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Kapitel 8 Der Pakt

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Die „Römische Frage“ hatte die Politiker des Landes geplagt, seit das Königreich Italien, das 1861 aus der Asche des Kirchenstaats entstand, sich neun Jahre später auch Rom einverleibte. Ein Jahrtausend lang hatten die Päpste einen großen Teil der italienischen Halbinsel regiert, und ihr Gebiet erstreckte sich zur Zeit der nationalen Einigung von Rom aus nach Norden über Umbrien bis Ferrara und Bologna. Als der Kirchenstaat 1860 in sich zusammenfiel, exkommunizierte Papst Pius IX. den italienischen König und erklärte, kein Katholik dürfe seine Regierung anerkennen.

Die nächsten drei Jahrzehnte über hatten Pius IX. und sein Nachfolger Leo XIII. nach Wegen gesucht, die Ewige Stadt zurückzugewinnen, doch am Ende des Jahrhunderts war selbst den eifrigsten Unterstützern des Papstes klar, dass die Anstrengung vergebens war. Der nicht endende Konflikt schuf internationale Komplikationen für den jungen italienischen Staat, denn die Staatschefs katholischer Länder besuchten seine Hauptstadt ungern. Der Papst empfing sie nicht, wenn sie sich mit italienischen Regierungschefs trafen, aber Rom zu besuchen, ohne dem Papst seine Aufwartung zu machen, konnte zuhause unerwünschte Folgen haben.

Um 1900 begann die Lage sich endlich zu wandeln. Voller Sorge über die rasch anwachsende sozialistische Bewegung hob Pius X. das Verbot für Katholiken auf, zu wählen oder sich wählen zu lassen. Der Heilige Stuhl erkannte aber nach wie vor die italienische Regierung nicht an, und der rechtliche Status des Vatikans blieb unklar.1

Im Sommer 1924, inmitten der Krise nach der Ermordung Matteottis, setzte Mussolini eine Kommission zur Überprüfung der Gesetze ein, die sich auf die Kirche bezogen. Sie sollte die Konfliktpunkte zwischen Kirche und Staat vermindern. Weil der Heilige Stuhl Italien noch nicht anerkannte, durfte der Papst nicht offiziell mit der Regierung zusammenarbeiten. Hinter den Kulissen schickte er aber durch Vermittlung Tacchi Venturis drei Geistliche in die Kommission.2

Im Jahr 1925 traf sich die Gruppe 35 Mal. Als sie im Februar 1926 neue Gesetzesentwürfe verkünden wollte, äußerte sich der Papst in einem langen handschriftlichen Brief zu ihrer Arbeit. Er war an den Kardinalstaatssekretär gerichtet und erschien in der Vatikanzeitung.

Pius XI. schrieb, die Kirche könne keiner Vereinbarung über ihre Rechte zustimmen, die bloß durch eine Parlamentsabstimmung zustande komme. Nur direkte Verhandlungen zwischen der Regierung und dem Heiligen Stuhl könnten ein neues Einvernehmen schaffen.3

Mussolini war aufgeregt. Er sagte zu seinem Minister für Justiz und Religion, der Brief des Papstes sei „von größter Bedeutung“. Nachdem das faschistische Regime „die Vorurteile des Liberalismus“ abgeworfen habe, „hat es das Prinzip der staatlichen Glaubensneutralität und das Prinzip der Trennung von Kirche und Staat abgelegt.“ Seine Regierung habe hart daran gearbeitet, „das Wesen eines katholischen Staats und eines katholischen Volkes wiederherzustellen.“ Es war Zeit, die Verhandlungen zu beginnen. Wie der Duce rasch begriff, bot Pius XI. ihm die Möglichkeit eines historischen Abkommens, das die Unterstützung für sein Regime in einer Weise festigen würde, wie sie sonst unerreichbar war.4

Manche Diplomaten bezweifelten, dass der Papst je die offizielle Feindschaft gegenüber Italien aufgeben würde. Indem er sich als unerbittlichen Gegner der italienischen Regierung darstellte, vermied der Vatikan peinliche Fragen, warum er völlig in italienischer Hand sei. Der amerikanische Botschafter in Rom bemerkte, falls der Papst – ein fast nur von Landsleuten umgebener Italiener – Frieden mit dem italienischen Staat mache, riskiere er, als bloßer Seelsorger des Königs angesehen zu werden. Eine angeblich universale Institution würde als wesentlich italienisch erscheinen. Er schrieb nach Washington: „Die Kirche ist überzeugt, dass ihr Einfluss durch eine formelle Versöhnung mit dem Quirinal [dem Königspalast] eher schrumpfen als zunehmen würde, und ich glaube, sie ist noch Jahre, wenn nicht Jahrhunderte davon entfernt.“5

Von den Skeptikern unbeeindruckt, tat Mussolini was er konnte, um den italienischen Staat mit der katholischen Kirche zu identifizieren.6 Er erklärte den 4. Oktober zu Ehren Franz von Assisis, „des heiligsten aller Italiener, des italienischsten aller Heiligen“, zum staatlichen Feiertag. Kardinal Merry del Val, der den Papst bei der Einführungszeremonie dieses Feiertags in Assisi vertrat, stellte er einen eigenen Zug zur Verfügung, und entlang der Strecke gab es militärische Ehrenbezeugungen. Dies wäre vor dem Marsch auf Rom unvorstellbar gewesen. Der Kardinal revanchierte sich. In Assisi verkündete er der Menge, Mussolini stehe „sichtbar unter dem Schutz Gottes.“7 Der Diktator hatte auch beschlossen, das Land solle nicht nur in der Landwirtschaft, sondern auch bei Wundern autark sein. Da er nicht wollte, dass so viele Italiener nach Lourdes pilgerten, förderte er recht wirksam die Verehrung der Madonna von Loreto.8

Als der Papst im August 1926 die Verhandlungen in Gang setzte, wurde der Laie Francesco Pacelli sein persönlicher Vertreter. Wenn er nicht seinen Kardinalstaatssekretär oder überhaupt einen Geistlichen wählte, dann deshalb, weil der Vatikan Italien immer noch nicht formell anerkannte. Francesco Pacelli wurde 1872 geboren – vier Jahre vor seinem bekannteren Bruder Eugenio, dem späteren Papst Pius XII. – und stammte aus einer römischen Familie, die seit Generationen den Päpsten diente. Als Rom 1870 von italienischen Truppen eingenommen wurde, spaltete sich die Elite der Stadt in zwei Fraktionen. Die Anhänger des neuen Staates wurden der weiße Adel genannt, die des Papstes der schwarze. Die Pacellis gehörten zu dieser aristocrazia nera.9 Wie sein Vater wurde Francesco ein prominenter Rechtsanwalt im Vatikan.

Mussolini ernannte den Regierungsjuristen Domenico Barone zu seinem Vertreter bei den Gesprächen. Obwohl der Papst wie auch Mussolini sie geheim halten wollten, gab es keinen Mangel an Klatsch. Er reichte bis nach Chicago, wo ein Zeitungsbericht davon sprach, der Duce wolle „eine Stadt der Päpste“ schaffen. Wegen dieser Gerüchte begannen Römer, die Immobilienverkäufe zu studieren, denn eine Geschichte machte die Runde, der Papst kaufe im Stillen Grundstücke auf, um einen Kirchenstaat vom Petersdom bis zum Meer zu schaffen.10

Die Verhandlungen liefen keineswegs problemlos. Am meisten erwies sich die schützende Haltung des Papstes für die Katholische Aktion als Hindernis. Mussolini konnte niemals eine Gruppe akzeptieren, die er nicht kontrollierte. Als Massenorganisation, über die er keine Autorität besaß, weckte die Katholische Aktion ständig sein Misstrauen. Er war sicher, dass Reste der Volkspartei dort Zuflucht suchten. Pius sah die Organisation aber als sein Hauptwerkzeug bei der Verbreitung des Katholizismus unter den italienischen Massen.

Berichte von faschistischer Gewalt gegen Gruppen der Katholischen Aktion hatten den Papst schon oft erzürnt. In einem solchen Fall hatten squadristi im Juni 1925 das Büro der Organisation in Padua verwüstet; Pius hatte Tacchi Venturi geschickt, um sich darum zu kümmern. Die Polizeiuntersuchung enthüllte die engen Beziehungen zwischen Katholischer Aktion und Volkspartei in Padua.11 In diesem und anderen Fällen tat der jesuitische Mittelsmann des Papstes alles, um ihn zu beruhigen. Führer der Katholischen Aktion seien wiederholt gewarnt worden, ihre Aktivitäten von der Volkspartei zu trennen, erinnerte er den Pontifex. Die Gruppen der Katholischen Aktion hätten es sich selbst zuzuschreiben. Wie konnte es der Vatikan einer Kirchenorganisation erlauben, die faschistische Regierung zu kritisieren, die „der katholischen Religion so wohlgesonnen“ sei?12

Als der Papst Anfang 1926 von den jüngsten Berichten über den Angriff auf ein Büro der Katholischen Aktion verärgert war, diesmal im norditalienischen Brescia, wies er Tacchi Venturi erneut an, sich zu beschweren. Nach der Begegnung mit Regierungsvertretern versuchte der Jesuit wieder, dem Papst und Gasparri die Sichtweise Mussolinis zu vermitteln. Viele der aktivsten Mitglieder der Katholischen Aktion in Brescia waren laut Tacchi Venturi auch bekannte Volksparteiaktivisten: „Darum wird das eine mit dem anderen verwechselt und fast gleichgesetzt.“ Er fuhr fort: „Der Regierung fehlt es nicht an klaren Beweisen, dass die Katholische Aktion [in Brescia] und ihre halboffizielle Zeitung Il Cittadino häufig nichts als die Tarnung der regierungsfeindlichen Partei sind.“13

Während örtliche Faschisten oft Erwachsenengruppen der Katholischen Aktion aufs Korn nahmen, sorgte sich Mussolini mehr um die Rolle der Jugendgruppen. Als er seine Diktatur festigte, erkannte er, wie wichtig es war, schon Kinder zu loyalen Faschisten zu formen. Wenige Monate vor den Verhandlungen mit dem Vatikan verkündete er die Gründung einer eigenen nationalen Jugendorganisation, der Opera Nazionale Balilla, die aus vier Sparten bestand. Jungen von 8–14 Jahren kamen zu den Balilla und von 14–18 zu den Avanguardisti. Mädchen kamen zu den Piccole Italiane (Kleine Italienerinnen) und den Giovani Italiane (Junge Italienerinnen). Alle Mitglieder trugen militärähnliche Uniformen.14

Für Mussolini waren die kirchlichen Jugendgruppen – von den katholischen Pfadfindern bis zu den verschiedenen Gruppen der Katholischen Aktion für ältere Jugendliche – eine unerwünschte Konkurrenz. Die Kontrolle über die Jugend zu gewinnen, war ihm so wichtig, dass er dafür auch den Zorn des Papstes riskierte. Er begann mit dem Verbot der Pfadfinder. Der verärgerte Papst schickte Tacchi Venturi, um ihn zu warnen, er solle das rückgängig machen.

Anfang 1927, als er nicht nur wegen der Auflösung der katholischen Pfadfinder aufgebracht war, sondern weil sich auch andeutete, das Verbot solle bald auf die Jugendgruppen der Katholischen Aktion ausgedehnt werden, ließ der Papst die Gespräche unterbrechen. Er forderte, die Katholische Aktion explizit von Regeln auszunehmen, die nur nichtfaschistische Jugendgruppen erlaubten, die „vorwiegend religiös“ seien.“ Junge Leute wurden nicht zuletzt wegen der Freizeitaktivitäten von katholischen Gruppen angezogen. Pius sorgte sich, wenn die Gruppen nur noch Gebet und religiösen Unterricht böten, würden sie viele Mitglieder verlieren. Er stellte Mussolini durch Tacchi Venturi ein Ultimatum: Wenn er keinen Rückzieher machte, würde es keine Lösung der Römischen Frage geben. Da er erkannte, dass er vielleicht zu weit ging, wies Mussolini Ende Februar 1927 seine Präfekten an, die Jugendgruppen der Katholischen Aktion in Ruhe zu lassen. Der Papst war erfreut und ließ Francesco Pacelli die Gespräche wiederaufnehmen.15

Die Verhandlungen gingen im Lauf der nächsten Monate weiter, und der Papst traf sich mehrmals wöchentlich mit Pacelli. Ab und zu kamen neue Berichte von faschistischer Gewalt gegen lokale katholische Gruppen, und der Papst drohte erneut mit dem Abbruch der Gespräche. Inzwischen hatte er jedoch zu viel in die Verhandlungen und in seine Unterstützung Mussolinis und des faschistischen Regimes investiert, um ein Scheitern zu riskieren. Er schrieb die Gewalt antikirchlichen Kräften in Mussolinis Umgebung zu, die den Willen des Diktators zu verfälschen suchten. Es gab auch andere Reibungspunkte. Im April 1928 beklagte der Papst sich über die jüngste Gründung der faschistischen Mädchenorganisationen. Er lehnte vor allem ab, dass sie auch mit Flinten auf den Schultern marschierten. Auch diesmal lag der Fehler aber nicht bei Mussolini: „Vieles geht vor, was Mussolini nicht weiß“, sagte er.16

Der Pontifex hatte den Kardinälen der Kurie vorher gesagt, es gebe Verhandlungen mit der Regierung, da er aber Opposition fürchtete, beschloss er, sie erst einzuberufen, sobald ein Abkommen erzielt war. Er hatte vor allem Bedenken bei Bonaventura Kardinal Cerretti, einer einflussreichen Stimme bei internationalen Beziehungen, dessen kritische Haltung zum Regime bekannt war. Um Cerretti während der entscheidenden Monate der Gespräche aus Rom zu entfernen, schickte Pius ihn als seinen Legaten zum Eucharistischen Weltkongress nach Sydney. Der Kardinal sollte erst zurückkommen, wenn die Vereinbarung erreicht war.17

Als ein Abkommen im Oktober 1928 in greifbarer Nähe schien, erreichte den Papst eine unwillkommene Nachricht. Der König hatte Bedenken und würde vielleicht nicht unterschreiben. Vittorio Emanuele III. – Namensvetter des Mannes, der den Päpsten ihre Territorien geraubt hatte – war kein Freund des Vatikans, wie der Papst wusste. Zwei Jahre zuvor hatte Pius XI. ihn zusätzlich gekränkt, nachdem die für ihre Frömmigkeit und guten Werke bekannte Königinmutter gestorben war. Der König hatte gewünscht, der Papst möge ihr Begräbnis leiten oder sie zumindest öffentlich würdigen, aber dieser hatte sich geweigert. Graf Dalla Torre, der Chefredakteur der Vatikanzeitung, hatte einen schmeichelnden Nachruf vorbereitet, der aber nie erschien – der Papst hatte es verboten.18

Nun sorgte sich Pius, die Jahre der schwierigen Verhandlungen könnten umsonst gewesen sein. Da er unbedingt die Zustimmung des Königs erreichen wollte, konzentrierte er sich auf das, was den König, wie er wusste, am meisten störte: die mögliche Vergrößerung der Gebiete unter päpstlicher Kontrolle. Er gab seine frühere Forderung auf, die weitläufigen Gärten der Villa Doria Pamphili auf dem Hügel Gianicolo über dem Vatikan sollten dem vatikanischen Territorium angegliedert werden.19

„Wenn sie unter diesen Bedingungen nicht annehmen, sind sie Idioten“, sagte Mussolinis Unterhändler Domenico Barone zu Pacelli, als er davon erfuhr.20

Mussolini und der König, deren Charakter und Herkunft so verschieden waren, hatten bis zum Ende der 1920er Jahre eine stabile, wenn auch eigenwillige Beziehung entwickelt. Einmal sagte Mussolini, es sei, als hätten sie ein gemeinsames Schlafzimmer, aber getrennte Betten. Sie hatten aber auch manches gemeinsam, nicht zuletzt ihr Unbehagen gegenüber Priestern. Beide zogen auch gern über ihre Umgebung her. Der König sagte einmal über Pietro Badoglio, den höchsten Militär Italiens (den er Jahre später zum Nachfolger Mussolinis machte), er habe „das Hirn eines Spatzen und die Haut eines Elefanten.“ Mussolini wiederum verspottete den König häufig privat. Er beschwerte sich, der kleinwüchsige Monarch mache einen schwachen Eindruck, der einer großen Nation unwürdig sei. Er sei ein „saurer, betrügerischer kleiner Mann.“ Zu verschiedenen Zeiten nannte er Vittorio Emanuele „eine leere Kutsche“, einen „toten Baum“ und ein „altes Huhn, das man rupfen sollte.“ Von anderen duldete er jedoch keinen Spott über den König, auch nicht von seiner Frau. Rachele hatte denselben antimonarchischen Hintergrund wie ihr Mann, mochte die Reichen und Vornehmen nicht und fühlte sich in der Nähe der königlichen Familie nie wohl. Sicher verstand Mussolini das, aber wenn sie ihren Lieblingswitz darüber begann, dass der König eine Leiter brauche, um ein Pferd zu besteigen, sagte er, sie solle ruhig sein.21

Jeden Montag und Donnerstag besuchte der Duce um zehn Uhr vormittags in Frack und Zylinder den König im weitläufigen und majestätischen Quirinalspalast. Hierbei unterzeichnete Vittorio Emanuele III. zahlreiche Gesetze und Ernennungen. An diesen Vormittagen war Mussolini ein anderer, wie Quinto Navarra beobachtete. Den Rest der Woche trat der imperiale, diktatorische Duce, der seine Minister einschüchterte, häufig in seiner Milizuniform bei zahllosen Paraden und Demonstrationen auf. Er war der oberste Führer in der komplexen Machtchoreographie des Regimes. Bei seinen Besuchen im Palast spielte Mussolini aber die Rolle des respektvollen Premierministers, der sich der königlichen Vorrechte in einer formal immer noch konstitutionellen Monarchie bewusst war.22

Am 7. Februar 1929 berief Kardinal Gasparri die Botschafter beim Heiligen Stuhl ein und erklärte, ein historisches Abkommen stehe kurz vor der Verkündung, das den jahrzehntelangen Streit zwischen der Kirche und der italienischen Regierung beenden werde. Der Kardinal sollte zum öffentlichen Gesicht eines Vertrags werden, der von Geistlichen auf der ganzen Welt gefeiert wurde. Doch es war ein bittersüßer Moment für ihn. In den letzten Jahren hatte er Signale erhalten, dass der Papst seine Dienste nicht mehr schätzte. Gasparri war zwar bodenständig, hatte aber seinen Stolz. 1926 war er gedemütigt worden, als der Papst ihn beim fünfzigsten Jahrestag seiner Priesterweihe brüskierte. Gasparris Mitarbeiter hatten zur Feier des Tages eine Messe zu seinen Ehren in der Sixtinischen Kapelle geplant, unter Leitung des Papstes und mit allen Kurienkardinälen, dazu allen ausländischen Diplomaten. Doch der Papst war ferngeblieben, und die Würdenträger, die kamen, tuschelten über seine überraschende Abwesenheit.23

Anfang 1928 war Gasparri kein junger Mann mehr. Er litt an Diabetes und einer Herzkrankheit und schlief schlecht. Der ehemals joviale Kardinalstaatssekretär wirkte zunehmend deprimiert und oft traten ihm Tränen in die Augen. Wenn andere seine Blässe und das beginnende Zittern seiner Hände erwähnten, versicherte er, es gehe ihm gut. Pius legte ihm nahe, sich eine Weile zu erholen, aber Gasparri befürchtete, der Papst könne diese Abwesenheit zu seiner Ablösung nutzen, und beharrte darauf, das sei nicht nötig.24 Er wusste nicht, wie lange er seine Aufgabe noch erfüllen konnte, wollte sich aber noch in dem Ruhm sonnen, die 70 Jahre lange Feindschaft zwischen Italien und dem Heiligen Stuhl beendet zu haben.

Am Tag nach der Einberufung der Botschafter beim Heiligen Stuhl schickte Mussolini ein Telegramm an alle italienischen Botschafter. Die Nachricht von der kurz bevorstehenden zeremoniellen Unterzeichnung der Verträge erschien in ausländischen Zeitungen, aber die italienische Presse blieb stumm, und nur wenige in Italien wussten, was vorging.25

„Das sind wundervolle Tage!“, schrieb Kardinal Spellman – der einzige Amerikaner im Staatssekretariat – am 8. Februar aus Rom an seine Mutter in Boston. „Wundervolle Tage, um zu leben, und noch wundervoller, um in Rom zu leben!“ Er fügte hinzu: „Jeder hier strahlt vor Glück und das mit Recht. Der Heilige Vater, Kardinal Gasparri und Monsignore Borgongini haben ihren Platz in den Geschichtsbüchern sicher, und Mussolini natürlich auch.“26

Die letzten Details der zwischen dem Heiligen Stuhl und Italien abgeschlossenen Lateranverträge wurden von Mussolini und Pacelli am Abend des 9. Februar 1929, einem Samstag, geklärt.27 Der erste Artikel legte fest, dass „die katholische, apostolische und römische Religion die einzige Staatsreligion ist.“ Die Verträge hatten drei Teile: Im ersten, dem eigentlichen Vertrag, wurde der Vatikanstaat als souveränes Territorium unter päpstlicher Herrschaft etabliert, in das sich die italienische Regierung nicht einmischen dürfe. (Zuvor hatten die Vatikanischen Paläste und Gärten und der Petersdom zwar unter päpstlicher Kontrolle gestanden, aber die italienische Regierung hatte sie stets als auf italienischem Gebiet liegend betrachtet, und ihr rechtlicher Status war unklar gewesen.)28 Die Grenzen des Vatikansstaats entsprachen weitgehend den existierenden mittelalterlichen Stadtmauern; der nicht von Mauern umschlossene Petersplatz sollte zum neuen Stadtstaat gehören, aber für die Öffentlichkeit zugänglich sein und von der italienischen Polizei überwacht werden. Insgesamt umfasste das Gebiet 44 Hektar. Die Beleidigung des Papstes wurde der Majestätsbeleidigung gleichgestellt. Botschafter beim Heiligen Stuhl genossen dieselbe Immunität und dieselben Privilegien wie Botschafter in Italien. Neben seiner Souveränität über den Vatikanstaat bekam der Heilige Stuhl besondere Besitzrechte an den römischen Basiliken und der päpstlichen Sommerresidenz in Castel Gandolfo in den nahegelegenen Albaner Bergen. Alle Kardinäle in Rom wurden als Bürger des neuen Vatikanstaats angesehen.29

Der zweite Teil der Verträge, das Konkordat, regelte die Beziehungen zwischen dem Heiligen Stuhl und Italien. Die italienische Regierung würde keine Ereignisse in Rom zulassen, die den Charakter des Vatikans als heiliges Zentrum der katholischen Welt beeinträchtigten. Das Konkordat bestimmte eine Reihe katholischer Feste zu staatlichen Feiertagen, und zum ersten Mal erkannte der italienische Staat kirchliche Eheschließungen an. (Bis dahin galten Paare, die nur in der Kirche heirateten, nicht als rechtlich verheiratet.) Das Konkordat legte auch fest, dass der katholische Religionsunterricht, den das Regime in den Grundschulen bereits zur Pflicht gemacht hatte, auf alle Oberschulen ausgeweitet wurde. Obwohl damals nicht mehr als 20 % der Kinder eine Oberschule besuchten, würden sie die Elite der nächsten Generation sein, und ihre religiöse Erziehung war wichtig für die Kirche.30 In einem weiteren Artikel, der dem Papst am Herzen lag, akzeptierte der italienische Staat, dass die Gruppen der Katholischen Aktion sich frei entfalten durften.

Der dritte und letzte Teil des Vertragswerks war finanzieller Natur. Italien würde 750 Millionen Lire und dazu eine Milliarde Lire in Staatsanleihen (heutzutage etwa 1 Milliarde Dollar) im Tausch gegen die Zusicherung des Heiligen Stuhls bezahlen, alle Ansprüche wegen des Verlusts des Kirchenstaats aufzugeben.31

Am Montag, dem 11. Februar, fuhr Dino Grandi, der Unterstaatssekretär im Außenministerium, um 9 Uhr morgens zu Mussolinis Wohnung. Der Duce war ungewöhnlich guter Laune. Als sie zur Unterzeichnung fuhren, sang er im Wagen ein Volkslied aus der Romagna. Grandi dagegen war nervös.

„Soll ich den Ring des Kardinals küssen?“, fragte er.

Das würde Kardinal Gasparri wahrscheinlich erwarten, antwortete Mussolini. In seinem Hochgefühl sagte er zu Grandi, er wisse, wie das am besten zu entscheiden sei. Er holte eine Münze aus der Tasche und warf sie hoch, dann blickte er darauf und sagte: „Wir küssen den Ring!“32

Im Vatikan trafen sich an diesem Tag Gasparri und der Prosekretär Monsignore Borgongini frühmorgens in der Privatbibliothek des Papstes, wo sie dem Pontifex versicherten, alles sei für die Unterzeichnung bereit. Sie überreichten ihm den gerade aus der Vatikanischen Druckerei gekommenen Vertragstext, dazu eine Karte, welche die Veränderungen in letzter Minute zeigte. Nach sorgfältiger Prüfung nickte der Papst bestätigend. Gasparri und Borgongini mussten aufbrechen, doch vorher knieten sie nieder und baten um den Segen des Papstes. Allen war die Größe des bevorstehenden Ereignisses bewusst. Als Kardinal Gasparri den Raum verließ, standen ihm Tränen in den Augen.33

Die Zeremonie fand im Saal der Päpste im Lateranpalast auf der anderen Tiberseite statt. Der Amtssitz des Papstes als Bischof von Rom war nicht der Petersdom, sondern die Erzbasilika San Giovanni in Laterano. Ein Jahrtausend lang, vom 4. Jahrhundert (als Kaiser Konstantin seinen Palast an dieser Stelle den Päpsten schenkte) bis zum 14. Jahrhundert (als die Päpste ins Exil in Avignon gingen), hatten sie im Lateran residiert.34 Vandalen hatten die Basilika im 5. Jahrhundert verwüstet und im 14. Jahrhundert war sie teilweise abgebrannt, aber stets größer wieder aufgebaut worden. Als „Gefangener im Vatikan“ hatte jedoch kein Papst seinen Fuß mehr dorthin gesetzt, seit italienische Truppen 1870 Rom eroberten.

Gasparri und Borgongini waren bereits in einem neuen Chrysler – dem Geschenk eines reichen Amerikaners – eingetroffen, als Mussolinis Wagen vorfuhr. Es regnete leicht.35 Mit weißen Handschuhen in der linken Hand stieg der Duce aus. Er trug einen Cut mit Schwalbenschwänzen und einen Zylinder.36 Der Kardinal begrüßte Mussolini und Dino Grandi, zu denen noch Justizminister Alfredo Rocco und Mussolinis Unterstaatssekretär Francesco Giunta stießen, und lud sie ein, die imposante Treppe mit ihm emporzusteigen. Dann durchschritten sie langsam eine „unendliche“ Zahl von Räumen, wie Grandi sagte, die das Museum der katholischen Mission auf der ganzen Welt enthielten. Der überschäumende Gasparri winkte mit den Armen, während er alle Länder nannte, an deren Ausstellungsstücken sie vorbeikamen, von Neu Guinea und den Fidschi-Inseln bis zur Mongolei, Indien und Nicaragua. „Namen von seltsamen und fernen Ländern, die der Kirchenfürst lächelnd aussprach, als wolle er uns zeigen, wie groß die Macht und Ausdehnung der katholischen Kirche auf der Welt sei“, erinnerte sich Grandi.

Schließlich erreichten sie ihr Ziel. An einem Ende des großen Raums stand ein 5 mal 1 Meter langer rosenfarbener Tisch, dahinter acht schwere geschnitzte Sessel.37 In der Mitte ließen sich Mussolini und Gasparri nieder. Als sie zur Unterzeichnung schritten, sah der zuvor so entspannt wirkende Diktator bleich und unbehaglich aus, während der Kardinal, der sich daheim fühlte, lächelte.38

Als Mussolini und Gasparri den Lateranpalast verließen, begann die rasch anwachsende Menge zu applaudieren. Man hatte die Zeremonie nicht vorher angekündigt, aber die Anwesenheit so vieler Polizisten und Milizionäre vor der Basilika und dann die Ankunft des Duce hatten Gerüchte ausgelöst, und Journalisten und Photographen waren herbeigeeilt. Trotz des leichten Regens war die Stimmung heiter. Priester und Seminaristen sangen im Chor Dankgebete, unterbrochen von Rufen „Lang lebe Pius, unser Papst und König!“ Andere auf der Piazza vor der historischen Kirche riefen: „Viva Mussolini! Viva Italia!“ oder den faschistischen Schlachtruf „Alalà!“ Beim Wegfahren war Monsignore Pizzardo so von den Rufen der Menge mitgerissen, dass er den Arm zum Faschistengruß erhob.39

Mussolini war in gedämpfterer Stimmung und blieb während der Rückfahrt in sein Büro stumm. Obwohl dies sein größter Triumph war, fühlte er sich in der Gegenwart von Priestern oder in Kirchen nie wohl.40

Die Bedeutung, die der Papst den Verträgen beimaß, ist kaum zu überschätzen. Renato Moro, einer der wichtigsten Kirchenhistoriker Italiens, bemerkt, dass die Päpste trotz der Bildung der italienischen Regierung im 19. Jahrhundert, die der Trennung von Kirche und Staat und der liberalen Demokratie verpflichtet war, niemals den Glauben an eine hierarchische, autoritäre italienische Gesellschaft verloren hatten, die nach kirchlichen Prinzipien zu führen sei. Nach vielen Jahren, in denen diese Träume von einer Rückkehr zur früheren Autorität der Kirche unrealistisch erschienen waren, bot der Faschismus neuen Grund zur Hoffnung.41


Bild 11: Die Unterzeichnung der Lateranverträge am 11. Februar 1929. Von links nach rechts: Monsignore Francesco Borgongini Duca, Kardinal Pietro Gasparri, Francesco Pacelli, Benito Mussolini, Dino Grandi.

Bis zur Unterzeichnung der Verträge konnten Katholiken, die gegen die Diktatur waren, noch argumentieren, der Papst bleibe auf Distanz zum faschistischen Regime. Das war nun nicht mehr möglich. Italienische Katholiken konnten nicht bezweifeln, dass sie dem Wunsch des Papstes folgten, wenn sie Mussolini unterstützten. Als der Papst zwei Tage später vor Studenten sprach, erklärte er selbst, wie das historische Abkommen schließlich möglich geworden war. Vielleicht habe es geholfen, dass auf der einen Seite ein Bibliothekar an der Spitze stand, der im Durchkämmen historischer Dokumente erfahren war, und „vielleicht brauchte es auch einen Mann wie den, welchen die Vorsehung uns gegenüber gestellt hatte, einen Mann, der nicht die Bedenken der liberalen Schule teilte.“ Die Bezeichnung Mussolinis als von der Vorsehung gesandter Mann durch den Papst, sollte von Bischöfen, Priestern und katholischen Laien in den kommenden Jahren tausendfach wiederholt werden.42

In Bologna waren Sonderausgaben der örtlichen Zeitungen im Nu ausverkauft. Der Erzbischof kündigte einen besonderen Dankgottesdienst für den nächsten Tag an, zu dem Regierungs- und Militärvertreter eingeladen waren. Der Erzbischof von Chieti wartete nicht so lange – noch am Abend der Unterzeichnung drängte sich eine begeisterte Menge zu einem Dankgottesdienst in den Dom. Die faschistischen Würdenträger nahmen stolz an der Zeremonie teil und trugen unverzagt ihre Fahnen und Wimpel durch den Schneesturm draußen.43 Zeitungen im ganzen Land, auch die des Vatikans, betonten immer wieder, das historische Ereignis wäre nicht möglich geworden, wenn Italien immer noch eine demokratische Regierung gehabt hätte. Nur Mussolini und der Faschismus hatten es möglich gemacht.44

In Rom waren Regierungsgebäude und Wohnhäuser mit einer bis dahin undenkbaren Kombination geschmückt: gelbweiße Papstflaggen neben der italienischen Fahne. Zufällig war es der siebte Jahrestag der Papstkrönung, und Pius sollte zur Feier des Tages eine Messe im Petersdom halten. Zwölf Diener in roten Uniformen, sechs an jeder Seite, trugen den Papst auf der Sedia gestatoria, dem mit rotem Samt bezogenen Thron, in die gewaltige Kirche. Zehntausende Gläubige, die stundenlang gewartet hatten, konnten endlich einen Blick auf den Pontifex werfen. Die Faschisten von Rom waren aufgerufen, ihre Begeisterung bei einer Versammlung auf dem Petersplatz zu zeigen. 200.000 Menschen standen im strömenden Regen. Als der Papst später auf den Balkon hinaustrat, um sie zu segnen, schrien sie vor Freude. Unter ihm standen Vertreter aller faschistischen Milizabteilungen Roms mit ihren Fahnen, während die endlose Menge der Gläubigen und Neugierigen sich weit über den Platz hinaus erstreckte. Am späteren Nachmittag versammelten sich von faschistischen Partei- und Milizführern gesandte jubelnde Gruppen vor dem Quirinalspalast, wo der König auf dem Balkon erschien, die Königin zur Linken und der Parteivorsitzende der Faschisten zur Rechten.45

Auf der ganzen Welt wurde der Duce als großer Staatsmann gefeiert.46 Die Erregung im Vatikan beschrieb ein ranghoher Berater. Nicht einmal die Siegesfeiern zum Ende des Ersten Weltkriegs konnten sich mit der Euphorie messen, die Italien an diesem Tag erlebte: „Die Freude war vollkommen, ohne jede dunkle Wolke. Jeder spürte, dass Italien die Aussicht auf neue Höhen von Größe und Ruhm hatte.“ Im ganzen Land, von Turin bis Sizilien, ließen Bischöfe und Priester die Kirchenglocken läuten, um den Mann zu ehren, der endlich Harmonie zwischen Kirche und Staat erreicht hatte.47 Für die meisten Italiener war das Ende der jahrzehntelangen Feindschaft eine große Erleichterung. Endlich konnte man zugleich ein loyaler Italiener und ein guter Katholik sein.


Bild 12: Nach der Unterzeichnung vor dem Lateranpalast; vorne mittig Kardinal Gasparri und Mussolini, ganz links Monsignore Pizzardo, Francesco Pacelli mit Zylinder links von Gasparri, Monsignore Borgongini rechts von Mussolini, ganz rechts Dino Grandi.

Nach den Worten des US-Geschäftsträgers in Rom an das Außenministerium war der Vertrag „ein Triumph für Mussolini, weil er den Konflikt beendet und die Geistlichkeit für den Faschismus gewonnen hat.“ General Enrico Caviglia, ein Held des Ersten Weltkriegs und Vertrauter des Königs, gibt in seinem Tagebucheintrag eine andere Sicht: „Diese Männer, die durch Staatsstreiche an die Macht kamen, müssen sich durch den Vatikan legitimieren.“ Doch was werde in 20 Jahren passieren, wenn die Menschen sich gegen die Diktatur stellten, die sie ihrer Freiheit beraubt hatte? „Wie würden sie den Vatikan beurteilen, der dem Regime seine moralische Unterstützung gegeben hat?“, fragte er sich.48

Mussolini hörte von seinem landesweiten Spitzelnetzwerk nur einen Misston. Der Bericht von Informanten aus Rom vom 13. Februar begann positiv: „Die Neuigkeit der Versöhnung rief fast in der ganzen Bevölkerung Freude und unaussprechliche Begeisterung hervor. … Die Menschen sagen, das historische Ereignis ist ein beispielloser Erfolg, der durch das Genie des Duce möglich wurde … das Prestige und die Macht des Faschismus sind enorm gewachsen.“ Es gab aber ein paar Unzufriedene, „ein Häuflein alter und verbitterter Liberaler, die Reste der Freimaurer und die Juden.“ Bei den Juden Italiens riefen die Lateranverträge Nervosität und Furcht hervor. Rund ein halbes Jahrhundert zuvor hatte das Ende des Kirchenstaats sie aus den Ghettos des Papstes befreit. Die italienische Einigung und die Trennung von Kirche und Staat waren ihre Erlösung gewesen. Nun machten sie sich Sorgen, was die Zukunft bringen könnte.49

Der erste Stellvertreter

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