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Prolog Rom, 1939

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Papst Pius XI. bat Gott, ihm noch einige Lebenstage zu vergönnen. Er war krank, alt und hatte im Vorjahr nur knapp einen Kreislaufkollaps überlebt. In seiner weißen Soutane saß er am Schreibtisch des Arbeitszimmers im dritten Stockwerk des Vatikans. An der Wand daneben lehnte ein Gehstock. Kompass und Barometer von seinen Bergtouren auf die höchsten Alpengipfel Italiens lagen verrostet auf einer Seite des Tisches und erinnerten an längst vergangene Tage. Eine alte Stimmgabel ruhte seit Jahren unbeachtet in der Schublade. Voller Stolz auf seine Singstimme und darauf bedacht, nicht das musikalische Gehör zu verlieren, hatte er geübt, sobald sich die Gelegenheit bot, aber nur dann, wenn er sich unbelauscht fühlte. Als er nun sein Ende nahen fühlte, öffnete er jede Schublade und überzeugte sich, dass seine Papiere in Ordnung waren.

Jahrelang hatte der Papst sich guter Gesundheit erfreut, und Beobachter hatten über sein strapaziöses Pensum gestaunt. Er hatte darauf bestanden, die vatikanischen Angelegenheiten in allen Einzelheiten zu kennen und alles einigermaßen Wichtige selbst zu entscheiden. Nun war jeder Tag eine Prüfung und jeder Schritt schmerzhaft. Nachts fand er keinen Schlaf, die Krampfadern in den Beinen pochten, sein Asthma machte das Atmen zur Qual, doch am schlimmsten war das Gefühl, irgendetwas sei schrecklich fehlgeschlagen.

Bei Tag fiel das Licht vom Petersplatz durch die drei Fenster des Arbeitszimmers. Doch nun war es Nacht, und die kleine Schreibtischlampe warf einen gelblichen Schein auf die Blätter vor ihm. Der Herr hatte ihn aus einem bestimmten Grund am Leben erhalten, dachte er. Er war Gottes Stellvertreter auf Erden und konnte nicht sterben, bevor er gesagt hatte, was gesagt werden musste.

Der Papst hatte alle italienischen Bischöfe nach Rom geladen, um ihnen seine letzte Botschaft mitzuteilen. Die Versammlung sollte in eineinhalb Wochen, am 11. Februar 1939, im Petersdom stattfinden und das zehnjährige Jubiläum der Lateranverträge begehen. Diese historische Übereinkunft hatte Pius XI. mit Italiens Diktator Mussolini geschlossen, um Jahrzehnte der Feindschaft zwischen Italien und der römisch-katholischen Kirche zu beenden. Das Abkommen hatte die Trennung von Kirche und Staat beendet, die das moderne Italien seit seiner Gründung vor 68 Jahren geprägt hatte. Ein neues Zeitalter begann, in dem die Kirche ein bereitwilliger Partner von Mussolinis faschistischer Regierung geworden war.

17 Jahre zuvor war der gerade zum Kardinal ernannte Achille Ratti 1922 überraschend Nachfolger von Papst Benedikt XV. geworden. Er wählte den Namen Pius XI. Noch im selben Jahr wurde Benito Mussolini, der 39 Jahre alte Parteichef der Faschisten, Ministerpräsident Italiens. Seitdem waren die beiden Männer politisch voneinander abhängig geworden. Der Diktator brauchte den Papst, um die katholische Unterstützung zu bekommen, die seinem Regime eine dringend notwendige moralische Legitimität verlieh. Der Papst zählte auf Mussolinis Hilfe, um die Macht der Kirche in Italien wiederherzustellen. Als Pius nun mit dem Federhalter in der Hand an diese Jahre zurückdachte, bedauerte er das zutiefst. Er hatte sich in die Irre führen lassen. Mussolini hielt sich anscheinend selbst für einen Gott und hatte sich mit Hitler verbündet, den der Papst verabscheute, weil er die katholische Kirche in Deutschland geschwächt hatte und eine heidnische Religion eigener Prägung förderte. Die schmerzhafte Szene vom letzten Frühjahr suchte ihn heim: Als der deutsche Führer im Triumph durch die historischen Straßen zog, war Rom in ein Meer rotschwarzer Nazifahnen getaucht gewesen.

Zwei Monate nach Hitlers Staatsbesuch schockierte Mussolini die Welt damit, dass er die Italiener zu einer reinen, überlegenen Rasse erklärte. Obwohl Juden seit der Zeit Jesu in Rom lebten, galten sie nun offiziell als schädliches, fremdes Volk. Der Papst war entsetzt. Warum ahmte der italienische Staatschef so eifrig den Führer nach?, fragte er in einer öffentlichen Audienz. Die Frage versetzte Mussolini in Wut, denn nichts ärgerte ihn mehr, als eine Marionette Hitlers genannt zu werden. Eilig glätteten die Männer aus der engsten Umgebung des Papstes die Wogen. Sie fürchteten die vielen Privilegien zu verlieren, die Mussolini der Kirche verliehen hatte, und zogen ohnehin autoritäre Regimes den Demokratien vor. In ihren Augen wurde der Papst im Alter unbesonnen. Er hatte schon die NS-Führung verstimmt; nun sorgten sie sich, er gefährde die Bindungen des Vatikans an das faschistische Regime.

In seinem Hauptquartier auf der anderen Seite des Tiber wetterte Mussolini gegen den Papst. Wenn die Italiener noch zur Messe gingen, dann nur, weil er sie dazu aufgefordert hatte. Ohne ihn würden Kirchenfeinde durch die Straßen Italiens ziehen, Kirchen plündern und den sich ängstlich duckenden Priestern Rizinusöl einflößen. Wenn in jedem Klassenzimmer und jedem Gerichtssaal ein Kruzifix an der Wand hing, wenn Priester in allen staatlichen Schulen lehren durften, dann nur, weil der Duce es befohlen hatte. Wenn der Staat großzügige Mittel für die Kirche aufwandte, geschah das durch seinen Willen, um eine für beide Seiten vorteilhafte Verständigung zwischen seiner faschistischen Regierung und dem Vatikan zu schaffen.

In der Nacht des 31. Januar wie auch in der Nacht davor blieb Pius lange auf, um seine Bemerkungen für die Bischofsversammlung aufzuschreiben. Der ehemals kerngesunde „Bergsteigerpapst“ mit dem breiten Brustkasten war abgemagert, sein früher volles Gesicht faltig und eingefallen. Doch alle, die ihn sahen, bemerkten seine Entschlossenheit, diese Ansprache zu halten. Er wollte nicht sterben, bevor er die Bischöfe gewarnt hatte, dass es überall faschistische Spione gab, auch in der Kirche. Es würde seine letzte Chance sein, Mussolinis Übernahme der rassistischen NS-Ideologie zu geißeln.

In der Woche, die bis zur Ansprache blieb, schmolzen aber die letzten Kraftreserven des Papstes dahin. Er konnte nicht mehr stehen und legte sich ins Bett. Eugenio Kardinal Pacelli, als Kardinalstaatssekretär der zweitmächtigste Mann im Vatikan, bat ihn, die Versammlung zu verschieben. Der Papst wollte nichts davon hören und ließ die vatikanische Tageszeitung schreiben, er erfreue sich guter Gesundheit. Als er am 8. Februar befürchtete, nicht stark genug zu sein, um in drei Tagen seine Ansprache zu halten, ließ er von der Vatikanischen Druckerei ein Exemplar für jeden Bischof drucken. In der Nacht darauf verschlechterte sich sein Zustand, und am frühen Morgen des 10. Februar atmete er nur noch mit Mühe. Man setzte ihm eine Sauerstoffmaske aufs Gesicht und bemühte sich, das weiße Käppchen nicht zu verschieben. Um vier Uhr morgens weckte man Kardinal Pacelli. Er eilte ans Bett des Papstes und fiel auf die Knie, um zu beten. Seine Augen röteten sich von Tränen.

Auf seinem einfachen Eisenbett tat Pius XI., der rapide schwächer wurde, bald seinen letzten schwachen Atemzug. Gott hatte seine letzte Bitte nicht erhört. Die Bischöfe würden ihn nicht im Petersdom sehen, sondern in der nahen Sixtinischen Kapelle, wo sein abgemagerter Leichnam am Nachmittag des 10. Februar auf einem Katafalk aufgebahrt wurde. Wer ihn in seiner Blütezeit erlebt hatte, erkannte ihn kaum noch. Es war, als läge jemand anders in der weißen Seidensoutane und der roten, hermelingesäumten Kappe des Papstes unter Michelangelos Deckenfresko.

Auf der anderen Seite des Tiber nahm Mussolini die Nachricht vom Tod des Papstes mit einem erleichterten Grunzen auf und hoffte, die Trauerfeier werde nicht das nächste Rendezvous mit seiner grünäugigen jungen Geliebten Clara Petacci verhindern. Doch eine letzte Sorge blieb. Im Lauf der Jahre hatte er ein dichtes Netz von Spionen im Vatikan installiert und las ihre Berichte aufmerksam. Vor kurzem hatte man ihn gewarnt, der Papst wolle eine aufrührerische Ansprache zum Jubiläum halten, die seine antisemitische Kampagne und die immer engeren Bindungen an Hitler verurteilte. Mussolini befürchtete, wenn der Text nun bekannt würde, könnte er immer noch als eine prophetische Botschaft des Papstes aus dem Grabe Schaden anrichten.

Es gab aber einen Mann, von dem der Diktator sich Hilfe versprach. Er nahm Kontakt zu Kardinal Pacelli auf, der in seiner Rolle als Camerlengo nun über Pius’ gesamten Nachlass bestimmte, einschließlich der handschriftlichen Aufzeichnungen auf seinem Schreibtisch und des Stapels frisch gedruckter Broschüren, die darauf warteten, an die Bischöfe verteilt zu werden. Mussolini wollte, dass alle Exemplare der Ansprache vernichtet würden.

Er vermutete nicht zu Unrecht, dass Pacelli sich nicht sträuben würde. Der Kardinal entstammte einer vornehmen römischen Familie, die seit Generationen in engem Verhältnis zu den Päpsten stand, und hatte in den letzten Monaten in der Furcht gelebt, der Papst könne sich gegen Mussolini stellen. Zu viel stand auf dem Spiel. Er verdankte dem Papst, der ihn zum Kardinalstaatssekretär gemacht und stark gefördert hatte, zwar sehr viel, empfand aber eine noch größere Verantwortung für den Schutz der Kirche. Er ließ den Schreibtisch des Papstes räumen und die gedruckten Exemplare der Ansprache beschlagnahmen.

Drei Wochen später wartete eine große Menschenmenge ungeduldig auf dem Petersplatz, während die Kardinäle im Konklave berieten. Als der dünne weiße Rauch über dem Apostolischen Palast aufstieg, erhob sich Jubel. „Habemus papam“, verkündete der Kardinalprotodiakon vom Balkon über dem Hauptportal des Petersdoms. Bald trat eine große, dünne Gestalt mit Brille in dem weißen Papstgewand und mit einer juwelenbesetzten Tiara heraus, um das Volk zu segnen. Eugenio Pacelli würde zu Ehren des Mannes, an dessen Totenbett er vor kurzem geweint hatte, den Namen Pius XII. annehmen.

Der erste Stellvertreter

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