbarg sich aber auch eine gewisse Schärfe und bot Banks die Möglichkeit, seinen typischen Mellotron-Sound beizusteuern.
„Harold The Barrel“ war ein früher Hinweis auf den poppigen Elan, den Genesis in ihre Arbeit einfließen ließen. Auch wurde hier die Entwicklung des Story-Songs, die mit From Genesis To Revelation begonnen worden war, vorangetrieben. Nun ging es aber in Richtung Comedy, was sich in der stimmlichen Darstellung widerspiegelte. „Wir hatten einen Text, der augenzwinkernd gemeint war“, sagt Banks. „Peter war da richtig gut drin. ‚Harold The Barrel‘ ist so skurril. Daran erkennt man, dass es sich hier nicht um Emerson, Lake and Palmer handelt. Das war uns sehr wichtig. Wir wollten nicht, dass man uns als zu ernsthaft wahrnimmt.“ „Harlequin“ war ein schönes, berührendes Interludium auf zwölfsaitigen Gitarren, das sich vor Crosby, Stills & Nash sowie vor dem Finger-Picking der Beatles aus ihrem weißem Album verneigte, obwohl Genesis dies selbst schon eine ganze Weile in ihre Musik eingebaut hatten.
„The Fountain Of Salmacis“ beendete das Album auf dieselbe grandiose Art und Weise, wie „The Musical Box“ es eröffnet hatte. Ein rastloses Geflecht aus Sounds, bei dem Banks’ Mellotron, Hacketts Gitarrenspiel und ein überraschendes, kurzes Bass-Solo von Mike Rutherford in besonderer Erinnerung bleiben. Der Song entlehnte seine Handlung einer Geschichte von Ovid aus der griechischen Mythologie über die versuchte Vergewaltigung von Hermaphrodit durch Salmacis und die darauf folgende Verflechtung ihrer Körper. In dieser innovativen Nummer trafen die klassischen Ambitionen von Banks und Hackett auf zügellosen, aggressiven Rock.
Charisma bewarb Nursery Cryme im Melody Maker mit einem Kommentar mitsamt Foto und Unterschrift von Keith Emerson, der mittlerweile mit Emerson, Lake and Palmer zum Superstar aufgestiegen war: „Kein Scheiß: Ihr neues Album ist echt unglaublich.“ Die Band war begeistert ob dieser Unterstützung, vor allem, da Gabriel ein großer Bewunderer von dessen alter Band The Nice war. „Die Leute sind leichter beeinflussbar, als man meint. Sie denken sich, ‚Wenn Keith Emerson sie gut findet, müssen sie ja gut sein‘“, erzählte Gabriel in Disc & Music Echo. „Ich weiß das, weil ich auch so bin.“
Das Album wurde zurückhaltend aufgenommen. In Amerika, wo es fast ein Jahr nach seiner Veröffentlichung in Großbritannien von Buddah herausgebracht wurde, schrieb Richard Cromelin: „Es ist definitiv eine Art von Musik, die komplett neue Wege abseits aller ausgetretenen Pfade beschreitet. Wenn Genesis es noch schaffen sollten, alles ein wenig explosiver zu gestalten und ihre Ideen ein bisschen sorgfältiger auszuarbeiten, könnten sie es sein, die diese unerschlossenen Territorien neu bevölkern.“ Er hatte jedoch auch seine Einwände: „Das Hauptproblem von Nursery Cryme liegt weder in den Konzepten von Genesis, die zumindest extrem fantasievoll und liebenswert exzentrisch sind, noch in seiner musikalischen Struktur – lange, komplizierte, vielschichtige Gefüge, die den Rahmen für ihre Erzählungen liefern – und auch nicht in ihrem Spiel, das mitunter ein wenig lethargisch sein kann. Es ist die hundsmiserable Produktion, dieses trübe Gebräu, das im besten Fall still vor sich hin blubbert, wenn man eigentlich explosive Drums und Gitarren, das Kreischen einer Orgel oder das raue Kratzen von Stimmbändern hören sollte.“ Rolling Stone hielt „The Musical Box“ für eine „zehnminütige Mutter-Gans-Geschichte“. Rober Christgau schrieb: „Himmelherrgott! Eine ‚Rock‘-Version des Hermaphroditen-Mythos! Unter Anführungszeichen, weil der Organist und der (pantomimisch angehauchte) Sänger den Drummer ein wenig verwirren!“ Gabriel, der „pantomimisch angehauchte Sänger“, stand die Mission bevor, die Amerikaner von seiner Gruppe zu überzeugen.
Der lebenslange Fan Chris Jones, der für die BBC schrieb, meinte: „Wir bekommen eine Abfolge von Mini-Suiten über Mord mit einem Krocketschläger gefolgt von einer psychosexuellen Heimsuchung (‚The Musical Box‘), Pflanzen-Armageddon (‚The Return Of The Giant Hogweed‘) und hermaphroditische Fabeln (‚The Fountain Of Salmacis‘) serviert. Das alles wird mit einem Elan geliefert, der sie zwar noch nicht in die Oberliga befördert, aber dennoch einen Schritt in diese Richtung markiert.“
Dave Gregory, der acht Jahre später Gitarrist bei XTC sein würde und bei Gabriels drittem Soloalbum mitwirken würde, war typisch für viele neuer Fans dieser Periode. Anfangs noch unsicher, zahlte sich ihre Neugier schließlich doch aus: „Zu dieser Zeit stand ich auf Gitarren-Rock. Und dann hörte ich ‚Harold The Barrel‘. Genesis waren mir ein Begriff, weil – so schien es zumindest – sie ständig im Friars in Aylesbury auftraten, aber ich hielt sie für eine gewollt künstlerische Folk-Formation. Ich erinnere mich an einen Artikel im Melody Maker mit einem Foto von Peter Gabriel, der sein Tamburin hielt. Die Schlagzeile lautete ‚Verpasse dieses Mal nicht Genesis‘ und ich fühlte mich auf seltsame Weise von seinem Charisma angezogen.“
Gabriel war klar, wie die Band klingen sollte. Gegenüber Disc & Music Echo erörterte er: „Als Hörer haben uns improvisierende Bands und endlose Gitarrensolos zu Tode gelangweilt. Bei uns spielt jeder seinen eingeprobten Part wie bei einem Orchester. Wenn irgendwer anfangen würde zu jammen, würde alles sehr schlampig klingen. Es ist sehr schwer zu improvisieren, außer man hält es simpel, und wir spielen nichts Simples.“ Nursery Cryme verkaufte in Großbritannien ungefähr gleich viel wie Trespass. Es war ein Underground-Hit. Aber in Belgien traf man wirklich einen Nerv. Um größere Erfolge einfahren zu können, mussten sie ihre überseeische Anhängerschaft kultivieren.
Eines war aber klar: Die Band verdiente überhaupt kein Geld. „Macphail kam einmal pro Woche vorbei, um ihren Lohn abzuholen“, erinnert sich Paul Conroy. „Sie galten als die Upper-Class-Jungs und als Strats Lieblinge, aber nicht unbedingt als erfolgreich.“
„Es bleibt ein großes Fragezeichen, wie lange irgendeine andere Plattenfirma zu ihnen gehalten hätte“, sagt Richard Macphail. „Der Erfolg stellte sich nämlich nicht schnell ein. Lindisfarne waren die Goldesel und das ganze Geld floss dann in Genesis. Wir sprechen hier über hunderttausende Pfund. Und Strat hatte kein Problem damit.“
Es war klar, dass Genesis und Gabriel das Potenzial zum Durchbruch mitbrachten. Mit ihren sonderbaren Texten, in denen sie Bezug auf Kunst, Geschichte und Mythologie nahmen, ihrem seltsamen künstlerischen Ansatz, ihrem bizarr aussehenden Sänger und ihrem makellosen Spiel würde es, nun ja, einfach ein wenig länger dauern.