Читать книгу Das verborgene Leben des Waldes - David G. Haskell - Страница 8
30. JANUAR Winterpflanzen
ОглавлениеDAS ENDLOSE DUMPFE BRÜLLEN kommt vom Wind, der an den Bäumen zerrt, die oberhalb des Mandalas auf dem hohen Sandsteinfels stehen. Anders als der Nordwind Anfang der Woche weht der stürmische Wind jetzt von Süden, doch weil das Mandala im Windschatten des Felsens liegt, sind hier nur leichte Wirbel und Windböen zu spüren. Der Südwind hat angenehmere Temperaturen gebracht. Es ist nur knapp unter null, warm genug, um in Winterkleidung eine Stunde oder länger bequem dazusitzen. Die erbarmungslose, physisch schmerzende Kälte ist vorbei: In der milden Luft durchströmt meinen Körper ein leises Wohlbehagen.
Ein vorbeikommender Vogelschwarm ist – erlöst vom arktischen Todesgriff – offenbar in ausgelassener Stimmung. Fünf Vogelarten sind gemeinsam unterwegs: fünf Indianermeisen, ein Carolinameisenpaar, ein Carolinazaunkönig, ein Indianergoldhähnchen und ein Carolinaspecht. Der Schwarm scheint wie durch ein unsichtbares Gummiband zusammengehalten: Wenn ein Vogel zurückbleibt oder weiter streunert, als es der Zehnmeterradius des Schwarms erlaubt, wird er unweigerlich ins Zentrum zurückgezogen. Wie ein flirrender Kugelblitz schwirrt der Schwarm durch den erstarrten Winterwald.
Am singfreudigsten sind die Indianermeisen: Sie geben unentwegt Töne von sich. In unregelmäßigem Rhythmus stoßen sie ein hohes siet aus, das ihre anderen Rufe, ein heiseres Pfeifen und Fiepen, dann umspielen. Einige Vögel zwitschern pi-ta pi-ta, ein Ruf, der in ihrem Repertoire am eisigen Wochenanfang noch fehlte. Die helle zweitönige Melodie ist ihr Brutgesang. Trotz Schnee denken die Vögel schon an den Frühling. Bis sie Eier legen, wird es noch einige Monate dauern, doch ihr Liebeswerben mit schwierigen sozialen Verhandlungen hat schon begonnen.
Die überschwängliche Lebensfreude der Vögel steht in starkem Kontrast zum Pflanzenleben im Mandala. Die grauen Äste und kahlen Zweige bieten ein trostloses Bild. Aus dem Schnee stakt der Tod: niedergestürzte, teils verfaulte Ahornäste, zerfaserte Stümpfe von Leaf cupstängeln und um die Stängel angetauter Schnee, durch den verrottendes Laub hindurchscheint. Scheinbar hat der Winter die Pflanzen vollständig besiegt.
Doch das Leben geht weiter.
Die kahlen Büsche und Bäume sind nicht bloß Gerippe, auch wenn es so aussieht. Zweige und Stämme sind von lebendem Gewebe umhüllt. Während die Vögel dem harten Winter trotzen, indem sie selbst der klirrendsten Kälte noch Nahrung abringen, harren die Pflanzen aus, ohne sich ihren eigenen Sommer zu schaffen. Dass Vögel in der Kälte überleben, mag erstaunen, doch dass Pflanzen nach der vollständigen Kapitulation wiederauferstehen, ist so weit von jeder menschlichen Vorstellung entfernt, dass es beinah unanständig scheint. Nach dem Tod, noch dazu dem Erfrierungstod, dürfte es keine Wiederkehr mehr geben.
Doch sie kehren wieder. Pflanzen überleben ähnlich wie Schwertschlucker: durch sorgfältige Vorbereitung und höchste Vorsicht vor scharfen Kanten. Pflanzen kommen mit bloßer Kälte normalerweise gut zurecht. Im Gegensatz zu den chemischen Reaktionen, die den Menschen am Leben erhalten, funktioniert die pflanzliche Biochemie bei verschiedenen Temperaturen und versagt auch nicht, wenn es kälter ist. Doch wenn aus Kälte Frost wird, fangen die Probleme an: Die wachsenden Eiskristalle zerstechen, zerreißen und zerstören die zarte innere Zellarchitektur. Im Winter müssen Pflanzen Zehntausende von Schwertern schlucken und ständig aufpassen, dass keins ihrer verletzlichen Seele zu nahe kommt.
Die Pflanzen beginnen schon Wochen vor dem ersten Frost mit den notwendigen Vorbereitungen. Sie befördern DNA und andere empfindliche Strukturen ins Zellzentrum und umhüllen sie mit einem Polster. Die Zellen werden fettiger, und die chemischen Fettverbindungen verändern sich so, dass sie bei Kälte flüssig bleiben. Die Zellmembranen werden löchrig und biegsam. Die verwandelten Zellen sind nun gut gepolstert und geschmeidig. Sie erdulden selbst grausame Kälte, ohne Schaden zu nehmen.
Die Wintervorbereitungen der Pflanzen nehmen Tage oder Wochen in Anspruch. Darum kann ein überraschender Frosteinbruch Äste sterben lassen, die sonst, bei geeigneter Akklimatisierung, kälteste Winternächte überstehen. Heimische Pflanzenarten werden selten vom Frost überrumpelt; die natürliche Selektion hat sie den Jahreszeitenrhythmus ihrer Heimat gelehrt. Doch exotische Pflanzen kennen sich vor Ort nicht aus und werden vom Winter oft zurechtgestutzt.
Die Zellen verändern nicht nur ihre physische Struktur, sondern saugen sich auch voll Zucker und senken so den Gefrierpunkt – wie das Salz auf unseren vereisten Straßen. Doch nur das Zellinnere wird gezuckert, das Wasser um die Zellen bleibt ungesüßt. Dank dieser Asymmetrie können sich die Pflanzen das absehbare Geschenk der Naturgesetze zunutze machen: Bei Eisbildung wird Wärme freigesetzt. Wenn Zellen von gefrierendem Wasser umgeben sind, steigt ihre Temperatur um mehrere Grad an. Beim ersten Frost ist das zuckrige Zellinnere daher durch das ungezuckerte Wasser geschützt, das die Zellen umhüllt. Auch Landwirte machen sich diese Wärmeerzeugung übrigens zunutze, wenn sie ihre Getreidepflänzchen in Frostnächten benebeln und so eine weitere Schicht wärmespendendes Wasser hinzugeben.
Wenn das Wasser zwischen den Zellen vollständig gefroren ist, wird keine Wärme mehr freigesetzt. Doch das Wasser im Zellinneren ist noch immer flüssig. Es sickert nun durch die löchrige Zellmembran nach außen und lässt den Zucker im Zellinneren zurück – dessen große Moleküle die Membran nicht überwinden können. Mit sinkenden Temperaturen wird den Zellen also Wasser entzogen, so die Zuckerkonzentration im Zellinneren erhöht und der Gefrierpunkt weiter abgesenkt. Bei sehr tiefen Temperaturen wird aus der Zelle eine runzelige Sirupkugel: ein eisfreier Lebensquell, inmitten von Eisscherben.
Der Dolchfarn und die Moose im Mandala müssen eine weitere Herausforderung meistern. Ihre immergrünen Blätter und Stiele ernähren sie zwar an wärmeren Wintertagen, doch bei Kälte kann die Quelle ihres Grüns, das Chlorophyll, aus der Rolle fallen. Chlorophyll absorbiert Sonnenenergie und verwandelt sie in angeregt herumschwirrende Elektronen. Bei warmer Witterung wird der Elektronenenergiefluss in der Zelle schleunigst auf Nahrungsproduktion umgeschaltet. Doch bei kalter Witterung klemmt die Schaltung, sodass die Zelle von Elektronen in hoch angeregtem Zustand überschwemmt wird. Kann die Zelle die ziellos umherschwirrende Energie nicht eindämmen, vermüllt sie. Um sich vor dem Elektronenüberfall zu schützen, lagern immergrüne Pflanzen vor dem Winter chemische Stoffe in den Zellen ab, die die unerwünschte Elektronenenergie abfangen und neutralisieren. Wir kennen diese Stoffe als Vitamine, besonders Vitamin C und E. Schon die amerikanischen Ureinwohner wussten davon: Sie kauten zur Gesundheitsvorsorge im Winter immergrüne Pflanzen.
Wenn Eis in die Pflanzen des Mandalas eindringt, ziehen sich ihre Zellen behutsam zurück und erzwingen die mikroskopische Trennung zwischen Eis und Leben. Wenn die Pflanzen die Zellkontrak tion im Frühling wieder rückgängig machen, kehren Zweige, Knospen und Wurzeln ins Leben zurück. Und machen beinah weiter, als hätte es den Winter nie gegeben. Manche Pflanzen wählen allerdings einen anderen Weg. Das Leben des Leafcupkrauts endete nach kurzen achtzehn Monaten schon im letzten Herbst: Es ragt nun tot aus der Erde. Es hat vor dem Winter kapituliert und eine neue physische Form angenommen – wie Schnee, der sich in Dunst verwandelt. Und wie Dunst ist seine neue Form unsichtbar, auch wenn ich davon umgeben bin. Im Laubboden des Mandala vergraben, liegen Tausende von Leafcupsamen, die nur darauf warten, dass der Winter endlich vorbei ist. Sie überstehen die Wintermonate in einer harten Schale, die das Innere trocken hält und es ziemlich zuverlässig vor eiskalten Übergriffen schützt.
Der trostlose Eindruck, den das Mandala erweckt, ist nur ein oberflächlicher. Im Mandala leben Hunderttausende von eingekapselten Pflanzenzellen, die ihr Rückzug stark gemacht hat. Ihr ruhiges Grau täuscht wie bei Schießpulver über die latente Energie hinweg, die in ihnen steckt. Meisen und andere Vögel stellen ihre Lebenskraft im Januar zwar aufgeregt zur Schau, doch ist ihre Energie beinah lächerlich im Vergleich zu der, die sich in den stillen Pflanzen verbirgt. Wenn es Frühling wird und im Mandala schießt und sprießt, trägt die entfesselte Pflanzenenergie den gesamten Wald, auch die Vögel, durch ein weiteres Jahr.