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Kapitel 3 Die tödliche Umarmung

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Falls Kardinal Gasparri oder Kardinal De Lai gehofft hatten, der neue Papst werde Wachs in ihren Händen sein, täuschten sie sich. Pius XI. wollte kein schwacher Papst sein. Seine Liebe zur Ordnung und sein tiefes Gefühl für Gehorsam bestimmten rasch den Ton seiner Amtszeit. „Er trägt die Tiara sogar beim Schlafengehen“, scherzte ein Priester im Vatikan. Seine Anordnungen seien „nicht sofort, sondern schneller als sofort“ zu befolgen, pflegte der Papst zu sagen. Für Geistliche, die von einem der vielen Verbote befreit werden wollten, die das Kirchenrecht enthielt, hatte er kein Verständnis. „Gesetze sind dazu da, befolgt zu werden“, sagte er ihnen. Der französische Geistliche Eugène Tisserant, der Achille Ratti aus seiner Bibliothekarszeit in Mailand kannte, bemerkte eine auffallende Veränderung. Sie hatten einander nahe gestanden, und Tisserant hatte Rattis unbeschwertere Seite kennengelernt. Als er 1918 Urlaub von der französischen Front bekam und Ratti in der Vatikanischen Bibliothek besuchte, hatte dieser ihn Benedikt XV. mit den Worten vorgestellt: „Heiliger Vater, hier ist mein Militärattaché.“ Doch nun schien er nicht mehr derselbe zu sein. Er war „so von der Größe seiner neuen Aufgabe überwältigt, dass er außerordentlich entfernt von uns schien“, bemerkte Tisserant.1

Die Betonung des Protokolls durch den neuen Pontifex zeigte sich schon bei der ersten Audienz für das diplomatische Korps zwei Wochen nach seiner Wahl. Als die Botschafter und Vertreter beim Heiligen Stuhl mit ihren zahlreichen Assistenten eintrafen, sahen sie den päpstlichen Thron am Ende des riesigen Saals stehen und nur sechs Stühle davor. Nur die Botschafter mit vollem diplomatischem Status durften sich setzen, alle anderen mussten stehen.2

Rattis Gefühl für die Würde seines Amtes war so ausgeprägt, dass er auch die eigenen Familienmitglieder auf Distanz hielt. Als der bescheidene Pius X. 1903 Papst geworden war, hatte er seine beiden unverheirateten Schwestern nach Rom geholt und in einer kleinen Wohnung über einem Laden nahe dem Petersplatz einquartiert. Sie besuchten ihn oft, schwatzten, tranken ein Glas Wein und beteten zusammen den Rosenkranz. Achille Ratti hatte seinen Geschwistern früher einmal nahe gestanden, aber nun, da er Papst war, empfing er sie nur, wenn sie bei seinem Sekretär um einen Termin nachsuchten und im Vorzimmer warteten. Bei diesen Anlässen bestand er darauf, dass sie ihn „Heiliger Vater“ und „Eure Heiligkeit“ nannten. Er ließ wissen, er wolle diese Besuche nicht zu oft, denn er sei der Vater einer viel größeren Familie, die seine Aufmerksamkeit erforderte. Als der Papst Jahre später auf dem Totenbett lag, bat seine ältliche Schwester, ihn sehen zu dürfen, um ihm Trost zu spenden. Sie wurde abgewiesen.3

Obwohl der neue Papst die zelanti verärgerte, weil er sein Versprechen hielt, Gasparri zum Kardinalstaatssekretär zu ernennen, war auch der modernistische Flügel der Kirche enttäuscht. Dass er bei seiner Namenswahl Pius IX. und Pius X. geehrt hatte, erschien als düsteres Vorzeichen. Ein Beobachter schrieb, was man in einem Augenblick so großer internationaler Spannungen brauche, sei viel mehr als „der engstirnige Horizont eines lebenslangen Schriftgelehrten, der die staubigen Lesesäle der Ambrosiana und des Vatikans jahrzehntelang nicht verlassen hat.“ Der britische Botschafter beim Heiligen Stuhl war ebenso wenig beeindruckt und schrieb, der neue Papst hinterlasse den Eindruck eines pedantischen Lehrers: „Vertausche sein Birett und seine Soutane mit dem Doktorhut und dem Talar, und fertig ist der Schulmeister, wie er in den victorianischen Schulgeschichten vorkommt.“ Der neue Papst sei zwar herzlich, scheine aber zu glauben, alle Laien seien Kinder, die belehrt werden müssten, nicht Menschen, von denen er vielleicht etwas lernen könne. War dieser Mann angesichts eines von der Revolution bedrohten Europa und eines Italien, dessen alte Ordnung in Trümmern lag, den kommenden Herausforderungen gewachsen?4

Der neue Pontifex umgab sich mit Mitarbeitern, denen er vertrauen konnte, und holte viele seiner Mailänder Assistenten nach Rom. Um seine Wohnräume und die Küche kümmerte sich Teodolinda Banfi, die nur Linda genannt wurde; sie sorgte bereits seit 36 Jahren für ihn und hatte zuvor 14 Jahre für seine Mutter gearbeitet.5 Er wählte auch den jungen Mailänder Priester Carlo Confalonieri als seinen Privatsekretär, dazu seinen anderen Mailänder Assistenten Diego Venini und paradoxerweise auch Giovanni Malvestiti, um seine Garderobe zu pflegen („Malvestiti“ bedeutet im Italienischen „schlecht angezogen“).6 Obwohl Ratti keinen anspruchsvollen Geschmack hatte, war er an Lindas Kochkünste gewöhnt. Als er 1926 beschloss, sie solle in den Ruhestand gehen, sagte er den deutschen Franziskanerinnen, die sie ersetzen sollten: „Ich möchte Euch nicht daran erinnern müssen: deutsche Präzision, deutsche Stille, aber keine deutsche Küche.“7

Jeden Morgen um sechs Uhr klingelte sein Wecker, und nach dem ersten Gebet feierte er die Messe in seiner Privatkapelle, gefolgt von einem leichten Frühstück. Seine Dreizimmerwohnung im dritten Stock lag im linken Flügel des U-förmigen Apostolischen Palastes, der den San-Damaso-Hof umschloss. Über Berninis Kolonnaden blickte man direkt auf den Petersplatz. Sein Schlafzimmer war einfach, nicht anders als das eines Dorfpriesters, mit einem eisernen Bettgestell und einer altmodischen Kommode, auf der eine weiße Decke lag. An der Wand hingen Fotos seiner Eltern und seines Bruders sowie religiöse Gemälde.

Nach dem Frühstück begab sich der Papst in sein Büro – er nannte es seine „Bibliothek“ – ein Stockwerk tiefer, wo er zunächst seine Post und die italienischen, deutschen, französischen, britischen und amerikanischen Zeitungen las. Der große Raum enthielt nur wenige Möbel und einen kleinen Teppich unter dem Schreibtisch. Ein paar alte Gemälde hingen an den Wänden. Der Papst saß in einem verschnörkelten Louis Quinze-Sessel, auf seinem Schreibtisch stapelten sich Bücher, daneben stand ein großes Kruzifix, außerdem verrieten ein Kompass und ein Barometer seine wehmütige Erinnerung an frühere Alpentouren. Drei Fenster, deren Vorhänge geöffnet waren, um die Sonne hereinzulassen, gingen hinter ihm auf den Petersplatz. Beim Eintreten sahen Besucher die Umrisse einer weißen Gestalt hinter dem Schreibtisch sitzen. Davor standen drei Stühle. Eine der wenigen persönlichen Noten, die der Papst sich gestattete, war ein Bücherständer, auf dem stets eines seiner Lieblingsbücher aufgeschlagen lag.8

Die täglichen Termine begannen für Pius XI. um neun Uhr, oft mit einem Treffen mit dem Kardinalstaatssekretär. Wenn Besucher eintraten, sanken sie auf ihr Knie, das bei vielen bereits zitterte, denn wegen des autoritären Wesens des Papstes, seiner brüsken Art und seinem Beharren auf der minutiösen Ausführung seiner Befehle fühlten sie sich nur selten wohl. Dann erhoben sie sich, traten einige Schritte vor und beugten das Knie erneut, bevor sie die letzten zwei Schritte vortraten und die Prozedur noch einmal wiederholten. Wegen der Enge und ihrer Nervosität stolperten manche. Luigi Sincero, einer der höchsten Kardinäle, verglich die Vorbereitung auf eine Papstaudienz damit, sich als Schüler auf eine Prüfung vorzubereiten. Andere hohe Geistliche bekannten, beim Eintreten nervös ein Gebet zu sprechen. Beim Abschied beugten die Besucher erneut das Knie und wiederholten die drei Verbeugungen, wenn sie rückwärts hinausgingen.9


Bild 5: Pius XI. an seinem Schreibtisch, 1922.

Nachdem der letzte Besucher gegangen war, oft nicht vor 14 Uhr, nahm der Papst sein Mittagessen ein. Er aß gern Risotto mit Safran nach Mailänder Art oder eine dicke Gemüsesuppe und ein Stück Fleisch mit gekochtem Gemüse, danach Obst. Dazu trank er ein halbes Glas Wein und mehrere Gläser Wasser. Vielleicht zeigte nichts deutlicher seine Auffassung von der Würde des Pontifex als sein Beharren, allein zu essen. Pius X. und Benedikt XV. hatten mit ihren Assistenten oder mit besonderen Gästen gegessen, aber Pius XI. erlaubte niemandem, in seiner Gegenwart zu essen, obwohl seine Gehilfen neben ihm standen, um Berichte vorzutragen und seine Befehle aufzuschreiben. Wenige Wochen nach seiner Wahl brachten seine müden Assistenten, die nicht viele Jahre mit Stehen verbringen wollten, während er aß, heimlich kleine Hocker herein, die sie an die Wand stellten. Wenn ihre Berichte beendet waren, setzten sie sich. Der Papst blickte erstaunt von seinem Teller auf, sagte aber nichts. Die Hocker blieben stehen.10

Nach einem kurzen Nickerchen ging der Papst um vier Uhr hinaus in den Innenhof, wo Schweizergardisten, die ihn erwarteten, niederknieten und die rechte Hand ans Barett legten, während die linke den langen Schaft mit der Axt umklammerte.11 In jenen ersten Wochen saß ein älterer Kutscher mit einer langen Peitsche in der rechten Hand auf dem Bock einer Kutsche mit zwei schönen schwarzen Pferden. Nach wenigen Monaten wurde die Kutsche vom ersten Auto des Papstes abgelöst. Nach einer kurzen Fahrt spazierte der Papst etwa eine Stunde lang durch die Vatikanischen Gärten, die Hände oft hinter dem Rücken, über dem weißen Käppchen ein schwarzer Filzhut. Bei kühlerem Wetter trug er einen weißen doppelreihigen Mantel, der bis zu den Füßen reichte. Dies war kein gemütliches Schlendern, sondern ein entschlossenes Voranschreiten, wie es sich für den „Bergsteigerpapst“ ziemte, wenn er mehrmals die Gärten umwanderte. Ein Mitarbeiter in schwarzer Soutane mit Priesterkragen bemühte sich, mehrere Schritte hinter ihm den Anschluss zu halten.

Nach seinem Spaziergang widmete der Papst eine Stunde dem privaten Gebet und ging dann in sein Arbeitszimmer zurück. Um sechs oder sieben Uhr begann eine neue Reihe von Audienzen, vor allem mit Mitgliedern der Kurie, der Zentralverwaltung des Heiligen Stuhls. Danach betete er mit seinen Sekretären den Rosenkranz und aß um 22 Uhr zu Abend. Als letztes ging er jeden Abend noch einmal in sein Arbeitszimmer und holte ein fest eingebundenes Register hervor. Darin verzeichnete er alle Geschenke, die er den Tag über erhalten hatte, und alle Ausgaben. Um Mitternacht ging er zu Bett.12

Das Rom dieser Jahre war voller Kontraste: Antike, Mittelalter und frühe Moderne rieben sich am Neuen. Seit italienische Soldaten die Stadt 1870 erobert hatten, hatte die soziale Landschaft sich verändert. Klöster waren zu Regierungsgebäuden und Schulen geworden. Männer aus dem Norden strömten in die Stadt, um Regierungsposten in der neuen Hauptstadt Italiens anzutreten, und verarmte Bauern kamen mit ihrem ganzen Besitz auf Ochsenkarren mit Holzrädern aus Mittel- und Süditalien, weil die rasch wachsende Bevölkerung aus Beamten und die Bauindustrie neue Arbeitsplätze schufen.

Obwohl Rom nicht mehr von der katholischen Kirche regiert wurde, schien immer noch an jeder Ecke eine Kirche zu stehen. Priester in schwarzen Soutanen, Nonnen in Ordenstracht, Dominikaner mit Tonsur in weißen und Franziskaner in braunen Kutten, griechischkatholische Seminaristen in blauen Soutanen mit roten Schärpen und ein Kaleidoskop anderer Mönche und Seminaristen drängte sich durch die Straßen. Carabinieri mit Napoleonshüten und rotgestreiften Hosen mischten sich mit Soldaten und städtischen Polizisten. Säugammen, denen die Mittelschicht ihre Kinder anvertraute, drängten sich mit ihren Schutzbefohlenen durch die Menge.

Obwohl viele Römer von allem Neuen beeindruckt waren – nicht zuletzt der elektrischen Straßenbahn, deren Schienen kreuz und quer über das Kopfsteinpflaster verliefen, und den immer zahlreicheren Autos auf den engen, gewundenen, unebenen Straßen –, ließ vieles ein Land erkennen, das in der Mehrzahl noch aus halb-analphabetischen Bauern bestand. Pferdegezogene Weinkarren kamen in die Stadt, um die vielen Osterien zu beliefern. Schilder vor den vornehmeren dieser Restaurants versprachen vini scelti und ottima cucina. Daneben boten viele einfachere Lokale nur pane e pasta an. Kleine Lebensmittelläden mit einem vielfarbigen Angebot an Obst und Gemüse säumten die Straßen und dienten zugleich ihren Besitzern als Wohnung. Zu Beginn des Frühjahrs kamen kleine Tomaten aus dem Süden, nicht größer als Trauben. Gemüsehändler schichteten Karotten, Rüben und Broccoli kunstvoll um ihre Ladentüren auf. Die Römer kauften auch auf den kleinen Märkten ein, die jeden Morgen auf den kleinen Plätzen der Stadt öffneten. Hier schichteten die Händler eindrucksvolle Pyramiden aus Orangen, Äpfeln und weißen Feigen auf. Pastaverkäufer häuften frische Maccheroni und Spaghetti auf. Gerupfte Hühner hingen mit dem Kopf nach unten am Gerüst der Stände. Glänzende, dicht gepackte Reihen von Fischen warteten auf zahlungskräftige Kunden.

Die großen Märkte, deren Stände durch große Schirme vor Sonne und Regen geschützt waren, zogen ein breites Spektrum von Käufern an. Fürstliche Haushofmeister in Pelzmänteln drängten sich neben armen Frauen in gestrickten Bauerntüchern. Nachdem sie um den Preis gefeilscht hatten, verpackten die Frauen ihre bescheidenen Einkäufe in große karierte Taschentücher. Blumenhändlerinnen balancierten große Körbe voller Narzissen, Mimosen, Nelken und Veilchen auf dem Kopf. Trödler priesen ihr buntes Angebot aus Kleidern, Klappmessern und Zwiebeln an, die Waren über die Schulter gehängt oder auf einem Tablett, das an einem Riemen um den Hals getragen wurde.

Ab und zu sah man einen vornehmen, gut gekleideten Mann mitten auf der Piazza an einem Tischchen sitzen. Auf Bänken saßen seine Kunden – vor allem alte Männer und Frauen – um ihn herum. Vor sich hatte er ein Tintenfässchen, einige Blatt Papier und einen Löschblock. Er schrieb Briefe und füllte Formulare für jene aus, die nicht lesen und schreiben konnten. Priester wussten, in welchen Straßen Kleidung für Geistliche verkauft wurde. Seminaristen kannten die Stände mit antiquarischen Büchern. Touristen schauten in ihre Reiseführer, um die Stände mit Antiquitäten und Schmuck zu finden, manches davon sogar echt. Alte Frauen blieben gelegentlich an einem bescheidenen Schrein an der Straße stehen und sprachen ein Gebet zum verblassenden Bild der Jungfrau mit dem Kind, das den Mauerputz zierte.

Maultiere und Esel trugen Ziegelsteine und Fässer, am Zaumzeug scharlachrote Quasten, auf dem Rücken scharlachrote Tücher. Wäsche hing an Leinen über den schmalen Straßen. Schuster und Steinmetze verrichteten ihre Arbeit in winzigen dunklen Läden. Frauen riefen aus den Fenstern, um mit den Trödlern unten auf der Straße zu handeln. Sie legten das Geld in einen Korb und ließen ihn an einem Seil herunter, dann legte der Verkäufer die Waren hinein. Wenn die brennende Sonne in Wolken und Regengüsse überging, öffneten sich überall Regenschirme, von den zerschlissenen grünen der Lumpensammler bis zu den glänzenden schwarzen, die uniformierte Lakaien über die Köpfe der vornehmen Bürger hielten. Außer auf den Autos, die keinen brauchten, steckte auf fast jedem Fahrzeug ein Schirm. Zu Beginn des Jahrhunderts bemerkte jemand: „Es gibt kaum groteskere Silhouetten in Rom als die Kutscher mit ihren müden Pferden mit Hirschhals und den offenen, klapprigen Viktoria-Kutschen unter Regenschirmen, die alten Pilzen ähneln.“13


Bild 6: Pius XI. auf seinem Spaziergang in den Vatikanischen Gärten mit Monsignore Carlo Confalonieri.

Der Papst bekam von all dem nichts zu sehen, denn er weigerte sich, den Vatikan zu verlassen. Jahrzehntelang hatten alle Päpste die Demütigung erlitten, auf einem kleinen Flecken umgeben von dem Staat zu leben, der das Land der Kirche erobert und ihre politische Macht drastisch reduziert hatte. Das benachbarte Stadtviertel zwischen den vatikanischen Palästen und dem Tiber behielt etwas vom Geruch, den Geräuschen und der Atmosphäre des alten Regimes, ein schäbiges, überbevölkertes Gewirr von Straßen und Gässchen. Erst wenn Besucher durch die engen Straßen voller Läden mit frommen Andenken weiter nach Westen gingen, tauchte plötzlich die Pracht des Petersdoms und der Kolonnaden Berninis vor ihnen auf.14

Die Entscheidung des Papstes, über eine Unterstützung Mussolinis nachzudenken, überraschte viele in der Kirche. Niemanden brachte sie mehr in Verlegenheit als Pater Enrico Rosa, den Chefredakteur von La Civiltà Cattolica, der den Faschismus in dieser Zeitschrift bis zu Mussolinis Regierungsantritt als einen der schlimmsten Feinde der Kirche attackiert hatte. Wenige Tage vor dem Marsch auf Rom hatte Rosa davor gewarnt, die faschistische Bewegung sei „gewalttätig und antichristlich, angeführt von Männern, die Böses im Schilde führen … das gescheiterte Projekt des alten Liberalismus, der Freimaurer, Großgrundbesitzer, reichen Fabrikanten, Journalisten, angeberischen Politiker und anderer Leute dieser Art.“15

La Civiltà Cattolica war 1850 gegründet worden, kurz nachdem Papst Pius IX. aus dem Exil, in das ihn der Aufstand von 1848 gezwungen hatte, nach Rom zurückgekehrt war. Zweimal im Monat legte der Chefredakteur die Fahnen des neuen Hefts dem Vatikanischen Staatssekretariat zur Genehmigung vor.16

Der 52 Jahre alte Rosa war 17 Jahre zuvor in die Redaktion der Jesuitenzeitschrift gekommen und 1915 von Benedikt XV. zu ihrem Leiter ernannt worden. Trotz seiner Erfahrung hatte er irgendwie die Zeichen des päpstlichen Kurswechsels verpasst. Als er Rosas neuste antifaschistische Tirade las, war der Generalobere der Societas Jesu, der sich als besonders offen für den Faschismus erweisen sollte, außer sich. Er befahl Rosa, seinen Ton zu ändern.17 Schlimmer noch, Rosa erfuhr, dass auch Pius XI. seine Meinung geändert hatte. Der Papst hatte in Mussolini etwas gesehen, das ihm gefiel. Trotz all ihrer Unterschiede teilten beide Männer einige wichtige Werte. Keiner von beiden hegte Sympathien für die parlamentarische Demokratie oder glaubte an Rede- oder Vereinigungsfreiheit. Beide sahen den Kommunismus als große Bedrohung und glaubten, Italien stecke tief in der Krise und das gegenwärtige politische System sei nicht mehr zu retten.18

Ein Gespräch des Papstes mit Pater Agostino Gemelli – der kurz zuvor die Katholische Universität in Mailand gegründet hatte und dem Pontifex nahe stand – bietet einen Einblick in die Haltung Pius XI. gegenüber Mussolini in den ersten Wochen der neuen Regierung: „Lob, nein“, sagte der Papst, aber „das offene Organisieren einer Opposition ist keine gute Idee, weil wir viele Interessen schützen müssen.“ Vorsicht war geboten. „Halten Sie die Augen offen!“, war sein Rat.19

Der Papst wies Rosa an, den faschismuskritischen Artikel zu streichen, den er für das nächste Heft entworfen hatte, und stattdessen einen freundlicheren Kommentar zu drucken.20 Rosa schrieb nun: „Wenn eine Regierung auf legale Weise gebildet wird, auch wenn sie vielleicht zunächst fehlerhaft oder sogar in mancher Hinsicht fragwürdig war …, hat man die Pflicht, sie zu unterstützen, das erfordert die öffentliche Ordnung oder das Gemeinwohl. Es ist Einzelnen oder Parteien auch nicht erlaubt, ihren Umsturz oder ihre Ablösung durch unrechte Methoden zu planen.“21

Obwohl La Civiltà Cattolica weiterhin einzelne faschistische Gewalttaten gegen katholische Organisationen anprangerte, griff sie nie wieder Mussolini oder den Faschismus an. Ganz im Gegenteil: Die Zeitschrift arbeitete auf Wunsch des Vatikans von nun an daran, den Faschismus in den Augen aller guten Katholiken in Italien und im Ausland zu legitimieren.22

Die neuen Hoffnungen des Papstes auf Mussolini wuchsen weiter, als der Premierminister seine erste Rede mit der Bitte um Gottes Hilfe beendete; kein italienischer Regierungschef seit der Staatsgründung hatte je das Wort „Gott“ in den Mund genommen. Kardinalstaatssekretär Gasparri sah ebenfalls Grund zur Hoffnung. „Die Vorsehung bedient sich seltsamer Werkzeuge, um Italien mit ihrer Gnade zu beglücken“, sagte er zum belgischen Botschafter. Mussolini sei nicht nur ein „bemerkenswerter Organisator“, sondern auch „ein großer Charakter“. Zugegeben, der neue Premierminister wisse nichts von Religion, setzte Gasparri schmunzelnd hinzu: Mussolini meinte, alle katholischen Feiertage fielen auf einen Sonntag.23

In seiner ersten Enzyklika Ubi arcano, veröffentlicht im Dezember 1922, stellte Pius XI. die Ziele seiner Amtszeit dar.24 Er beklagte die Versuche, Kruzifixe aus den Schulen und Regierungsgebäuden zu entfernen. Außerdem schrieb er, „die Schranken der Sittsamkeit, namentlich in Mode und Tanz“ seien „niedergerissen durch die Leichtfertigkeit von Frauen und Mädchen“. Er warnte vor der irrigen Idee, eine Gesellschaft könne durch die Abkehr von der Kirche Fortschritte erreichen: „Noch mehr, vielerorts schwindet die wahrhaft christliche Lebensführung, so daß die Menschheit, weit entfernt von jedem unbegrenzten, mannigfachen Fortschritt, dessen sie sich zu rühmen pflegt, vielmehr in die wildeste Barbarei zurückzufallen scheint.“ Er betonte, wie wichtig der Gehorsam gegenüber den richtigen Autoritäten sei, und knüpfte an den Kampf Pius X. gegen den „Modernismus“ an. Der Völkerbund, auf den so viele Europäer ihre Hoffnungen auf Frieden setzten, galt ihm wenig: „Es gibt eben keine menschliche Instanz, die alle Völker auf ein zeitgemäßes internationales Gesetzbuch verpflichten könnte, wie es im Mittelalter bei der christlichen Völkerfamilie, einem wahren Völkerbund, der Fall war.“ Der Plan des Papstes war es, das Reich Christi auf die Erde zu holen. Im Grunde war es eine mittelalterliche Vision.25

Unterdessen skizzierte Mussolini seinen eigenen autoritären Plan. „Ich bekräftige, dass die Revolution ihre Rechte hat“, sagte er in seiner Eröffnungsrede vor dem Parlament. „Ich bin hier, um die Revolution der Schwarzhemden zu verteidigen und ihr so viel Macht wie möglich zu geben. … Mit 300.000 bewaffneten jungen Männern im ganzen Land, die zu allem bereit und mir fast mystisch ergeben waren, hätte ich alle bestrafen können, die den Namen des Faschismus beleidigt und zu beschmutzen versucht haben.“26

Ende Dezember berief Mussolini die erste Sitzung des Faschistischen Großrats ein, der über die wichtigsten Fragen der Regierungsarbeit und der Parteiorganisation beraten sollte. Im folgenden Monat bestätigte der Rat die Überführung der vielfältigen faschistischen Milizen in die Freiwillige Miliz für Nationale Sicherheit. Diese Einheiten hatten vorher den lokalen Faschistenchefs gehorcht, nun wollte Mussolini sie deren Kontrolle entziehen. Im Gegensatz zur regulären Armee, die dem König Gehorsam schwor, schworen die Mitglieder der Miliz auf Mussolini.27

Er bemühte sich rasch, seine Versprechen gegenüber dem Vatikan zu erfüllen, um zu zeigen, dass er tun konnte, wozu die Volkspartei nicht fähig war. Er würde die Privilegien, die die Kirche vor der italienischen Einigung genossen hatte, wiederherstellen. Er befahl, in allen Klassenzimmern des Landes Kruzifixe aufzuhängen, dann auch in allen Gerichtssälen und Krankenhäusern. Einen Priester zu beleidigen oder abwertend von der katholischen Religion zu sprechen, wurde zur Straftat. Armeeeinheiten bekamen wieder katholische Seelsorger, Priestern und Bischöfen bot er eine bessere staatliche Versorgung an, und zur besonderen Freude des Vatikans führte er katholischen Religionsunterricht in den Grundschulen ein. Er überhäufte die Kirche mit Geld, darunter 3 Millionen Lire zur Behebung von Kriegsschäden an Kirchen und zur Unterstützung kirchlicher italienischer Schulen im Ausland. In Dörfern und Städten im ganzen Land wurden bei Mussolinis vielen pomphaften Besuchen Bischöfe und Gemeindepriester ermutigt, ihn um Gelder für die Kirchenreparatur zu bitten. Um seine katholische Reputation noch weiter zu steigern, ließ er Ende 1923 seine Frau Rachele und die gemeinsamen Kinder Edda, Vittorio und Bruno taufen. Rachele, deren antikirchliche Haltung stärker war als die ihres Mannes, tat es nur widerwillig. Sie war im Herzen der roten Romagna aufgewachsen und hatte früh gelernt, die Priester und den Reichtum und die Macht der Kirche zu verabscheuen.28

Weil viele Italiener und ausländische Beobachter unsicher waren, was sie vom neuen Staatschef Italiens und seiner gewalttätigen faschistischen Bewegung halten sollten, spielte die Zustimmung des Vatikans eine große Rolle bei der Legitimierung des neuen Regimes. In einer weithin zitierten Äußerung lobte Vincenzo Kardinal Vannutelli, der Dekan des Kardinalskollegiums, Mussolini als den Mann, „der schon jetzt von allen Italienern als Neuerbauer des Schicksals der Nation im Einklang mit ihren religiösen und zivilen Traditionen gefeiert wird.“29

Mussolini war darauf bedacht, seine wachsende Bindung an den Vatikan durch ein Treffen mit Kardinalstaatssekretär Gasparri weiter zu festigen. Auch dieser stammte aus bescheidenen Verhältnissen. „Ich wurde am 5. Mai 1852 in Capovallazza geboren, einem der Weiler, aus denen das Dorf Ussita besteht“, berichtete Gasparri in seinen maschinengeschriebenen Memoiren, „mitten in den Sibillinischen Bergen, etwa 750 Meter über dem Meer. Saubere Luft, wundervolle Aussicht, gesunde, hart arbeitende, ehrbare Leute mit großen Familien, und die Gasparri-Familien waren die größten von allen.“ Seine Eltern hatten zehn Kinder, unter denen er als jüngstes naturgemäß der Liebling war. Während seine neun Geschwister „sehr kräftig und lebhaft“ waren, „war ich schwach und etwas kränklich, so dass manche sehr zu Mamas Unwillen vorhersagten, ich würde nicht alt werden.“ Wenn sein Vater, wie so oft, bei den Schafen auf der Weide schlief, unterhielt der kleine Pietro die Familie. Sie kauerten sich vor dem Kamin aneinander, und er las ihnen Heiligengeschichten vor. Alle weinten, wenn er von den schrecklichen Prüfungen erzählte, welche die Märtyrer Christi erlitten hatten. „Mutter vererbte das Geschenk der Tränen an alle ihre Kinder, besonders an mich.“30

Gasparris Treffen mit Mussolini musste sehr sorgfältig vorbereitet werden, denn man durfte den Kardinalstaatssekretär nicht mit dem Regierungschef sehen – der Heilige Stuhl hatte Italien noch immer nicht anerkannt. Das Geheimtreffen wurde von Gasparris altem Freund Carlo Santucci arrangiert. Er gehörte einer Adelsfamilie an, die den Päpsten nahe stand, und war als eines der ersten Mitglieder der Volkspartei zu den Faschisten übergewechselt. Sein Haus hatte eine wertvolle Besonderheit: Es lag an einer Ecke mit Eingängen in zwei verschiedenen Straßen.

Am 19. Januar traf Mussolini zusammen mit seiner rechten Hand Acerbo mit dem Auto ein; dieser wartete vor dem Gebäude, während der Premierminister ins Haus ging. Mussolini trat durch die eine Tür ein und wurde von Santuccis Vater begrüßt, während der Kardinal die andere Tür nahm und von dessen Mutter begrüßt wurde.


Bild 7: Pietro Kardinal Gasparri, Kardinalstaatssekretär, 1914–1930.

Die Hauptfrage, die Gasparri an diesem Tag bewegte, war nicht, ob der Vatikan dabei helfen würde, die italienische Demokratie zu beenden, denn der Vatikan hatte für demokratische Regierungen nicht viel übrig. Die Frage war vielmehr, ob man Mussolinis Versprechen, den Einfluss der Kirche in Italien wiederherzustellen, trauen konnte und wie groß seine Erfolgsaussichten dabei mit der Hilfe der Kirche waren.31

Für Mussolini, den man früher einen mangiaprete (Priesterfresser) genannt hatte, ging es um viel. Wenn er derjenige sein konnte, der die Harmonie zwischen Kirche und Staat wiederherstellte, wenn er den Segen des Papstes für seine Regierung gewinnen und den Konflikt beenden konnte, würde er erfolgreich sein, wo alle seine Vorgänger gescheitert waren. Er würde in der ganzen katholischen Welt zum Helden werden.

Eineinhalb Stunden lang sprachen die beiden Männer unter vier Augen. Als Gasparri ging, sagte er Santucci, wie zufrieden er mit der Begegnung sei, und nannte Mussolini „einen Mann erster Ordnung“. Mussolini eilte ohne ein Wort zur anderen Tür hinaus. Im Auto war Acerbo begierig, vom Inhalt des Treffens zu erfahren. „Wir müssen sehr vorsichtig sein“, sagte Mussolini, „denn diese ehrwürdigen Männer sind sehr schlau. Bevor sie sich auch nur auf vorläufige Diskussionen einlassen, wollen sie sicher sein, dass unsere Regierung stabil ist.“32

An diesem Tag trafen die beiden Männer eine Entscheidung. Sie einigten sich auf einen geheimen Zwischenträger, dem sowohl der Papst als auch Mussolini vertrauen konnten, ihre Botschaften über die heikelsten Fragen zu überbringen.

Es ist nicht ganz sicher, wie sie auf den 61 Jahre alten Jesuiten Pietro Tacchi Venturi kamen.33 Er war 1861 in eine wohlhabende Familie in Mittelitalien geboren worden; sein Vater, ein Rechtsanwalt, bewahrte stolz die Flinte auf, mit der er 1849 geholfen hatte, Garibaldis Truppen zurückzuschlagen und Rom für den Papst zurückzuerobern. Pietro ging schon früh aufs Priesterseminar in Rom, das gerade dem neuen Königreich Italien angegliedert worden war. 1896 begann er mit der Arbeit an der offiziellen Geschichte des Jesuitenordens und verbrachte den größten Teil der folgenden zwei Jahrzehnte mit Forschungen, die ihn in Bibliotheken, Archive und Klöster in ganz Europa führten. Der erste Band erschien 1910. Während des Ersten Weltkriegs musste der Generalobere der Jesuiten, Wlodzimierz Ledóchowski, ein Pole aus dem Habsburgerreich, als Staatsangehöriger eines feindlichen Landes Italien verlassen. Tacchi Venturi, der 1914 Generalsekretär des Jesuitenordens geworden war, leitete die Aktivitäten der Jesuiten in Rom.34


Bild 8: Pietro Tacchi Venturi, S. J.

Der von einem Ordensbruder als „mager und ernst“ beschriebene Tacchi Venturi wirkte genau wie ein strenger Jesuit. Seine Kahlköpfigkeit ließ sein Gesicht oval erscheinen; die spitzen Ohren setzten sich von dem grauen Haarkranz auf dem Hinterkopf ab. In seinem schwarzen Gewand und dem weißen Kragen strahlte er Ernsthaftigkeit und Stärke aus.35

Achille Ratti begegnete dem Jesuitenpater zuerst 1899, als Tacchi Venturis Recherchen ihn in die Ambrosiana führten.36 Mussolini hatte von ihm anscheinend zuerst durch seinen Bruder Arnaldo gehört, der mit dem Jesuiten in den Monaten während des Krieges, als er sich in Rom aufhielt, ein freundschaftliches Verhältnis entwickelte.37 Kurz vor dem Geheimtreffen mit Gasparri war Mussolini Tacchi Venturi selbst begegnet. Wenige Wochen nach seinem Machtantritt erkannte Mussolini, dass eines der leichteren Dinge, mit denen er sich beim Papst beliebt machen konnte, die Übergabe der Chigi-Bibliothek an den Vatikan war. Die Regierung hatte den Palazzo Chigi – zunächst Sitz von Kolonial- und Außenministerium, später wie heute Amtssitz des italienischen Ministerpräsidenten – 1918 erworben. Der Palast enthielt auch eine Privatbibliothek mit 3000 Manuskripten und 30.000 Büchern, die Papst Alexander VII. im 17. Jahrhundert begründet hatte. Achille Ratti hatte als Leiter der Vatikanischen Bibliothek von diesem Kauf erfahren und erfolglos versucht, die Sammlung anzukaufen. Als der Premierminister nun eine Schenkung anbot, schickte der Vatikan Tacchi Venturi, um die Bibliothek zu bewerten. Mussolini hörte eines Tages, der Jesuit sei im Palast, und erinnerte sich vielleicht, dass sein Bruder gut von ihm gesprochen hatte, also ließ er ihn in sein Büro bitten. Diese Begegnung Ende 1922 sollte das erste von vielen Treffen zwischen dem Jesuiten und dem Duce in den nächsten beiden Jahrzehnten werden.38

Diese frühen Diskussionen trugen wenig dazu bei, die faschistische Gewalt gegen Priester und katholische Aktivisten zu beenden, die der Sympathie für die Volkspartei verdächtigt wurden. Drei Wochen nach Mussolinis Regierungsantritt verurteilte der Bischof von Vicenza öffentlich die neusten Angriffe auf örtliche Priester und drohte, die Täter zu exkommunizieren.39 In Ascoli Piceno, in den Bergen östlich von Rom, zwang eine Faschistengruppe einen Priester, der eine Zeitung herausgab, einen Liter Rizinusöl zu trinken.40

Im Dezember stürmten 40 Faschisten mit Holzknüppeln ein Treffen der katholischen Jugend in Kirchenräumen der nordwestitalienischen Stadt Aosta, zerschlugen Türen, Fenster und Billardtisch und zerstörten dazu das Kruzifix und die Heiligenbilder an den Wänden. Als ein entrüsteter Zeuge sie zu stoppen versuchte, schlugen sie ihn zusammen.41 In derselben Woche befahlen faschistische Schläger in Padua einem Jugendlichen, seine Plakette der katholischen Jugend zu entfernen. Als er sich mutig weigerte, hielt ihm einer eine Pistole an den Kopf und ein anderer riss die Plakette ab.42 Und an einem Dezemberabend hielt ein Wagen vor einem katholischen Jugendclub bei Vicenza. Sieben Schwarzhemden mit Gewehren stiegen aus. Drei von ihnen stürmten hinein, zielten drohend auf die 20 verängstigten Jugendlichen und befahlen ihnen, ruhig zu sein. Dann richteten sie die Gewehre auf zwei Priester, die das Treffen leiteten, und zwangen sie, Flaschen mit Rizinusöl auszutrinken.43 Das ganze Jahr 1923 über gingen solche Angriffe weiter und wurden pflichtschuldig in der Tageszeitung des Vatikans gemeldet und bedauert. Doch wenn in den folgenden Jahren wieder Gewalt ausbrach, äußerte die katholische Presse übereinstimmend, die Attacken seien das Werk isolierter Extremisten, über die Mussolini keine Kontrolle habe.44

Ortsgruppen der Katholischen Aktion, die Pius X. 1905 als Dachverband zur Organisation katholischer Laien gegründet hatte, wurden am häufigsten attackiert.45 Keine Gruppe lag Pius XI. mehr am Herzen, der sich den Ruf als „der Papst der Katholischen Aktion“ erwarb. Es gab eigene Gruppen für Männer und Frauen, Jungen und Mädchen. Studenten hatten eine eigene, nach Universitäten gegliederte Sparte. Die Aktivitäten der Katholischen Aktion sollten religiös und erziehend sein, gingen aber weit darüber hinaus, denn der Papst betrachtete ihre Mitglieder als Bodentruppen für die Rechristianisierung der italienischen Gesellschaft, und dazu gehörten mehr als Gebete und Lehrstunden. Um die Organisation zu beaufsichtigen, ernannte er Monsignore Giuseppe Pizzardo, Substitut im Staatssekretariat und einer der zwei engsten Mitarbeiter Gasparris, zu ihrem Seelsorger. Die Leitung sollte bei der Kirchenhierarchie liegen. „Ihr braucht bloß den Rat und die Anweisungen von oben zu befolgen“, erklärte der Papst einmal einer Gruppe von Laienführern der Katholischen Aktion.46

Der Papst war unglücklich und verärgert über die Angriffe auf Gemeindepriester und Vereinslokale der Katholischen Aktion, aber Mussolini erwies sich als geschickt im Gebrauch der Gewalt zu seinem Nutzen, denn er überzeugte den Papst, er sei der einzige Mann in Italien, der die Schläger unter Kontrolle halten könne. Die Berichte im Osservatore Romano über Prügelattacken und das Einflößen von Rizinusöl endeten fast immer mit respektvollen Bitten an Mussolini, die Verantwortlichen zu bestrafen. Manchmal, wenn die Gefühle besonders verletzt waren, ließ er ein paar Leute verhaften, aber die Täter wurden nur selten vor Gericht gestellt, geschweige denn verurteilt.

Anfang 1923 konnte Mussolini seine Strategie mit Recht für erfolgreich halten. Ein Abkommen mit dem Papst nahm Gestalt an. Obwohl er die Gewalt nicht aufgab, die so viel Wirkung beim Einschüchtern seiner Gegner gezeigt hatte, wollte er den Papst nicht übermäßig verärgern. Er würde weiterhin Privilegien wiederherstellen, die die Kirche seit Jahrzehnten verloren hatte. Im Gegenzug sollte der Papst den letzten katholischen Widerstand gegen seine Herrschaft beseitigen.

Der erste Stellvertreter

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