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Die jüdische Perspektive zum Absturz der Menschheit
ОглавлениеFür Christen ist folgender Moment der biblischen Geschichte am schwierigsten zu erklären, als es Gott nämlich bereute, „dass er den Menschen auf der Erde gemacht hatte“ (1. Mose 6,6 E). Offensichtlich war etwas schiefgelaufen mit der Stellung, die Gott dem Menschen auf dieser Erde zugewiesen hatte (siehe 1. Mose 2,7–25). Auch die jüdischen Weisen waren beunruhigt von dem Bedauern des Schöpfers über die Menschheit und von seiner Entscheidung, die Welt zu zerstören. Unentwegt suchten sie nach dem wahren Grund, der es rechtfertigen würde, dass Gott eine globale Flut über die Erde hereinbrechen ließ. Das rabbinische Judentum hat drei Hauptsünden identifiziert, welche die vorsintflutliche Welt plagten. Dabei handelte es sich um sogenannte Todsünden, d. h. es wäre besser zu sterben als gezwungen zu werden, eine von ihnen zu begehen! Es waren, in aufsteigender Reihenfolge ihrer Verdorbenheit, Götzendienst, Mord und sexuelle Unreinheit. 2
Gemäß der Überlieferung des Talmudes erwähnt die Bibel das erste Mal, als die Menschheit dem Götzendienst, d. h. der Anbetung eines falschen Gottes, verfiel, nur andeutungsweise. In Genesis 4,26 heißt es, „zu jener Zeit begannen die Menschen den Herrn anzubeten“ (NL), nachdem Seth Enosch gezeugt hatte. Die meisten Christen sehen darin eine positive Aussage, die bedeute, dass die Menschen anfingen, Gott zu suchen. Doch die Rabbiner geben ihr eine weniger ehrenwerte Bedeutung: Die Menschen fingen an, Gott Namen zu geben, und diese Bezeichnungen wurden allmählich zu den Namen anderer Götter. 3
Nach dieser Ansicht kann das hebräische Wort für „anfangen“ (chalal) in Genesis 4,26 auch „verschmutzen, schänden, entweihen oder entheiligen“ heißen.4 Dasselbe Wort erscheint auch in Genesis 6,1, am Anfang der Flutgeschichte, und in Genesis 10,8, bei der Vorstellung Nimrods, der den Turm zu Babel baute. Sowohl die Sintflut als auch der Turmbau zu Babel sind Erzählungen, die von einer Rebellion gegen Gott berichten. Folglich wurde Götzendienst als erster Schritt betrachtet, der abwärts führte, in den schwerwiegenden moralischen Verfall der Menschheit vor der Flut. Die Menschen fingen an, sich von ihrem Schöpfer abzuwenden und neue „Götter“ zu suchen; ein derartiges Vorgehen führt immer zu noch schlimmeren Schwierigkeiten.
Die nächste Stufe in der Abwärtsspirale der Menschheit war ein Ansteigen der Mordrate. Zwei Morde waren bereits geschehen, wie uns die Bibel berichtet: Kain erschlug in einem Anfall von Neid seinen Bruder Abel (siehe Genesis 4,1–15) und Lamech, ein Nachkomme Kains, brachte einen anderen Mann um (siehe Genesis 4,23–24). In beiden Fällen scheinen die Angreifer gewisse Skrupel vor ihrem eigenen Verhalten gehegt zu haben, hauptsächlich aus Angst vor Vergeltungsmaßnahmen. Doch offensichtlich legten die Menschen diese Ängste schließlich ab und wurden im Umgang miteinander sehr gewalttätig; Furcht vor Rache oder Strafe schreckte sie nicht mehr ab. Sowohl in Vers 11 als auch in Vers 13 von Genesis 6 (E) heißt es, die Erde war „erfüllt mit Gewalttat“. Das hebräische Wort, das mit „Gewalttat“ übersetzt wird, lautet „Hamas“ und kann verschiedene Assoziationen hervorrufen. Sie alle beziehen sich auf etwas Gewissenloses.
Die „Midraschim“ (rabbinische Kommentare) zu Genesis 6,13 definierten „Hamas“ zunächst als Raub, doch diese Wortbedeutung wurde später erweitert und umfasste auch andere frevelhafte Verhaltensweisen. In der hebräischen Bibel erweckte dieses Wort immer den Anschein großer Ungerechtigkeit, meistens in Form physischer Gewalt.5 In Joel 4,19 bezieht sich das Wort „Hamas“ auf das Vergießen unschuldigen Blutes. Psalm 11,5 (E) scheint jedoch zum Kern der Sache vorzudringen. Dort heißt es, die Seele des Herrn hasse „den, der Gewalttat [Hamas] liebt“. Ein Geist der Gesetzlosigkeit scheint damals die Erde durchdrungen zu haben. Die Gewalt wurde völlig grundlos ausgeübt; die Menschen genossen es einfach, anderen Schaden zuzufügen, und hegten keine Befürchtungen, jemals zur Rechenschaft gezogen zu werden. Sie hatten ihre Ehrfurcht vor Gott und ihren Respekt vor ihren Mitmenschen vollkommen verloren.
Damit nicht genug, die jüdischen Weisen betrachteten sexuelle Unmoral als die vorsintflutliche Sünde, die am schädlichsten war. Die Sexualität verlor ihre Heiligkeit und wurde sehr leichtfertig gehandhabt. Die „Midraschim“ erklären, Noahs Zeitgenossen verfielen erst dem Gericht, als die Menschen anfingen, Lieder über ihre sexuellen Perversionen zu schreiben. Das bedeutete, diese Perversionen wurden nicht mehr diskret behandelt, sondern öffentlich zur Schau gestellt.6
Genesis 6 (E) drückt es folgendermaßen aus: „Alles Sinnen der Gedanken seines [des Menschen] Herzens [war] nur böse den ganzen Tag“ (Vers 5) und „alles Fleisch hatte seinen Weg verdorben auf Erden“ (Vers 12). Die Rabbiner erklärten, diese Kombination aus ungezügelter sexueller Unreinheit und willkürlicher Gewalt habe eine allumfassende Boshaftigkeit geschaffen, die gestoppt werden musste. Die Sündhaftigkeit der Menschen wurde immer schlimmer. Sie erfreuten sich daran und gelangten sogar zu der Überzeugung, ihr Tun sei rechtmäßig. Eine derartige ideologische Hingabe an das Böse bedeutete, dass sie zur Buße nicht mehr fähig waren. Diese Tatsache erfüllte Gott mit großer Traurigkeit, „es bekümmerte ihn in sein Herz hinein“ (Genesis 6,6 E), denn er wusste, dass die Menschen ausgelöscht werden mussten.7
Daher sagte Gott zu Noah: „Das Ende alles Fleisches ist vor mich gekommen …“ (Genesis 6,13 E). In diesem Kontext wird für das „Ende“ im Hebräischen nicht das übliche Wort „sof“ verwendet, sondern „ketz“. Es bezeichnet Pflanzenabfälle wie Dornen und tote Zweige, die nur noch dazu nützen, verbrannt zu werden. Die rabbinischen Kommentare verwenden oft Gleichnisse, in denen sie die vorsintflutliche Welt mit einem vertrockneten, fruchtlosen Weinberg vergleichen, der einen radikalen Beschnitt benötigt. Um in dieser Allegorie zu bleiben: Auch wenn der Weingärtner einen Großteil des Weinberges entwurzeln und verbrennen musste, konnte er, wenn er noch ein paar wenige gesunde Weinstöcke fand, diese erhalten, um den gesamten Weinberg wiederzubeleben. Daher bestand der Sinn und Zweck der Flut nicht vorrangig in göttlicher Vergeltung an einer bösen Welt, sondern vielmehr in der Erneuerung der Erde durch einen gerechten Überrest. Dieses Prinzip ist die Grundlage des jüdischen Konzepts „tikkun olam“, was bedeutet, die Welt zu erneuern oder wieder instand zu setzen. Es wurzelt in den göttlichen Geboten oder Gesetzen, die Noah unmittelbar nach der Flut empfing. Sie sollten verhindern, dass sich ein derartiger Zusammenbruch von Ethik und Moral, der die Flut ausgelöst hatte, je wiederholen würde.8
Laut dem „Talmud“ gibt es sieben überlieferte noachidische Gebote. Sie verbieten Götzendienst, Gotteslästerung, Inzest (sexuelle Perversion), Mord, Diebstahl und den Genuss lebendigen Fleisches. Eine positive Handlungsaufforderung zur Errichtung von Zivilgerichten, die die Einhaltung dieser Gebote durchsetzen, gehört ebenfalls dazu. Diese moralischen Leitlinien geben uns einen weiteren Einblick in die Verfehlungen der Welt vor der Flut. Und das Judentum betont auch weiterhin das Konzept des „tikkun olam“ – mit dem Ziel, dass sich ein weiteres katastrophales Gerichtshandeln wie die Flut niemals wiederholen möge.9