Читать книгу Fettnäpfchenführer Vietnam - David Frogier de Ponlevoy - Страница 9

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DIE WELT UMARMEN?

BEGRÜSSUNGSRITUALE UND KÖRPERKONTAKT

Nina hört das Taxi in die Gasse rollen. Sie tritt auf ihre Dachterrasse und spürt auf der Haut die unsichtbare, dicke Wand aus feuchtheißer Luft, auf der ein dunstig grauer Himmel sitzt. Der Himmel über Hanoi, der Hauptstadt Vietnams im Norden des Landes.

Es ist noch früh, kurz nach sieben Uhr. Phương, Ninas Kollegin aus dem Büro, hatte schon vor einer halben Stunde unten geklingelt. Sie hatte Drachenfrüchte, Mangostanfrüchte und Rambutans zum Frühstück mitgebracht. Nachher wollen sie gemeinsam zu einem Termin beim Arbeitsministerium fahren. Nina und Phương arbeiten bei einer deutschen Klimaschutzorganisation. Es ist Ninas erste Stelle in Südostasien, nach einem Aufbaustudium in Internationalem Management.

Hanoi hat Nina von der ersten Sekunde an in ihren Bann gezogen und auf ganz besondere Weise provoziert. »Man liebt sie oder man hasst sie, diese Stadt. Oder manchmal auch beides gleichzeitig. Kalt lässt sie kaum jemanden«, hatte sie auf Skype zu Florian gesagt.

Nina sieht, wie Florian unten vor dem Haus aus dem Taxi steigt und sich einen riesigen Rucksack auf den Rücken wuchtet. Dann wendet er sich dem Taxifahrer zu, faltet die Hände feierlich vor der Brust und verbeugt sich zum Abschied ein paarmal. Die Bewegung erinnert Nina an einen dieser kleinen Wackeldackel fürs Auto. Nina lächelt. Florian ist ihr bester Freund seit Kindertagen und gerade fertig mit seinem Informatikstudium. Er kommt sie besuchen und will durch Vietnam reisen. »Aber dir gefällt’s doch in Vietnam, oder?«, hatte Florian sie auf Skype gefragt. »Ja«, hatte Nina gesagt. Und dann geschwiegen. Wie kann man jemanden in drei Sätzen auf Vietnam vorbereiten, oder allein schon auf Hanoi? Florian, dachte sie, wird mir ohnehin nicht glauben. Nina rennt die drei Stockwerke hinunter und öffnet erst die Haustür und schließlich das große Eisentor. Florian, der jetzt vor ihr steht, scheint wie aus einer anderen, fernen Welt zu kommen, mit seinen Berlin-Turnschuhen, dem Hipster-Shirt und der teuren Sonnenbrille. Eine Welt, die in den vier Monaten, seit Nina selbst in Vietnam angekommen ist, in ihrem Kopf weit in den Hintergrund gerückt war. Nina kann sie fast riechen, die Welt der pünktlichen Verabredungen und funktionierenden Automaten, der leeren Bürgersteige, der kurz gemähten Wiesen, der Wartenummern und Umweltzonen, als die beiden sich mit großem Hallo in die Arme fallen.

»Und das hier ist Phương«, stellt Nina ihre vietnamesische Kollegin vor. Florian drückt auch Phương herzlich an sich. Dann schaut er sich um, im geräumigen Eingangsbereich mit Steinplattenboden, einer großen Küche, einem massiven Holztisch, einer Helmablage aus Bambus und Gemälden an den Wänden. Eine breite Treppe aus dunklem Holz führt in die oberen Stockwerke. »Wow!«, sagt Florian. »Dafür, dass du in einem Drittweltland lebst, lässt du es dir aber ziemlich gut gehen.«

Wen Sie wie und wo berühren dürfen

Willkommen in Vietnam! Mit der Begrüßung fängt alles an: Sollte man dieses Land knuddeln, es umarmen, ihm erst mal schüchtern zuwinken oder sich verbeugen? Wie sagt man sich in Vietnam hallo?

Phương wurde von Florians stürmischer Begrüßung wohl ein bisschen überrumpelt. Die Umarmung ist in Vietnam nicht besonders verbreitet. Ebenso befremdend kann es wirken, wenn Ausländer mit einem Wangenküsschen-Gruß auffahren.

Auch die Verbeugung mit vor der Brust gefalteten Händen, wie man sie vielleicht aus anderen asiatischen Ländern wie Thailand kennt, werden Sie in Vietnam sehr selten antreffen. Hier besteht eine Begrüßung im Allgemeinen aus einem freundlichen, respektvollen leichten Kopfnicken.

Händeschütteln ist in Vietnam inzwischen vor allem im Geschäftsleben weitverbreitet, es handelt sich hierbei um einen Import aus westlichen Ländern. Aber bitte sanft – nicht quetschen! Wer einer um einiges älteren Person die Hand reichen möchte, umfasst als Zeichen des Respekts die rechte Hand dieser Person zum Gruß mit beiden Händen.

Auch das Überreichen und Entgegennehmen von Dingen wie Geld oder Visitenkarten darf mit beiden Händen geschehen. Dies gilt als besonders höflich. Eine zackig-auffordernd hingestreckte Hand hingegen könnte unter Umständen, gerade gegenüber älteren Personen, zu forsch wirken.

Abgesehen davon gibt es in Vietnam zwischen Frauen und Männern, die kein Paar sind, im Allgemeinen keinen Körperkontakt. Dies sollten Sie im Umgang mit vietnamesischen Freunden oder Kollegen nicht ganz außer Acht lassen. Auch in sehr ungezwungener Atmosphäre, etwa auf Partys, könnte es Ihrem Gegenüber vom anderen Geschlecht unangenehm sein, wenn Sie vermeintlich harmlose, freundschaftlich-vertraute Gesten wie etwa Umarmungen, Schulterklopfen, Hand auf die Schulter oder Berührungen der Hand oder am Arm verteilen. Insbesondere in der Öffentlichkeit rücken Sie Ihre vietnamesischen Bekannten damit möglicherweise unwissentlich in ein falsches Licht.

Umso mehr gehören Berührungen zwischen Frauen sowie von Mann zu Mann in Vietnam zum Alltag: Befreundete Frauen haken sich auf der Straße beim Gehen häufig unter, berühren einander beim Reden am Arm, und auch Ausländerinnen werden von Frauen oft sehr ungezwungen berührt. Eine amerikanische Bekannte in Hanoi zum Beispiel wird von der vietnamesischen Haushaltshilfe regelmäßig am Po getätschelt. Auch unter Männern kommt es in Vietnam weit häufiger als bei uns in der Öffentlichkeit zu zärtlichen Berührungen – sie halten sich gerne mal brüderlich umschlungen. Einem männlichen Ausländer kann es durchaus passieren, dass ihm ein vietnamesischer Bekannter oder Geschäftspartner in einer Kneipe nach ein paar Bier eine Hand auf den Oberschenkel legt. Unter Männern ist eine solche Geste nicht anzüglich gemeint, sondern normaler Umgang. Wenn Sie dagegen eine Frau sind, müssen Sie solche Berührungen von Männern nicht tolerieren – sie sind gegenüber Frauen jenseits von Sitte und Anstand.

Und wie halten es Paare in der Öffentlichkeit? Zwischen vietnamesischen Pärchen und Ehepartnern ist der öffentliche Körperkontakt zurückhaltend. Küsse, auch flüchtige, sind so gut wie gar nicht zu sehen. Wer aber in den Städten jugendliche Pärchen aneinandergekuschelt auf Parkbänken sitzend oder umschlungen auf Motorrollern fahrend sieht, merkt, dass das Austauschen von Zärtlichkeiten zumindest bei der jüngeren Generation kein komplettes Tabu darstellt. Das vietnamesische Gesellschaftsleben ist zwar eher konservativ, jedoch nicht über alle Maßen prüde. Wenn Sie als Paar unterwegs sind, müssen Sie liebevolle Berührungen untereinander nicht gänzlich unterdrücken. Aber vielleicht sparen Sie sich innige Küsse für besondere Momente auf, in denen Sie unter sich sind.

»DRITTWELTLAND« VIETNAM?

Vietnam ist kein Entwicklungsland mehr: Gemäß Weltbankdefinition ist Vietnam seit Beginn des Jahres 2011 ein Schwellenland (lower-middle-income country). Seine Wirtschaft wuchs zwischen 1990 und 2010 im Durchschnitt jährlich um 7,3 Prozent, und das Pro-Kopf-Einkommen hatte sich in dieser Zeit verfünffacht – ein rasend schneller Aufstieg für ein Land, das in den 1980er-Jahren noch zu den ärmsten Ländern der Welt gehörte. Eine aufstrebende Mittelschicht, die etwa 13 Prozent der Bevölkerung ausmacht und bis 2026 auf 26 Prozent ansteigen soll, gewinnt immer mehr an Kaufkraft.

Vietnam zählt heute zu den weltweit größten Exporteuren von Reis, Kaffee und Pfeffer. Zu den wichtigsten Exportprodukten gehören zudem Textilien, Elektronik, Rohöl, Schuhe, Fisch und Meeresfrüchte. 41 Prozent der Bevölkerung waren 2017 in der Landwirtschaft tätig, 26 Prozent im Industrie- und 34 Prozent im Dienstleistungssektor. Das jährliche Pro-Kopf-Einkommen betrug 2018 mehr als 2.500 US-Dollar. An Stelle der Entwicklungshilfe sind unter anderem Instrumente zur Finanzierung des Klimaschutzes getreten; Vietnam gilt aufgrund seiner 3.444 Kilometer langen Küste und seiner zwei Deltaregionen als eines der Länder, die vom Klimawandel am meisten betroffen sind.

Eckdaten Vietnam

Fläche: 331.210 Quadratmeter

Einwohner: 97 Millionen (2018)

Klima: Subtropisch im Norden mit Regenzeit von Mai bis September und Trockenzeit von Oktober bis März oder April. Die Temperaturen können zwischen Dezember und Februar bis auf 12 Grad sinken; im Sommer um die 32 Grad. Tropisch im Süden mit Regenzeit von Juni bis Oktober, die Temperaturen bewegen sich zwischen 21 und 34 Grad.

Fettnäpfchenführer Vietnam

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