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»Renovatio Europae« Eine hesperialistische Zukunft für Europa?
ОглавлениеDavid Engels
Mehr denn je sieht sich die Europäische Union einer Fülle von Problemen gegenüber, deren Schwere sich auch in der erneuten Debatte um die Notwendigkeit einer Reform der europäischen Institutionen niederschlägt. Angesichts von Herausforderungen wie der gegenwärtigen Masseneinwanderung, der wachsenden gesellschaftlichen Polarisierung, dem Altern der Gesellschaft, dem Verfall traditioneller Werte, dem demographischen Niedergang, der Desindustrialisierung, dem Aufstieg Chinas, der Schuldenkrise und der Erosion der bisherigen politischen Parteienlandschaft ist es unabdingbar geworden, die Kooperation zwischen den europäischen Staaten zu überdenken und an die gegenwärtige Situation anzupassen.
In dieser Hinsicht bezeichnen »Identität und Werte« wohl jene Aspekte des sozialen und politischen Zusammenhalts Europas, welche von der Europäischen Union am meisten vernachlässigt worden sind. Die ausschließliche Fixierung auf wirtschaftliche und institutionelle Fragen, bereits zu Beginn des europäischen Integrationsprozesses von Gründungsvätern wie Robert Schuman kritisiert, hat schließlich ein kulturelles Vakuum entstehen lassen, dessen volle Bedeutung erst in diesen Tagen der allgemeinen Krise ganz ermessen werden kann:
»Dieses vereinige Europa kann und darf nicht eine rein wirtschaftliche und technische Unternehmung bleiben; es benötigt eine Seele, ein Bewußtsein seiner historischen Affinitäten und seiner gegenwärtigen und künftigen Verantwortungen […].« (Pour l’Europe)
Denn nur die Solidarität zwischen den Bürgern kann den Kontinent einigermaßen durch die anstehenden Jahre selbstgeschaffener Krise und eigenverschuldeten Niedergangs steuern. Doch ohne eine gemeinsame Identität besteht keinerlei Möglichkeit, einen solchen gesellschaftlichen Zusammenhalt aufzubauen, und es war eine der Lehren der Migrationskrise, daß eine solche »Identität« nicht auf rein humanistischen und universalistischen Werten gegründet werden kann, sondern einer tiefen Verankerung im kulturellen, historischen und spirituellen Unterbewußtsein einer seit Jahrhunderten geteilten Vergangenheit bedarf, also einer Verankerung in jenen Werten, welche meist als »konservativ« bezeichnet werden – ein Begriff, der heutzutage meist pejorativ gemeint ist, der im Folgenden aber freiwillig als positive Selbstbeschreibung verwendet werden soll.
Dabei möchte ich fortan für jenes patriotische Bekenntnis zu einem vereinigten Europa, das allerdings eben nicht nur auf universalistische, sondern auch auf konservative Werte gegründet werden soll, den neuen Terminus des »Hesperialismus« verwenden; ein Begriff, der aus der griechischen Bezeichnung für den äußersten Westen der bekannten Welt abgeleitet ist und gewissermaßen den Gegenbegriff zu »Europäismus« bilden soll, mit dem man meistens eine unkritische Unterstützung der gegenwärtigen Europäischen Union mitsamt ihrer zur Zeit herrschenden Ideologie politischer Korrektheit meint.
Freilich ist das Projekt einer solchen konservativen, »hesperialistischen« Reform der Europäischen Union, einer wahren »Renovatio Europae«, auf den ersten Blick nichts anderes als eine gewaltige Provokation, denn wir alle müssen uns dessen bewußt sein, daß eine grundlegende Reform des europäischen Verwaltungs- und Entscheidungsapparats, wenigstens im Augenblick und sicher auch während der nächsten Jahre, eine illusorische Vorstellung ist. Es dürfte kein Geheimnis sein, daß das Europäische Parlament, die Europäische Kommission, der Europäische Rat, der Europäische Gerichtshof und selbst die meisten der europäischen Verwaltungen nicht nur größten Unwillen gezeigt haben, die Lösung der zahlreichen Überlebensfragen, mit denen unser Kontinent konfrontiert ist, in Angriff zu nehmen; sie haben sich sogar geweigert, überhaupt ihre Existenz zur Kenntnis zu nehmen, da bereits ein solcher Akt gleichbedeutend gewesen wäre mit einem Eingeständnis der desaströsen Folgen der jahrelang von ihnen betriebenen Politik. Es steht daher wohl außer Frage, daß diese Situation auch in der nächsten europäischen Legislaturperiode weitgehend dieselbe bleiben wird. Denn selbst wenn die sogenannten »populistischen« und »euroskeptischen« Parteien wie zu erwarten eine beachtliche Opposition darstellen und zu einer klareren und transparenteren Debatte über die zur Frage stehenden Grundprobleme unseres Kontinents und unserer Zivilisation beitragen werden, wird die politische Situation innerhalb des Europäischen Parlaments doch weitgehend dieselbe sein wie gegenwärtig im deutschen Bundestag und vielen anderen nationalstaatlichen Parlamenten: Ausgehend von der Entscheidung, die »Populisten« von jeglicher Form politischer Machtausübung auszuschließen und ihre Positionen unkritisch und in Bausch und Bogen abzulehnen, werden die anderen Parteien, auch wenn sie zunehmend vom Wähler abgestraft werden, immer größere Kartelle bilden und somit die meist selbstverschuldeten Fehler der Vergangenheit nicht nur fortsetzen, sondern wahrscheinlich auch noch vertiefen, während jede echte, grundlegende Reform des Systems paralysiert werden wird.
Nun stellt sich freilich die Frage, wozu ein Reformprojekt wie das vorliegende überhaupt dienen möge, wenn doch keinerlei Aussicht darauf besteht, ein solches alternatives Europabild in absehbarer Zeit verwirklicht zu sehen? Die Antwort auf diesen berechtigten Einwand läßt sich in vier Aspekte gliedern.
Zunächst einmal ist es natürlich eine Provokation, gerade in der heutigen Situation von der Notwendigkeit einer konservativen Reform der Europäischen Union zu sprechen, und gezielte Provokationen sind heute zu einer absoluten Notwendigkeit geworden, um dem gegenwärtigen politischen Kampf eine neue, offensive Dimension zu geben, ist es doch leider meistens so, daß konservative Denker sich nicht nur ausgesprochen defensiv verhalten, sondern sich meist sogar der politischen Terminologie ihrer Gegner bedienen. Schon viel zu lange haben die Konservativen Europas in Schweigen verharrt angesichts einer endlosen Reihe meist grundloser Unterstellungen. Zu tief sitzt wohl die Angst, als »rechtsextrem« abgestempelt zu werden, wenn sie stolz und offen zu ihren Überzeugungen stehen, während auf der anderen Seite jene, welche ganz klar und offen ausgeprägt linksextreme Positionen verteidigen, generell zu wohlmeinenden, wenn auch naiven und leicht fehlgeleiteten Idealisten und Träumern verniedlicht werden und von seiten des Staates wie der Medien breite Unterstützung als Phalanx im »Kampf gegen rechts« genießen. Was allerdings noch schlimmer ist: Die Konservativen haben zunehmend die politische Sprache der linksliberalen Eliten übernommen und sind dazu übergegangen, die eigenen Positionen nicht mit ihrer eigenen Terminologie positiv und offensiv zu beschreiben und zu entwickeln, sondern vielmehr unter Verwendung des politischen Vokabulars der Gegenseite und somit mit Hilfe von Konzepten, welche mit ihren eigenen Ansichten im Prinzip fundamental inkompatibel sind. Moderne Christen bemühen sich etwa, ihre »Toleranz« auch in Glaubenssachen zu beweisen und die eigene Religion zu einer unter vielen und ihren Erlöser nur als »einen Propheten unter anderen« zu degradieren; Verteidiger der Familie erkennen die »soziale Konstruktion« der Geschlechterrollen an und übernehmen verzweifelt die Diktion der »Gender-Studies«, um zu beweisen, daß die eigene Sichtweise doch wenigstens weiterhin erlaubt sein solle; Patrioten scheuen sich nicht, ihre Liebe zur eigenen Kultur mit der scheinbar wissenschaftlichen Erkenntnis zu verbinden, daß alle Gesellschaftskörper nur Aggregatzustände verschiedener Individuen seien und keinerlei eigene, essentialistische Identität aufweisen, usw. All dies verleiht der gegenwärtigen Apologie konservativen Denkens nicht nur eine grundlegend wenig überzeugende, ja geradezu unehrliche Note; es macht sie eigentlich auch zu einer semiotischen Unmöglichkeit. Es bleibt daher zu hoffen, daß ein positives und stolzes Bekenntnis zu einem konservativen, auf den jahrhundertealten Werten der abendländischen Kultur aufgebauten Europa all jenen Hoffnung und Mut geben kann, welche an ihren eigenen Überzeugungen zweifeln, da man sie durch Bildungssystem wie Medienlandschaft der Möglichkeit beraubt hat, ihre Standpunkte und primären gedanklichen Kategorien in einer eigenen Sprache zu formulieren.
Ein zweiter Aspekt, welcher die Beschäftigung mit einer möglichen konservativen Reform Europas zu einem Desiderat macht, ist die Tatsache, daß die Europäische Union in den kommenden Jahren zwar bestenfalls paralysiert sein wird, wenn es zur Diskussion um die wirklich zentralen Entscheidungen unserer Zivilisation kommt, die Nationalstaaten aber (noch) nicht vollständig an das sich abzeichnende Schicksal der EU gebunden sind. So haben etwa die Visegrad-Staaten, allen voran Polen und Ungarn, ein ausgezeichnetes Beispiel dafür gegeben, daß es möglich sein kann, gegen jede Wahrscheinlichkeit ihre Position zu verteidigen und ihre eigene Identität zu bewahren, so daß sie mittlerweile sogar zu einem Vorbild für andere Staaten geworden sind, welche dem unaufhaltsamen Marsch in den Niedergang entfliehen wollen. Denn gerade Polen und Ungarn, welche lange Jahrhunderte hinweg ihrer staatlichen Freiheit beraubt waren, sind ein Paradebeispiel dafür, daß Vaterlandsliebe und Treue gegenüber der christlichen Tradition eben gerade nicht automatisch zu Nationalismus und Totalitarismus führen müssen, sondern ganz im Gegenteil jene Kräfte sind, mit denen eine Gesellschaft selbst in Situationen nationalistischer und totalitaristischer Unterdrückung überleben kann. Freilich sind angesichts der globalen Machtverhältnisse die politischen Gestaltungsmöglichkeiten selbst der größeren europäischen Staaten überaus begrenzt; trotzdem ist es würdiger und ehrlicher, treu an den eigenen Überzeugungen festzuhalten und möglicherweise zu scheitern, als sehenden Auges den Niedergang auch noch aus freien Stücken zu befördern. Und es besteht zu hoffen, daß die Diskussion eines alternativen, konservativen Europamodells der Zukunft zumindest geistig jene ideologisch abweichenden Staaten weiterhin in ihrem Bekenntnis zur politischen Vereinigung der abendländischen Nationen stärkt und auch ganz allgemein den konservativen Parteien Europas hilft, nicht am europäischen Projekt zu verzweifeln, sondern vielmehr die Initiative zur Mit- und Umgestaltung in die eigenen Hände zu nehmen, anstatt sich resigniert abzuwenden.
Dies führt uns unmittelbar zum dritten Punkt unserer Überlegungen, nämlich der gegenwärtigen Lage der konservativen Parteien in Europa. An dieser Stelle sind einige klare und ehrliche Worte vonnöten. Die Leitmedien behaupten meist, daß es nur »nationalistische«, »rechte«, ja gar »extremistische« Parteien sein könnten, welche »gegen Europa« auftreten, wobei in nahezu unerträglicher Weise die Institution der Europäischen Union mit der Idee Europas an sich amalgamiert wird und die patriotische Liebe zur eigenen Nation und Kultur mit aggressivem Nationalismus. Nun sollte freilich keinesfalls abgestritten werden, daß auch heute noch gewisse unverantwortliche politische Kräfte weiterhin ein überaus romantisch übersteigertes Bild des Nationalstaates und der angeblichen kulturellen Überlegenheit der jeweils eigenen Nation über ihre Nachbarn kultivieren und somit in überaus gefährlicher Weise das Problem ignorieren, daß die abendländische Zivilisation im 21. Jahrhundert nur dann überhaupt eine Aussicht auf politisches Überleben hat, wenn alle europäischen Nationen eng zusammenstehen und sich gemeinsam gegen alle jene Gefahren verteidigen, welche aus dem Osten, dem Westen oder dem Süden kommen mögen. Trotzdem stellen jene Menschen nur eine verschwindend kleine, wenn auch regelmäßig medial sehr hochgespielte Minderheit innerhalb der gesamten Bewegung des Konservatismus dar, und es ist zu erwarten, daß ihre Zahl rasch abnehmen wird, sobald die eigentlich konservativ gesinnten Bürger die eigenen Überzeugungen nicht mehr länger verschämt verstecken und das Feld vor jenen räumen, die am lautesten schreien, sondern vielmehr offen und ehrlich für ihre Überzeugungen einstehen, ihr Recht auf Existenz und Meinungsfreiheit unbeirrt in Anspruch nehmen und klare Grenzen nach rechts wie nach links ziehen. Es ist daher zu hoffen, daß das Projekt einer konservativen Reform der Strukturen und der Ideologie der Europäischen Union, tief verankert in einer positiven Haltung gegenüber den historischen und spirituellen Werten unseres Kontinents, auch den zur Zeit noch zersplitterten politischen Parteien des Europäischen Parlaments hilft, sich ihrer gemeinsamen Werte bewußt zu werden und eine Basis zu schaffen, von der aus eine konstruktive Zusammenarbeit über alle Grenzen hinweg, ja vielleicht sogar die Gründung einer dauerhaften politischen Kooperation im Rahmen einer eigenen Fraktion möglich sein könnte. Die Entwicklung einer EU-skeptischen, aber pro-europäischen politischen Ideologie ist daher kein innerer Widerspruch, sondern vielmehr ein Gebot der Stunde, welche förmlich nach der Schaffung einer paneuropäischen »hesperialistischen« Bewegung schreit.
Der vierte und letzte (und wohl wichtigste) Punkt vorliegender Ausführungen sei der Frage nach den nicht etwa kurz- bis mittel-, sondern vielmehr langfristigen Aussichten einer solchen Bewegung gewidmet. Wir alle wissen, daß zumindest Westeuropa einem demographischen, wirtschaftlichen und auch kulturellen Desaster entgegengeht (welches trotz allem auch Mittel- und Osteuropa aufgrund seiner engen Verflechtung mit dem Westen berühren wird, wenn auch wahrscheinlich in einem geringeren Maße), und es steht daher zu befürchten, daß selbst die besten politischen Reformen diesen Ausgang nur noch sehr marginal beeinflussen können. Trotzdem sollte gerade diese Aussicht uns nicht zu Hoffnungslosigkeit führen oder zum Zweifel an der gemeinsamen Arbeit an Europa: Ganz im Gegenteil macht es gerade heute, am Rande der Krise, am meisten Sinn, zumindest die Umrisse dessen zu skizzieren, was einmal das Europa der Zukunft werden könnte, sobald die schlimmsten Ereignisse vorüber sind und endlich die Rückbesinnung auf die wahrhaft zentralen Werte des Abendlandes einsetzen wird; eine Rückbesinnung, welche, da die Krise den gesamten Kontinent betreffen wird, auch nur in europäischen Dimensionen bewältigt werden kann und deshalb von der erneuten Bestätigung der uns alle vereinenden historischen Identität ausgehen muß, welche schon vor nahezu hundert Jahren von Paul Valéry in seiner Abhandlung »L’Européen« mit den folgenden, treffenden Worten beschrieben wurde:
»Überall, wo die Namen Caesar, Gaius, Traian und Vergil, überall, wo die Namen Moses und Paulus, überall, wo die Namen Aristoteles, Platon und Euklid zugleich eine Bedeutung und eine Autorität gehabt haben, da ist Europa. Jedes Volk und jedes Land, das nacheinander romanisiert, christianisiert und in Bezug auf seinen Geist den Lehren der Griechen unterworfen wurde, ist vollständig europäisch.«
Europa kann daher nur eine Zukunft haben, wenn es sich auf seine historischen Wurzeln besinnt: die jüdische, antike und christliche Vergangenheit; die Verteidigung der Familie; die Befürwortung einer anspruchsvollen Integration fremder Bürger; die Durchsetzung einer sozialverantwortlichen Wirtschaft; der Glaube an die überzeitlichen Werte klassischer Ästhetik; der Versuch, zwischen Individualismus und Kollektivismus zu vermitteln; der Respekt für lokale, regionale und nationale Identität; und die Besinnung auf das Naturrecht als ultimativer Richtschnur unseres Wertekanons. Es ist daher kein Zufall, daß gerade jene Aspekte im folgenden zum Ausgangspunkt der Betrachtungen der Mitarbeiter dieses Bandes werden sollen, welche, aus verschiedensten intellektuellen, politischen und nationalen Kontexten entstammend, eine beeindruckend einhellige Bestandsaufnahme der gegenwärtigen Situation unserer abendländischen Zivilisation bieten – und darüber hinaus zahlreiche Vorschläge liefern, inwieweit eine »hesperialistische« Rückbesinnung auf die historische Identität Europas auch zu einer erneuten inneren wie äußeren Stärkung des Kontinents führen könnte.