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Vorwort

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„Stellvertreter Jesu Christi auf Erden“ – so lautet der wichtigste Titel des Papstes. Daraus leitet sich ein ungeheurer Anspruch ab, der nicht nur Unfehlbarkeit und universalen Primat umfasst, sondern bis ins Jenseits reicht: Was der Papst auf Erden bindet, das wird auch im Himmel gebunden sein, und was er hier löst, wird auch dort gelöst sein (Mt 16,19). So ist aber auch das Kriterium, nach dem das Reden und Handeln eines Papstes gemessen wird, kein geringeres als das Reden und Handeln Jesu Christi selbst. Die Seligpreisungen der Bergpredigt und im Extremfall Jesu Tod am Kreuz sind der Maßstab für den, der Stellvertreter Jesu sein will.

Nicht wenige Päpste wurden an diesem Maßstab gemessen – und für zu leicht befunden. Dies gilt in besonderer Weise für Pius XII. (1939–1958), der zur Ermordung von mehr als sechs Millionen Juden geschwiegen hat, wo er als Anwalt der Menschenwürde hätte schreien müssen, der zugesehen hat, wie Juden in die Vernichtungslager transportiert wurden, anstatt sich den Judenstern an die Soutane zu heften und stellvertretend nach Auschwitz in den Tod zu gehen. So lautet zumindest der Vorwurf, den Rolf Hochhuth Pius XII. in seinem Theaterstück „Der Stellvertreter“ gemacht hat. Ein Vorwurf, der bis heute nicht verstummt ist.

Der Vorgänger dieses Papstes, Pius XI. (1922–1939), galt nicht nur Hochhuth, sondern auch zahlreichen Historikern bisher als Antipode, als wahrer Stellvertreter Christi, der auf der Seite der verfolgten Juden stand, Hitler durch die Enzyklika „Mit brennender Sorge“ in seine Schranken verwies und eine Enzyklika gegen den Antisemitismus in Auftrag gab.

Nach der Lektüre von David Kertzers exzellent geschriebenem Buch wird man dieses Geschichtsbild revidieren müssen. Denn: Ohne Römische Kurie kein Faschismus, ohne Achille Ratti kein Benito Mussolini, ohne Pius XI. kein Duce – so kann man die Kernthese auf den Punkt bringen, auch wenn Kertzer sie nur implizit andeutet.

Kertzer schreibt im Grunde eine Parallelbiographie Mussolinis und Pius’ XI., auf breitester Quellenbasis und in stupender Kenntnis der Forschungsliteratur. Mussolini und Ratti waren beide Aufsteiger, beide standen für totalitäre Konzepte, der eine im Staat, der andere in der Kirche, beide lehnten Demokratie ab, verlangten unbedingten Gehorsam, hatten keine wirklichen Freunde, zeigten eine judenfeindliche Grundeinstellung. Ratti wollte einen katholischen, Mussolini einen faschistischen Staat, gemeinsam bekamen sie einen klerikal-faschistischen. Beide kamen 1922 an die Macht und stabilisierten ihre Herrschaft gegenseitig. Der Papst räumte Mussolinis politische Gegner, insbesondere die katholische Volkspartei, aus dem Weg, Mussolini überschüttete die katholische Kirche mit Geld und Privilegien. 1929 kam es schließlich zu den Lateranverträgen. Was mit demokratischen Regierungen nicht möglich war, funktionierte mit dem Faschismus: Nach fünf Jahrzehnten war die „Römische Frage“ endlich gelöst.

Zu spät erkannte Pius XI. seinen Fehler. Nach den italienischen Rassegesetzen versuchte der Papst endlich etwas für die verfolgten Juden zu tun, aus dem Antijudaisten wurde ein „geistlicher Semit“. Aber es war zu spät. Er wurde – wie Kertzer überzeugend darlegt – von Mussolini und Pacelli gebremst. Pius XI. war – folgt man Kertzer – der erste Stellvertreter, der den Faschismus und damit vielleicht auch den Nationalsozialismus überhaupt erst möglich machte. Aus der einstigen Lichtgestalt wird ein, wenn auch tragischer, Dunkelmann.

Seine weitreichenden Thesen kann Kertzer breit belegen. Wer sich mit der Geschichte des 20. Jahrhunderts beschäftigt, kommt an diesem Buch nicht vorbei. Für Kirchenhistoriker und interessierte Katholiken ist es ohnehin eine Pflichtlektüre, denn es stellt die Frage nach der Schuld der Kirche, die Johannes Paul II. im Heiligen Jahr 2000 aufgeworfen hat, noch einmal neu. Der Papst verlangte damals Antworten von den Historikern – Kertzer gibt eine. Nicht nur auf die wissenschaftliche Diskussion, die dieses Buch auslösen wird, darf man gespannt sein. Die Pflicht zur Lektüre wird zum Vergnügen, weil Kertzer in bester angelsächsischer Tradition einfach gut schreibt, Spannendes zu erzählen hat und die deutsche Übersetzung sehr gelungen ist. Ein Buch, das den Pulitzer-Preis voll und ganz verdient hat.

Münster, im Sommer 2016 Prof. Dr. Hubert Wolf
Der erste Stellvertreter

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