Читать книгу Fettnäpfchenführer Vietnam - David Frogier de Ponlevoy - Страница 10
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VIETNAM, UNGEBREMST
ÜBERLEBENSTRAINING FÜR FUSSGÄNGER
Florian möchte nochmals einen Blick auf den Stadtplan werfen, aber stehen bleiben ist unmöglich, da ihm gleichzeitig eine Frau, schwer beladen mit zwei großen Tragekörben, entgegenkommt, eine zweite ihm frittierte Teigtaschen verkaufen will und jemand direkt neben ihm einen Motorroller auf den Gehsteig fährt. Florian macht einen Schritt zur Seite, um nicht in einen am Boden stehenden Korb voller knallroter Chilischoten zu treten. »Shoe shine?«, fragt ihn ein Schuhputzer von der Seite. Florian atmet aus. Er kommt gar nicht hinterher mit Neinsagen und Abwinken.
Nina hat ihn auf dem Weg zur Arbeit in der Altstadt abgesetzt, wo Florian sich an seinem ersten Tag in Hanoi etwas umsehen will. Vor ihm liegt eine große, weite Straßenkreuzung. Da musst du jetzt durch, denkt er. Ampeln sieht er keine. Aus allen Richtungen fließen endlose, brummende Schwärme von Motorrollern ineinander, durcheinander hindurch und wieder auseinander. Dazwischen hupende Taxis und eine Frau mit Strohhut, die einen Handwagen voll beladen mit T-Shirts und Plastiklatschen durch das Verkehrsgewirr schiebt. Auf einem Motorroller sitzt eine fünfköpfige Familie samt Baby, dessen Kopf in ein Moskitonetz gehüllt ist. Auf einem weiteren Roller duckt sich ein mittelgroßer Hund vorne im Fußraum und hält seine Schnauze in den Fahrtwind. Eine junge Frau in pinkfarbenem Kleid fährt auf einer Vespa vorbei und spricht dabei in ein Smartphone mit weißen Häschenohren.
Florian schaut auf die Uhr. Sie zeigt noch die Zeit in Deutschland. Fünf Uhr früh. In Vietnam ist es bereits zehn Uhr morgens. Florians Hemd ist durchgeschwitzt. Er steht noch immer am Straßenrand und hofft auf eine Lücke im Verkehr, um diese Kreuzung zu überqueren. Aber da kommt keine Lücke. »Motobye?« Ein Motorrollertaxi bleibt vor seinen Füßen stehen. »Nein!«, sagt Florian und macht um den Motorroller herum ein paar Schritte vorwärts auf die Straße. Jetzt oder nie. Auf beiden Seiten tost der Verkehr. Ein schwarzer Toyota kommt direkt auf ihn zu. Florian macht einen Schritt zurück. Der Fahrer blinkt wild mit der Lichthupe. Florian hebt kurz dankend die Hand und nimmt dann drei schnelle Schritte vorwärts. Der Autofahrer bremst brüsk vor ihm ab, ein Motorroller knattert mit einem Schlenker vor Florian vorbei und verfehlt ihn um Haaresbreite. Florian hält die Luft an. Er kommt sich vor wie in einem Traum, den Kopf noch vom Jetlag benebelt.
Florian steht jetzt mitten auf der Straße, weder vor noch zurück hält er für eine gesunde Option, aber auch stehen bleiben erscheint ihm selbstmörderisch. Ganz kurz fragt er sich, ob er nicht fürs Erste einfach bei Nina zu Hause auf der Couch hätte bleiben sollen. Ein Buch lesen. Oder schlafen. Da taucht plötzlich neben ihm eine alte, bucklige Frau in einem violetten Pyjama auf. Ohne nach rechts und links zu schauen, schiebt sie sich mit kleinen Schritten durch den Verkehrsstrom, der geschmeidig an ihr vorbeifließt. Knallhart, die Oma!, schießt es Florian durch den Kopf. Dann wittert er die Gelegenheit, schließt sich an die alte Frau an und trippelt mit ihr durch den rollenden Wahnsinn.
Zwei Schritte noch. Geschafft. Florian erreicht mit seinem unfreiwilligen Schutzengel endlich die andere Straßenseite, das rettende Ufer. Während die alte Frau, ohne ihn eines Blickes zu würdigen, schnurstracks weitergeht, schaut er sich etwas ratlos um. Er hat vergessen, wo er eigentlich hinwollte.
»Na, Flo, wie war dein erster Tag in der Altstadt?«, fragt ihn Nina später am Abend.
»Gut«, sagt Florian, »mir hat eine alte Frau über die Straße geholfen.«
Wie Sie lebend auf die andere Straßenseite kommen
Loslaufen. Schritt für Schritt. Nicht stehen bleiben, vorwärts blicken, gleichmäßig gehen, weder zögern noch hasten. Was wie eine alte viet namesische Lebensweisheit klingt, ist in Wirklichkeit schlicht eine Anleitung, wie Sie etwas auf den ersten Blick Unmögliches schaffen: eine Straße zu überqueren. Wer in Vietnams Großstädten am Straßenrand stehen bleibt und auf die nächste Lücke im Verkehr wartet, darf sich auf eine sehr lange Wartezeit gefasst machen. An manchen verkehrsreichen Ecken würden Sie vielleicht sogar den ganzen Tag warten.
Stattdessen tauchen Sie ein. Der Verkehr wird Sie umfließen wie ein Fischschwarm. Motorroller bremsen kaum, sie weichen normalerweise aus und fahren meist hinter dem Fußgänger vorbei. Die Fahrer achten nämlich durchaus auf andere, auch wenn es manchmal nicht so aussehen mag. Wenn jedoch das »Hindernis«, also der Fußgänger, plötzlich die Geschwindigkeit oder Richtung ändert oder stehen bleibt, stört er dieses eingespielte Umfahrmanöver und riskiert Zusammenstöße.
Bei den etwas weniger beweglichen Fahrzeugen, den Autos, Bussen und Lastwagen, empfiehlt es sich je nach deren Geschwindigkeit jedoch deutlich häufiger, abzuwarten, statt einfach loszumarschieren; hier könnte es gefährlich werden. Die Lichthupe ist in Vietnam zudem kein Signal dafür, dass der Fahrer Vorfahrt gewährt, wie das Florian missverstanden hat – sondern für das Gegenteil: dass er hier jetzt geradewegs durchfahren möchte!
Das Straße-Überqueren ist in Hanoi und Ho-Chi-Minh-Stadt eine Art Pfadfindertaufe für Neuankömmlinge. Die Hauptstraßen von Saigons Distrikt 1 und die große Kreuzung am Nordende des Hoàn-Kiếm-Sees im Zentrum von Hanoi, wo Florian seine Erstüberquerung meisterte, sind dafür während der Stoßzeiten besonders berüchtigt. Wenn Sie sich in den Gebäuden rund herum in eines der Cafés ein paar Stockwerke höher setzen, können Sie diese legendäre Kreuzung von höherer Warte aus beobachten und werden unter anderem feststellen: Der Rechtsverkehr wird auf Vietnams Straßen zuweilen höchst flexibel interpretiert. Und Kreisverkehr-Mittelinseln werden in beide Richtungen umfahren.
Im Touristenviertel von Ho-Chi-Minh-Stadt werden in den Shops T-Shirts verkauft, auf denen die Regeln beim Überqueren der Straße aufgedruckt sind: »keinen Augenkontakt, kein Stoppen, keine unberechenbaren Bewegungen, kein Warten, kein Nudelsuppe-Essen, keine Panik, kein Händchenhalten, kein Hinterfragen, kein Zurück«. Ein Journalist der New York Times berichtete von einem Merkblatt, das in einem Hanoier Hotel an Touristen ausgehändigt wird und ihnen rät: »Seien Sie entspannt und selbstbewusst.« Und »gehen Sie bewusst langsam«. Die Boulevardzeitung Toronto Sun verglich das Überqueren der Straße in Vietnam treffend mit dem alten Videospiel Frogger, in dem man einen Frosch über eine fünfspurige Straße führen muss.
Als Einstieg in die Kunst des Straße-Überquerens eignet sich der Windschatten-Trick, der auch Florian aus der Bredouille half: Heften Sie sich einfach dem nächstbesten erfahrenen Städter an die Fersen.
Und falls Sie sich dann doch noch nicht trauen: In den Großstädten ist es meist auch möglich, bis zur nächsten Ampel zu laufen. Hier sei allerdings zur Vorsicht gemahnt: Halten Sie beim Überqueren immer nach Fahrern Ausschau, die die Sache mit den Ampeln nicht so eng sehen und bei Rot durchbrettern. Auch Rechtsabbieger kommen einem dabei häufig in die Quere. Ach ja, und manchmal funktionieren die Ampeln nicht. Es gibt auch vereinzelt Zebrastreifen ohne Ampeln. Diese sind rein dekorativ und werden komplett ignoriert. Und noch ein Tipp: Schauen Sie generell vor dem Überqueren jeweils nach beiden Seiten. Auch bei Einbahnstraßen.
Sie werden auch feststellen, dass Gehsteige nur beschränkt als eigentliche Fußgängerzonen gelten: Zwischen all den Menschen, die dort kochen, Dinge verkaufen, Babys füttern, Häuser bauen, Suppe essen, Stempel schnitzen, Bambuspfeife rauchen, auf winzigen Plastikhockern sitzend Grüntee trinken und ihre Fahrzeuge parken, ist oft kaum ein Durchkommen. Der Gang durch die Stadt ist kein Spaziergang, sondern ein Zickzack- und Hürdenlauf, der den Status einer Olympiadisziplin verdient hätte.
Selbst Motorrollerfahrer machen hier den Fußgängern den Platz streitig: Bei Staus rinnt der Verkehr oft einer geplatzten Ader gleich über die Gehsteige. Kein vietnamesischer Fußgänger würde sich übrigens über hupende und drängelnde Motorroller auf dem Gehsteig beschweren.
Da für sie auf dem Gehsteig offensichtlich kein Platz mehr ist, weichen einheimische Fußgänger mit stoischer Ruhe auf die Straße aus. Ausländer hingegen kämpfen anfangs bisweilen mit dem Gefühl, etwas Unerlaubtes zu tun und möglichst schnell wieder von der Straße verschwinden zu müssen.
Sie werden jedoch, einmal abgesehen von den Touristen und den Straßenverkäufern, gar nicht viele Menschen antreffen, die zu Fuß unterwegs sind. Die Mehrheit der Vietnamesen bewegt sich auch für kleinste Strecken per Motorroller von A nach B, und den vielen Motorradtaxifahrern, die Ihnen auf Schritt und Tritt eine Fahrt auf dem Rücksitz anbieten, ist es meist völlig unverständlich, weshalb Sie sich auf Teufel komm raus zu Fuß durch die Straßen quälen wollen.
DER TOD AUF DER STRASSE
Laut Statistik verliert annähernd jede Stunde ein Mensch sein Leben bei einem Verkehrsunfall in Vietnam; darunter vereinzelt auch junge ausländische Besucher, die während eines Motorradausfluges als Selbstfahrer tödlich verunglücken. Vietnam kam im Jahr 2018 mit 26 Verkehrstoten pro 100.000 Einwohner auf den traurigen zweiten Rang der Statistik in Südostasien, hinter Thailand. Die Weltgesundheitsorganisation berichtet, dass Verkehrsunfälle in Vietnam die häufigste Todesursache für Menschen zwischen 15 und 29 Jahren darstellen. 91 Prozent der tödlichen Verkehrsunfälle weltweit geschehen laut Weltgesundheitsorganisation in Ländern mit niedrigem und mittlerem Einkommen, obwohl diese nur über rund die Hälfte der Fahrzeuge verfügen.
Das Auswärtige Amt rät in seinen allgemeinen Reiseinformationen für Vietnam zu größtmöglicher Vorsicht im Straßenverkehr und warnt nachdrücklich davor, während des Urlaubsaufenthaltes angemietete Pkw oder Mopeds eigenhändig in dem ungewohnten Verkehr zu steuern. Vietnamesische Zeitungen haben berichtet, dass laut Fachleuten bis zu 80 Prozent der Helme in Vietnam im Ernstfall gar nicht vor Kopfverletzungen schützen würden. Insbesondere Leuten, die längere Zeit in Vietnam verbringen, empfehlen wir, etwas mehr Geld in einen teureren, stabilen Vollhelm zu investieren.